Vor 2500 Jahren war Syrakus auf Sizilien für die Griechen das New York des Mittelmeers: Aischylos brachte hier Stücke zur Uraufführung, Platon reiste aus Athen gleich dreimal an, der Tyrann Dionysios ersteigerte die Lyra des Euripides, und die schmachtende Nymphe Arethusa versteckte sich im Papyrushain. Dass all das heute noch präsent ist, erfuhr Joachim Sartorius, als er Syrakus zu seinem zweiten Lebensmittelpunkt machte. An seiner Seite wandern wir mit Nymphen und Zyklopen durch Ortigia, die auf einer Insel liegende Altstadt, und treffen ganz heutige Barone, Polizisten, Künstler und Barbiere. Vor unseren Augen entfaltet Sartorius die Tiefe der sizilianischen Geschichte, das Neben- und Übereinander von Kulturen, Stilen und Lebenshaltungen und fügt Details der modernen und antiken, der barocken und der zeitgenössischen Welt zu einem impressionistischen Stadtbild von großer Leuchtkraft.
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"Wer das gelesen hat, den hält nichts mehr, der möchte sofort nach Syrakus reisen"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Schaurausch im Alltäglichsten
Von Friedrich II. und dem Einwickelpapier des Caffè Parisi: Joachim Sartorius erklärt seine Liebe zur sizilianischen Stadt Syrakus.
Von Angelika Overath
Gute Texte haben eine Erlebnisqualität. Sie nehmen uns mit in die Lagunen der Sprache, auf seelische Inseln oder schlicht an Orte, die auf den Karten zu finden sind. Aber so real sie auch sein mögen, nie wird ein Reisender in die besondere Wirklichkeit eintreten, in die das Erzählen ihn führt. Wenn das Wechselspiel der Imagination beginnt, dieses schöne Hin und Her zwischen Welterfassung des Autors und unserer Vorstellungskraft, die ihr folgt und dann doch eigene Wege des Erinnerns und des Assoziierens geht.
Syrakus, an der südöstlichen Küste Siziliens gelegen, war einmal eine der wichtigsten Metropolen der Welt. Und Ortigia, die kleine Insel-Altstadt, ihr Zentrum. Joachim Sartorius hat eine "Versuchung von Syrakus" geschrieben, die beides ist: der Versuch, auf wenigen Seiten ein so geschichtsträchtiges und kulturell aufgeladenes Territorium in ein Porträt zu fassen und dieses wetterleuchtende Gesicht der Stadt zu einer Verführung werden zu lassen. Dabei setzt der Autor ganz auf seine Intimität, seine poetische Unio mit seinem Gegenstand. "Jetzt bin ich schon so lange hier, dass ich einige Dinge betrachten kann, als wären sie von mir geschrieben. Wenn ich im Caffè Minerva sitze und auf die Fassade des Hotels Roma schaue, sage ich mir, dass dieses Rosa mein Rosa ist, diese Fensterläden meine Fensterläden sind, die ich öffne, um auf mich herunterzublicken."
Seine Freunde, seine Nachbarn werden zu Spiegeln, in denen die unterschiedlichsten Splitter der Stadt aufscheinen. Da ist Giuseppe Monteleone, pensionierter Polizist mit Musikstudio (Akkordeon, Keyboard, Schlagzeug; aber keine Märsche, lieber Melancholisches!), oder der Barbier Salvatore Sparatore, der "Pomaden-Artist", der das Messer am Leder schärft, über die Haut kratzt, mit lauwarmem Waschlappen die Schaumreste tilgt und zur Menthol-Eukalyptus-Salbe für die frischglatte Haut greift. Oder die Übersetzerin Dora Suma, das Gastarbeiterkind, das wider Willen mit kaum vierzehn Jahren aus Süddeutschland zurück nach Syrakus musste, eine Entwurzelte, die in Italien behüteter aufwachsen sollte. Und dann in Syrakus mit siebzehn Mutter wird. Oder der Baron Lucio Tasca di Lignari, mit der wunderbaren Münzsammlung, in dessen "Massigkeit und Müdigkeit" der Fürst aus Lampedusas "Il Gattopardo" zurückkommt. Oder der Maler Gaetano Tranchino, der die unwirklichste Inselwirklichkeit schafft mit seinen schrägen Dampfern, seinen gewitternden Palmen.
Und mit dem Designer Carlo Coniglio, der wie ein "modisch gekleideter Angsthase" aussieht und sich "zum Ausgleich eine Dogge" zugelegt hat, trifft sich der Autor zum Frühstück im Hotel Roma, in dem schon Ezra Pound und William Butler Yeats logierten. Joachim Sartorius führt in die Paläste und Weinberge des altsizilianischen Adels, aber er geht auch zum Bahnhof, in die "Station Bar", wo Prostituierte in Glitzerflipflops Pause machen. Er zeigt uns Restaurants und Buchhandlungen, Katakomben und den Acker der Kinder, deren Geburt in ihr Todesjahr fiel. Und allgegenwärtig ist das Meer, taubengrau, wachtelgrau (Ortigia ist die "Wachtelinsel") und im Sommer: "Tiefblau, tiefes Blau, rabiates Blau, schroffes Blau oder in der Nähe des Ufers karibikgrün, giftgrün wie Glas, wie Waldmeistergelee."
Der Autor erzählt von den Aufführungen im antiken Theater, und er zählt die dreißig Palmen von Ortigia, er bringt uns den legendären Staufer Friedrich II. nahe und die Aura der Heiligen Lucia. Und all seine wunderbaren Miniaturen könnte er in das alte Einwickelpapier des Caffè Parisi schlagen, denn ihm kann alles kostbar sein. Er ist empfänglich wie eine Leier, ausgesetzt auf den Bergen Ortigias.
Sartorius schreibt Syrakus nicht schön. Er sieht die Bausünden, die Lethargie der Bewohner, die nur noch an den Tourismus glauben. Und bekommt keine Antwort auf die Frage, wohin die Katzen verschwunden sind (er kann sie sich selbst geben: ein von der Stadt organisiertes Katzenmassaker). Doch er bleibt glücksanfällig. Und zu seinem Glück gehören die Überblendungen durch Literatur und Kunst. Es kann sein, dass er vom Markt in Palermo spricht und dann hinreißend das Bild beschreibt, das Renato Guttuso von diesem Markt gemalt hat. Oder er zeigt die Szene eines randständigen Musikanten mit zerschrammtem Akkordeon auf einem Platz und findet zurück zum Gemälde "Der Narr von Syrakus" von István Farkas. Einmal hatte er dieses Bild in Budapest gesehen und in dem Narren Van Gogh in der Gluthitze von Arles erkannt. Und von Farkas kommt er auf Francis Bacon, der den geschundenen Van Gogh mit auf den Rücken gebundener Staffelei auf einer provenzalischen Landstraße malte: "Hier hat sich Van Gogh in den Verrückten von Syrakus verwandelt."
Die Imagination darf alles, und dem offenen Ich geschieht der Schaurausch im Alltäglichsten. Vor ihm steigt die Nymphe ins Wasser, und Italo Svevo quert mit Strohhut den Platz. Wir blättern die Seite um und geraten in die nächste frische Szene: Solarien, Plattformen "aus festen, aneinandergefügten Spanholzplatten auf einem Gerüst aus Eisenstangen über dem Meer". Eine Bühne! Frühmorgens kommen die sportlichen Vier-Kilometer-Schwimmer, dann die älteren Damen, die sich bräunen lassen, die Schulklassen, die Touristen. Gegen Abend die "Liebhaber der späten Farben", dann die Ragazzi mit tätowierten Schenkeln, die aus dem Solarium ein Fußballfeld machen. Und manchmal erscheint der Antiquar mit seiner dicken Katze unterm Arm. Die gleich mit sichtlichem Behagen ein Bad nimmt. "Es ist die einzige Katze auf der Welt, die ich kenne, die derlei tut."
So sehr sind wir der "Versuchung von Syrakus" verfallen, dass wir, wenn wir vom "treno notte" lesen, uns gleich aufmachen möchten nach Mailand, um dann (Abfahrt 20.10 Uhr) den Stiefel hinunterzufahren. Bei Messina würden wir mit der Fähre auf Schienen übers ionische Meer gelangen und weiter bis Syrakus. Es wäre ganz leicht. Ankunft nachmittags, 15.48 Uhr, wo Adeline in der Bahnhofsbar die Beine übereinanderschlägt und an einem negroni sbagliato nippt.
Joachim Sartorius: "Die Versuchung von Syrakus".
Mareverlag, Hamburg 2023. 175 S., 2 Karten, geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Friedrich II. und dem Einwickelpapier des Caffè Parisi: Joachim Sartorius erklärt seine Liebe zur sizilianischen Stadt Syrakus.
Von Angelika Overath
Gute Texte haben eine Erlebnisqualität. Sie nehmen uns mit in die Lagunen der Sprache, auf seelische Inseln oder schlicht an Orte, die auf den Karten zu finden sind. Aber so real sie auch sein mögen, nie wird ein Reisender in die besondere Wirklichkeit eintreten, in die das Erzählen ihn führt. Wenn das Wechselspiel der Imagination beginnt, dieses schöne Hin und Her zwischen Welterfassung des Autors und unserer Vorstellungskraft, die ihr folgt und dann doch eigene Wege des Erinnerns und des Assoziierens geht.
Syrakus, an der südöstlichen Küste Siziliens gelegen, war einmal eine der wichtigsten Metropolen der Welt. Und Ortigia, die kleine Insel-Altstadt, ihr Zentrum. Joachim Sartorius hat eine "Versuchung von Syrakus" geschrieben, die beides ist: der Versuch, auf wenigen Seiten ein so geschichtsträchtiges und kulturell aufgeladenes Territorium in ein Porträt zu fassen und dieses wetterleuchtende Gesicht der Stadt zu einer Verführung werden zu lassen. Dabei setzt der Autor ganz auf seine Intimität, seine poetische Unio mit seinem Gegenstand. "Jetzt bin ich schon so lange hier, dass ich einige Dinge betrachten kann, als wären sie von mir geschrieben. Wenn ich im Caffè Minerva sitze und auf die Fassade des Hotels Roma schaue, sage ich mir, dass dieses Rosa mein Rosa ist, diese Fensterläden meine Fensterläden sind, die ich öffne, um auf mich herunterzublicken."
Seine Freunde, seine Nachbarn werden zu Spiegeln, in denen die unterschiedlichsten Splitter der Stadt aufscheinen. Da ist Giuseppe Monteleone, pensionierter Polizist mit Musikstudio (Akkordeon, Keyboard, Schlagzeug; aber keine Märsche, lieber Melancholisches!), oder der Barbier Salvatore Sparatore, der "Pomaden-Artist", der das Messer am Leder schärft, über die Haut kratzt, mit lauwarmem Waschlappen die Schaumreste tilgt und zur Menthol-Eukalyptus-Salbe für die frischglatte Haut greift. Oder die Übersetzerin Dora Suma, das Gastarbeiterkind, das wider Willen mit kaum vierzehn Jahren aus Süddeutschland zurück nach Syrakus musste, eine Entwurzelte, die in Italien behüteter aufwachsen sollte. Und dann in Syrakus mit siebzehn Mutter wird. Oder der Baron Lucio Tasca di Lignari, mit der wunderbaren Münzsammlung, in dessen "Massigkeit und Müdigkeit" der Fürst aus Lampedusas "Il Gattopardo" zurückkommt. Oder der Maler Gaetano Tranchino, der die unwirklichste Inselwirklichkeit schafft mit seinen schrägen Dampfern, seinen gewitternden Palmen.
Und mit dem Designer Carlo Coniglio, der wie ein "modisch gekleideter Angsthase" aussieht und sich "zum Ausgleich eine Dogge" zugelegt hat, trifft sich der Autor zum Frühstück im Hotel Roma, in dem schon Ezra Pound und William Butler Yeats logierten. Joachim Sartorius führt in die Paläste und Weinberge des altsizilianischen Adels, aber er geht auch zum Bahnhof, in die "Station Bar", wo Prostituierte in Glitzerflipflops Pause machen. Er zeigt uns Restaurants und Buchhandlungen, Katakomben und den Acker der Kinder, deren Geburt in ihr Todesjahr fiel. Und allgegenwärtig ist das Meer, taubengrau, wachtelgrau (Ortigia ist die "Wachtelinsel") und im Sommer: "Tiefblau, tiefes Blau, rabiates Blau, schroffes Blau oder in der Nähe des Ufers karibikgrün, giftgrün wie Glas, wie Waldmeistergelee."
Der Autor erzählt von den Aufführungen im antiken Theater, und er zählt die dreißig Palmen von Ortigia, er bringt uns den legendären Staufer Friedrich II. nahe und die Aura der Heiligen Lucia. Und all seine wunderbaren Miniaturen könnte er in das alte Einwickelpapier des Caffè Parisi schlagen, denn ihm kann alles kostbar sein. Er ist empfänglich wie eine Leier, ausgesetzt auf den Bergen Ortigias.
Sartorius schreibt Syrakus nicht schön. Er sieht die Bausünden, die Lethargie der Bewohner, die nur noch an den Tourismus glauben. Und bekommt keine Antwort auf die Frage, wohin die Katzen verschwunden sind (er kann sie sich selbst geben: ein von der Stadt organisiertes Katzenmassaker). Doch er bleibt glücksanfällig. Und zu seinem Glück gehören die Überblendungen durch Literatur und Kunst. Es kann sein, dass er vom Markt in Palermo spricht und dann hinreißend das Bild beschreibt, das Renato Guttuso von diesem Markt gemalt hat. Oder er zeigt die Szene eines randständigen Musikanten mit zerschrammtem Akkordeon auf einem Platz und findet zurück zum Gemälde "Der Narr von Syrakus" von István Farkas. Einmal hatte er dieses Bild in Budapest gesehen und in dem Narren Van Gogh in der Gluthitze von Arles erkannt. Und von Farkas kommt er auf Francis Bacon, der den geschundenen Van Gogh mit auf den Rücken gebundener Staffelei auf einer provenzalischen Landstraße malte: "Hier hat sich Van Gogh in den Verrückten von Syrakus verwandelt."
Die Imagination darf alles, und dem offenen Ich geschieht der Schaurausch im Alltäglichsten. Vor ihm steigt die Nymphe ins Wasser, und Italo Svevo quert mit Strohhut den Platz. Wir blättern die Seite um und geraten in die nächste frische Szene: Solarien, Plattformen "aus festen, aneinandergefügten Spanholzplatten auf einem Gerüst aus Eisenstangen über dem Meer". Eine Bühne! Frühmorgens kommen die sportlichen Vier-Kilometer-Schwimmer, dann die älteren Damen, die sich bräunen lassen, die Schulklassen, die Touristen. Gegen Abend die "Liebhaber der späten Farben", dann die Ragazzi mit tätowierten Schenkeln, die aus dem Solarium ein Fußballfeld machen. Und manchmal erscheint der Antiquar mit seiner dicken Katze unterm Arm. Die gleich mit sichtlichem Behagen ein Bad nimmt. "Es ist die einzige Katze auf der Welt, die ich kenne, die derlei tut."
So sehr sind wir der "Versuchung von Syrakus" verfallen, dass wir, wenn wir vom "treno notte" lesen, uns gleich aufmachen möchten nach Mailand, um dann (Abfahrt 20.10 Uhr) den Stiefel hinunterzufahren. Bei Messina würden wir mit der Fähre auf Schienen übers ionische Meer gelangen und weiter bis Syrakus. Es wäre ganz leicht. Ankunft nachmittags, 15.48 Uhr, wo Adeline in der Bahnhofsbar die Beine übereinanderschlägt und an einem negroni sbagliato nippt.
Joachim Sartorius: "Die Versuchung von Syrakus".
Mareverlag, Hamburg 2023. 175 S., 2 Karten, geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Sehr gern schlendert Rezensentin Elke Schlinsog mit Joachim Sartorius durch das sizilianische Syrakus. Schon lange ist der teilweise in Italien wohnhafte Autor Fan der Stadt, und in seiner literarischen Huldigung umarmt er einfach alles an ihr, erkennt die Kritikerin. Die Bewohner des gegenwärtigen Syrakus stellt er in exemplarischen Porträts vor und auch Syrakus-Fans der Vergangenheit, von Pindar bis Ernst Jünger, finden Erwähnung, so Schlinsog. Sartorius' liebendes Auge übersieht zwar gewisse Verfallserscheinungen des realen Syrakus; als kluge und assoziationsreiche Begleitlektüre legt die Rezensentin sein Buch gleichwohl jedem Sizilenbesucher ans Herz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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