Mit virtuoser Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich, dass inszenierte Aufnahmen aus deren Propagandaministerium noch heute die Grundlage fu?r unser Versta?ndnis von dieser Zeit darstellen. Indem er diese Bilder zerlegt und sie virtuos neu zusammenfu?gt, erza?hlt Vuillard eine andere Geschichte, als die uns bekannte - und erhielt dafu?r den wichtigsten franzo?sischen Literaturpreis.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2018Verständnis allzu leicht gemacht
Éric Vuillards preisgekrönte Erzählung "Die Tagesordnung"
Über die Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und Literatur, von historischer und literarischer Erzählung, ist viel Kluges geschrieben worden. Heute, wo die Erzählung mehr und mehr durchs Bild abgelöst wird, müsste grundsätzlich über das Verhältnis von dokumentarischen und inszenierten Bildern, über die Übergänge zwischen beiden und über ihre Verwendung nachgedacht werden. Schließlich ist auch das Dokumentarische immer kompiliert und inszeniert, und die Grenzen etwa zwischen "Panzerkreuzer Potemkin", "Weißensee" und ZDF-History sind nicht immer deutlich auszumachen.
Der französische Autor Éric Vuillard, der auch als Regisseur und Drehbuchautor gearbeitet hat, erzählt nach Aussage seines deutschen Verlages "große Momente der Geschichte neu" und habe damit "ein neues Genre begründet". Das hat offenbar im vergangenen Jahr auch die Jury für den Prix Goncourt so beeindruckt, dass sie ihm den renommiertesten Literaturpreis Frankreichs zusprach, wenn auch erst im dritten Wahlgang. Der prämierte Text, gattungsmäßig als Erzählung ausgewiesen und 118 Seiten knapp, liegt nun in der Übertragung von Nicola Denis auch Deutsch vor und wirft einige Fragen auf.
Zunächst diejenige, was Vuillard uns eigentlich hat erzählen wollen. Der Schwerpunkt seines schmalen Romans liegt auf dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 und dessen unmittelbarer Vorgeschichte. Die Eröffnungsszenen gelten jedoch einem Treffen Hitlers und Görings im Februar 1933 mit 24 Unternehmensführern, unter ihnen Wilhelm von Opel, Gustav Krupp, Günther Quandt, Friedrich Flick, Hugo Stinnes, Ernst Tengelmann und andere klangvolle Namen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Gelder, um die die neuen Machthaber für den Wahlkampf zum 5. März mit sanftem Druck bitten, werden bereitwillig gespendet. Es handelt sich also um das, was wir heute Fundraising nennen und was auch Vuillard an einer Stelle so nennt. Die Funktion dieser Eröffnungsszene ist leicht zu entschlüsseln: Seht her, sagt sie, es war das deutsche Großkapital, das die neue Macht gefestigt und gesichert hat. Vuillard sagt dann auch noch einmal ausdrücklich, dass es "ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis" gewesen sei.
Das wirft gleich die nächste Frage auf: Wer erzählt? Wer montiert diese Bilder, wer spricht diese plötzlichen Kommentare, die vom Inhalt her mehrheitlich die eines Nachgeborenen sind und zwischen moralischer Anklage und Sarkasmus pendeln? Es geht bei dieser Frage nicht darum, wo der Autor zu suchen sei, sondern viel eher darum, von welcher Position, genauer: von welchen Positionen aus hier erzählt wird und warum es erzählt wird.
Und drittens stellt sich die Frage, ob überhaupt erzählt wird. Denn Vuillard zeigt keineswegs große Momente der Geschichte neu, sondern montiert seine Bilder brav so aneinander, dass eine bloße Nacherzählung dessen dabei herauskommt, was allgemein als historisch gesichert erscheint. Deshalb geht es von Berlin aus nach London und nach Paris, um noch einmal zu demonstrieren, was Appeasement-Politik war. Schuschniggs Besuch in Berlin, mehr oder weniger auf direkten Befehl Hitlers, führt noch einmal parodistisch das Machtverhältnis zwischen Deutschland und dem kleinen Nachbarstaat vor. Wer der österreichische Kanzler wirklich war, muss für alle, die es noch nicht wissen, unmissverständlich ausgesprochen werden: "Denn Schuschnigg ist nichts. Er verkörpert nichts, er ist niemandes Freund und niemandes Hoffnung. Schuschnigg bündelt sogar sämtliche Schwächen: die Arroganz des Adels und völlig rückständige politische Ansichten. Wer acht Jahre zuvor eine paramilitärische Jugendgruppe angeführt und auf der Leiche der Freiheit getanzt hat, kann nicht hoffen, dass sie ihm auf einmal zu Hilfe eilt!" Verstanden?
Es gibt einzelne Szenen, in denen die Behauptungen, die moralischen Anklagen und die angestrengte Satire wirklich hinter die Bilder zurücktreten und annähernd lebendig werden. Etwa, wenn die deutsche Armee bei ihrem Ein- und Eilmarsch nach Österreich aus technischen Gründen nicht so recht vorwärtskommt, wo doch die Wiener schon Spalier stehen, um dem "Führer" zuzujubeln. Die Panzer bleiben stecken, weil sie noch lange nicht so perfekt sind, wie sie sein sollten. Das ist zuweilen komisch und wäre es noch mehr, wenn Vuillard sich nicht wieder selbst kommentieren und schreiben würde, es sei "fast wie in einer Slapstickkomödie".
Es gibt ein sehr gelungenes Kapitel mit dem Titel "Das Requisitenlager", in dem gezeigt wird, dass die Requisiten für die späteren Antinazifilme im Requisitenfundus Hollywoods alle schon da waren, gewartet und gepflegt unter anderem von Günther Stern, später Günther Anders, dem ersten Ehemann von Hannah Arendt. "Lange vor der Schlacht um Stalingrad, lange bevor das Unternehmen Barbarossa geplant, durchdacht und beschlossen war, vor dem Frankreichfeldzug, ja, noch bevor die Deutschen ihn überhaupt ins Auge gefasst hatten, herrschte in den Regalen des Spektakels schon Krieg."
Aber solche überraschenden Einblicke, die das Verhältnis von Geschichte und ihrer späteren Fiktionalisierung analysieren, sind in Vuillards Bilderbogen leider die Ausnahme. Ansonsten kommt er wie ein Streifen aus der Frühzeit des Stummfilms daher, und man stellt sich beim Zusehen immer wieder vor, was etwa ein Alexander Kluge oder der vor drei Jahren verstorbene Dieter Kühn aus diesem Material gemacht hätten. Nicht nur, dass ZDF-History als Literatur nicht funktioniert, für diese preisgekrönte Erzählung gilt auch: Guido Knopp hätte es besser gemacht.
JOCHEN SCHIMMANG
Éric Vuillard: "Die Tagesordnung". Erzählung.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 128 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Éric Vuillards preisgekrönte Erzählung "Die Tagesordnung"
Über die Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und Literatur, von historischer und literarischer Erzählung, ist viel Kluges geschrieben worden. Heute, wo die Erzählung mehr und mehr durchs Bild abgelöst wird, müsste grundsätzlich über das Verhältnis von dokumentarischen und inszenierten Bildern, über die Übergänge zwischen beiden und über ihre Verwendung nachgedacht werden. Schließlich ist auch das Dokumentarische immer kompiliert und inszeniert, und die Grenzen etwa zwischen "Panzerkreuzer Potemkin", "Weißensee" und ZDF-History sind nicht immer deutlich auszumachen.
Der französische Autor Éric Vuillard, der auch als Regisseur und Drehbuchautor gearbeitet hat, erzählt nach Aussage seines deutschen Verlages "große Momente der Geschichte neu" und habe damit "ein neues Genre begründet". Das hat offenbar im vergangenen Jahr auch die Jury für den Prix Goncourt so beeindruckt, dass sie ihm den renommiertesten Literaturpreis Frankreichs zusprach, wenn auch erst im dritten Wahlgang. Der prämierte Text, gattungsmäßig als Erzählung ausgewiesen und 118 Seiten knapp, liegt nun in der Übertragung von Nicola Denis auch Deutsch vor und wirft einige Fragen auf.
Zunächst diejenige, was Vuillard uns eigentlich hat erzählen wollen. Der Schwerpunkt seines schmalen Romans liegt auf dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 und dessen unmittelbarer Vorgeschichte. Die Eröffnungsszenen gelten jedoch einem Treffen Hitlers und Görings im Februar 1933 mit 24 Unternehmensführern, unter ihnen Wilhelm von Opel, Gustav Krupp, Günther Quandt, Friedrich Flick, Hugo Stinnes, Ernst Tengelmann und andere klangvolle Namen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Gelder, um die die neuen Machthaber für den Wahlkampf zum 5. März mit sanftem Druck bitten, werden bereitwillig gespendet. Es handelt sich also um das, was wir heute Fundraising nennen und was auch Vuillard an einer Stelle so nennt. Die Funktion dieser Eröffnungsszene ist leicht zu entschlüsseln: Seht her, sagt sie, es war das deutsche Großkapital, das die neue Macht gefestigt und gesichert hat. Vuillard sagt dann auch noch einmal ausdrücklich, dass es "ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis" gewesen sei.
Das wirft gleich die nächste Frage auf: Wer erzählt? Wer montiert diese Bilder, wer spricht diese plötzlichen Kommentare, die vom Inhalt her mehrheitlich die eines Nachgeborenen sind und zwischen moralischer Anklage und Sarkasmus pendeln? Es geht bei dieser Frage nicht darum, wo der Autor zu suchen sei, sondern viel eher darum, von welcher Position, genauer: von welchen Positionen aus hier erzählt wird und warum es erzählt wird.
Und drittens stellt sich die Frage, ob überhaupt erzählt wird. Denn Vuillard zeigt keineswegs große Momente der Geschichte neu, sondern montiert seine Bilder brav so aneinander, dass eine bloße Nacherzählung dessen dabei herauskommt, was allgemein als historisch gesichert erscheint. Deshalb geht es von Berlin aus nach London und nach Paris, um noch einmal zu demonstrieren, was Appeasement-Politik war. Schuschniggs Besuch in Berlin, mehr oder weniger auf direkten Befehl Hitlers, führt noch einmal parodistisch das Machtverhältnis zwischen Deutschland und dem kleinen Nachbarstaat vor. Wer der österreichische Kanzler wirklich war, muss für alle, die es noch nicht wissen, unmissverständlich ausgesprochen werden: "Denn Schuschnigg ist nichts. Er verkörpert nichts, er ist niemandes Freund und niemandes Hoffnung. Schuschnigg bündelt sogar sämtliche Schwächen: die Arroganz des Adels und völlig rückständige politische Ansichten. Wer acht Jahre zuvor eine paramilitärische Jugendgruppe angeführt und auf der Leiche der Freiheit getanzt hat, kann nicht hoffen, dass sie ihm auf einmal zu Hilfe eilt!" Verstanden?
Es gibt einzelne Szenen, in denen die Behauptungen, die moralischen Anklagen und die angestrengte Satire wirklich hinter die Bilder zurücktreten und annähernd lebendig werden. Etwa, wenn die deutsche Armee bei ihrem Ein- und Eilmarsch nach Österreich aus technischen Gründen nicht so recht vorwärtskommt, wo doch die Wiener schon Spalier stehen, um dem "Führer" zuzujubeln. Die Panzer bleiben stecken, weil sie noch lange nicht so perfekt sind, wie sie sein sollten. Das ist zuweilen komisch und wäre es noch mehr, wenn Vuillard sich nicht wieder selbst kommentieren und schreiben würde, es sei "fast wie in einer Slapstickkomödie".
Es gibt ein sehr gelungenes Kapitel mit dem Titel "Das Requisitenlager", in dem gezeigt wird, dass die Requisiten für die späteren Antinazifilme im Requisitenfundus Hollywoods alle schon da waren, gewartet und gepflegt unter anderem von Günther Stern, später Günther Anders, dem ersten Ehemann von Hannah Arendt. "Lange vor der Schlacht um Stalingrad, lange bevor das Unternehmen Barbarossa geplant, durchdacht und beschlossen war, vor dem Frankreichfeldzug, ja, noch bevor die Deutschen ihn überhaupt ins Auge gefasst hatten, herrschte in den Regalen des Spektakels schon Krieg."
Aber solche überraschenden Einblicke, die das Verhältnis von Geschichte und ihrer späteren Fiktionalisierung analysieren, sind in Vuillards Bilderbogen leider die Ausnahme. Ansonsten kommt er wie ein Streifen aus der Frühzeit des Stummfilms daher, und man stellt sich beim Zusehen immer wieder vor, was etwa ein Alexander Kluge oder der vor drei Jahren verstorbene Dieter Kühn aus diesem Material gemacht hätten. Nicht nur, dass ZDF-History als Literatur nicht funktioniert, für diese preisgekrönte Erzählung gilt auch: Guido Knopp hätte es besser gemacht.
JOCHEN SCHIMMANG
Éric Vuillard: "Die Tagesordnung". Erzählung.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 128 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main