Viele Tode musste Opa Jurek in seinem Leben sterben: Im besetzten Warschau, nachts auf der Straße, wo er in der Sperrstunde zwei deutschen Soldaten in die Arme läuft. In der "weltberühmten" Ortschaft Oswiecim, in der er als Zwangsarbeiter den Todeshunger kennenlernt. In Opole, der vom Krieg zerstörten Stadt auf dem Mond, wo er vor den leeren Regalen seines Lebensmittelgeschäfts Nr. 6, noch immer sterbenshungrig, von Delikatessen und mehrgängigen Mittagessen träumt. Und auch als er schon längst mit Oma Zofia verheiratet ist und ihre Tochter sich in einen schulbekannten Delinquenten und Sohn regimekritischer Eltern verliebt, der sie nach Kanada entführen will ... denn da steigt Opa Jurek, inzwischen Direktor eines Warenhauses, für kurze Zeit zum erfolgreichsten Delikatessenverkäufer von Opole auf - und findet sich, scheinbar unschuldig, in der Todesdunkelheit einer Zelle wieder. Matthias Nawrats herzzerreißend traurige, schaurig-komische Familiengeschichte verbindet Alltag und Politik, Straßenwitz und Kriegserfahrung, Autobiographisches und Fiktion zu etwas, das stärker nachwirkt als jede romanhafte Biographie: dem Schelmenroman eines polnischen Großvaters, der Geschichten erzählt, die Anfang der neunziger Jahre, als seine zwei jugendlichen Enkel sich an sie erinnern, gerade Geschichte werden.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2015Kopf eines Königs, Körper eines Hofnarrs
Matthias Nawrat erzählt ein polnisches Jahrhundertleben als Schelmenroman
Kann ein Roman die zerrissene Geschichte eines Landes erzählen und zugleich ein berührendes Schicksal beschreiben? Kann eine Erzählung sowohl tragisch sein als sich tragikkomisch der Katastrophe widersetzen? Matthias Nawrat beweist im Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek", dass all dies möglich ist. In seinem dritten Buch erzählt der 1979 in Opole geborene Schriftsteller die verstörende Geschichte seines Geburtslandes, indem er sie mit der bewegenden Biographie eines Polen verzahnt, der sich trotz aller Hinterhältigkeiten, die das zwanzigste Jahrhundert zu bieten hat, nicht davon abhalten lässt, ein gewissenhaftes und zufriedenes Leben zu führen.
Der Roman beginnt in der Gegenwart mit der Beerdigung von Opa Jurek. Sein Enkel, der Ich-Erzähler, ist mit seiner Mutter aus Deutschland angereist, um sich von seinem Großvater in dessen schlesischer Heimatstadt Opole zu verabschieden. Die Tränen der zahlreichen Gäste deuten bereits an, dass mit dem Tod dieses Mannes eine einmalige Lebensgeschichte verschwindet, die auf einzigartige Weise die Katastrophen Polens spiegelt.
Der Titel, freilich, spricht von Jureks Tod im Plural. Das ist deshalb plausibel, weil es ihm wiederholt gelungen ist, wie durch ein Wunder innerhalb zweier Diktaturen dem sicheren Tod zu entrinnen. Der Roman erzählt in Rückblenden, welche Greuel dieser Jurek überstanden hat: erst die Nationalsozialisten, die Warschau besetzen und ihn nach Auschwitz verfrachten. In der Gefangenschaft muss er einen "Todeshunger" erfahren, den er nur knapp überlebt. Auch als er bei der Lagerarbeit vor den Augen eines Nazi-Schergen eine Wurst entdeckt und sie sich in den Mund schieben will, endet der Regelbruch nur wegen eines gnädigen Soldaten nicht in der Todeszelle. Ein ähnliches Glück widerfährt Jurek nach einem misslungenen Ausbruch aus dem Konzentrationslager.
Die ironischen, schier unfassbaren Wendungen in dieser halb erdichteten, halb faktisch grundierten Biographie sind zugleich die ironischen Brechungen Polens: Denn später, als der angeschlagene Jurek das Gefängnis verlässt und feststellt, dass die Deutschen den Krieg verloren und dafür die Sowjets den Frieden gewonnen haben, erlebt er jetzt, wie die Kommunisten dabei scheitern, Polen in einen gerechten Bauernstaat zu verwandeln. Er stellt fest: In der Gesellschaft unter Gleichen erweisen sich einige als gleicher. Globalpolitisch ist die Lage noch düsterer: Da hat Polen nichts zu sagen und sieht sich, wie so oft, als abgehängte Nation im großen Kräftemessen zwischen West und Ost. Das Trauma schmerzt bis heute, wie der Erzähler bemerkt: "Und deshalb ist es auch klar, warum sich unser kleines Land heute etwas eingezwängt fühlt in seinen Grenzen, denn es hat das Gedächtnis und den Verstand eines großen Königs und Freiheitskämpfers, aber den Körper eines Liliputaners, der als Hofnarr irgendwo auf dem Treppchen unterhalb des Throns sitzt, auf dem heute andere europäische Länder regieren, und wenn dieser Liliputaner sich über seine Lage ärgert, dann schellen die Glöckchen an seinen Pantoffeln und seinem Hut, und die Gesellschaft im Raum ist belustigt, was den Liliputaner nur noch mehr ärgert."
Den größten Teil dieses wortmächtigen Schelmenromans widmet Nawrat der Nachkriegszeit und porträtiert in vielen kleinen Episoden, wie sich Opa Jurek und dessen Frau Zosia in diesem kaputten Polen zurechtzufinden versuchen. Wie in einem Stück von Brecht beschließt Jurek, ein anständiger Mensch zu sein. Doch immer wieder stößt er auf unüberbrückbare Widersprüche in dieser westslawischen Variante des real existierenden Sozialismus. Etwa in der Rolle als Direktor eines Delikatessenladens, in der er sich für das leibliche Wohl seiner Mitmenschen verantwortlich fühlt. Doch er kann seiner Aufgabe nicht gerecht werden, da er ständig von oben diktiert bekommt, wer von den Kunden wie viel und welche Produkte erhält, wer zuerst bedient werden darf und wie die Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter auszusehen haben. Bei jeder Entscheidung wiegt nicht die Vernunft am schwersten, sondern die Röte des Parteibuchs.
Opa Jurek, der prinzipiell an die Idee des Sozialismus glaubt, hört nicht auf, seinem Gewissen zu folgen. Schnell muss er feststellen, dass diese Entscheidung zu Verhören, Verfolgungen und Verleumdungen führt. Nawrat spiegelt dieses bittere, ungerechte Leiden nicht nur eindrucksvoll in einer Sprache, in der jeder Nebensatz eine geradezu bestechend poetische Qualität entfaltet. Nein, er tut dies vor allem mit einer Ironie, die ganz bewusst den schnöden Parteiduktus aufgreift, um die brutale Realität in ihrer Abweichung vom sozialistischen Ideal in erschütternden Kontrasten zu verdeutlichen.
Das ist nämlich das prägende Element dieses Buches: sein tragischer Witz. Als Beispiel sei die Szene genannt, in der Nawrat das klaustrophobische Polen nach dem Ausruf des Kriegsrechts 1981 durch General Jaruzelski beschreibt. Jurek hat da bereits einen erwachsenen Sohn, der sich nichts sehnlicher wünscht, als Polen Richtung Kanada zu verlassen. Den Plan will der Hobbybergsteiger notfalls mit einer Flucht über das Tatra-Gebirge verwirklichen. Die verhängte Ausgangssperre ist ihm und seinen Freunden eine willkommene Gelegenheit, auf die willkürlich in die Luft schießenden jungen Soldaten mit zivilem Ungehorsam zu reagieren - mit fatalen Folgen: "Einmal, als unser Vater und unsere Mutter mit unserem Onkel Edek und dessen damaliger Freundin Danuta Balak auf dem Nachhauseweg von einer Party kurz vor 23 Uhr unter einer noch brennenden Laterne angehalten worden waren und sich den Tonfall dieser Jugendlichen nicht gefallen lassen wollten, schossen sie ausnahmsweise nicht in die Luft, sondern in Danuta Balak hinein, die versucht hatte, unseren Onkel Edek zurückzuhalten, als er einem der jungen Männer eine Tracht Prügel androhte. Was im Krankenhaus endete, jedoch passierte Danuta Balak fast nichts, außer dass sie später im Rollstuhl sitzen musste, aber heutzutage gibt es zum Glück in fast jedem Geschäft oder Amt eine Rollstuhlrampe oder einen Aufzug."
Sowohl der Erzähler als auch Opa Jurek präsentieren sich als Apologeten eines "Umgekehrten Humors". Je mehr man von Jureks Schicksalsschlägen erfährt, desto mehr versteht man, dass dieser perfide, invertierte Witz eine Strategie ist, das ungerechte Schicksal nicht nur zu ertragen, sondern es auch zu überwinden. Verbitterung ist diesem Polen fremd, was seine Biographie in den Händen von Nawrat zu einem unerhörten literarischen Wunder macht. Denn noch nie ist es einem Autor gelungen, die neuere Geschichte Polens, die insbesondere in Deutschland kaum bekannt ist, derart klug in einer Mischform aus Witz und Tragik erzählerisch zu verdichten.
Man merkt diesem Roman an, dass er einem biographischen Interesse entspringt: Matthias Nawrat ist 1989 mit seiner Familie aus Polen nach Bamberg ausgewandert. Und es steht fest, dass sich Teile der Beschreibungen auf die Erinnerungen an Nawrats eigenen Großvater beziehen. Wo nun aber die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Tragik und Komik exakt verlaufen, ist nach der Lektüre so ungewiss wie egal. Denn gerade in der Gratwanderung gewinnt dieses großartige Buch seine volle verstörende Kraft.
TOMASZ KURIANOWICZ
Matthias Nawrat: "Die vielen Tode unseres Opas Jurek". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Matthias Nawrat erzählt ein polnisches Jahrhundertleben als Schelmenroman
Kann ein Roman die zerrissene Geschichte eines Landes erzählen und zugleich ein berührendes Schicksal beschreiben? Kann eine Erzählung sowohl tragisch sein als sich tragikkomisch der Katastrophe widersetzen? Matthias Nawrat beweist im Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek", dass all dies möglich ist. In seinem dritten Buch erzählt der 1979 in Opole geborene Schriftsteller die verstörende Geschichte seines Geburtslandes, indem er sie mit der bewegenden Biographie eines Polen verzahnt, der sich trotz aller Hinterhältigkeiten, die das zwanzigste Jahrhundert zu bieten hat, nicht davon abhalten lässt, ein gewissenhaftes und zufriedenes Leben zu führen.
Der Roman beginnt in der Gegenwart mit der Beerdigung von Opa Jurek. Sein Enkel, der Ich-Erzähler, ist mit seiner Mutter aus Deutschland angereist, um sich von seinem Großvater in dessen schlesischer Heimatstadt Opole zu verabschieden. Die Tränen der zahlreichen Gäste deuten bereits an, dass mit dem Tod dieses Mannes eine einmalige Lebensgeschichte verschwindet, die auf einzigartige Weise die Katastrophen Polens spiegelt.
Der Titel, freilich, spricht von Jureks Tod im Plural. Das ist deshalb plausibel, weil es ihm wiederholt gelungen ist, wie durch ein Wunder innerhalb zweier Diktaturen dem sicheren Tod zu entrinnen. Der Roman erzählt in Rückblenden, welche Greuel dieser Jurek überstanden hat: erst die Nationalsozialisten, die Warschau besetzen und ihn nach Auschwitz verfrachten. In der Gefangenschaft muss er einen "Todeshunger" erfahren, den er nur knapp überlebt. Auch als er bei der Lagerarbeit vor den Augen eines Nazi-Schergen eine Wurst entdeckt und sie sich in den Mund schieben will, endet der Regelbruch nur wegen eines gnädigen Soldaten nicht in der Todeszelle. Ein ähnliches Glück widerfährt Jurek nach einem misslungenen Ausbruch aus dem Konzentrationslager.
Die ironischen, schier unfassbaren Wendungen in dieser halb erdichteten, halb faktisch grundierten Biographie sind zugleich die ironischen Brechungen Polens: Denn später, als der angeschlagene Jurek das Gefängnis verlässt und feststellt, dass die Deutschen den Krieg verloren und dafür die Sowjets den Frieden gewonnen haben, erlebt er jetzt, wie die Kommunisten dabei scheitern, Polen in einen gerechten Bauernstaat zu verwandeln. Er stellt fest: In der Gesellschaft unter Gleichen erweisen sich einige als gleicher. Globalpolitisch ist die Lage noch düsterer: Da hat Polen nichts zu sagen und sieht sich, wie so oft, als abgehängte Nation im großen Kräftemessen zwischen West und Ost. Das Trauma schmerzt bis heute, wie der Erzähler bemerkt: "Und deshalb ist es auch klar, warum sich unser kleines Land heute etwas eingezwängt fühlt in seinen Grenzen, denn es hat das Gedächtnis und den Verstand eines großen Königs und Freiheitskämpfers, aber den Körper eines Liliputaners, der als Hofnarr irgendwo auf dem Treppchen unterhalb des Throns sitzt, auf dem heute andere europäische Länder regieren, und wenn dieser Liliputaner sich über seine Lage ärgert, dann schellen die Glöckchen an seinen Pantoffeln und seinem Hut, und die Gesellschaft im Raum ist belustigt, was den Liliputaner nur noch mehr ärgert."
Den größten Teil dieses wortmächtigen Schelmenromans widmet Nawrat der Nachkriegszeit und porträtiert in vielen kleinen Episoden, wie sich Opa Jurek und dessen Frau Zosia in diesem kaputten Polen zurechtzufinden versuchen. Wie in einem Stück von Brecht beschließt Jurek, ein anständiger Mensch zu sein. Doch immer wieder stößt er auf unüberbrückbare Widersprüche in dieser westslawischen Variante des real existierenden Sozialismus. Etwa in der Rolle als Direktor eines Delikatessenladens, in der er sich für das leibliche Wohl seiner Mitmenschen verantwortlich fühlt. Doch er kann seiner Aufgabe nicht gerecht werden, da er ständig von oben diktiert bekommt, wer von den Kunden wie viel und welche Produkte erhält, wer zuerst bedient werden darf und wie die Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter auszusehen haben. Bei jeder Entscheidung wiegt nicht die Vernunft am schwersten, sondern die Röte des Parteibuchs.
Opa Jurek, der prinzipiell an die Idee des Sozialismus glaubt, hört nicht auf, seinem Gewissen zu folgen. Schnell muss er feststellen, dass diese Entscheidung zu Verhören, Verfolgungen und Verleumdungen führt. Nawrat spiegelt dieses bittere, ungerechte Leiden nicht nur eindrucksvoll in einer Sprache, in der jeder Nebensatz eine geradezu bestechend poetische Qualität entfaltet. Nein, er tut dies vor allem mit einer Ironie, die ganz bewusst den schnöden Parteiduktus aufgreift, um die brutale Realität in ihrer Abweichung vom sozialistischen Ideal in erschütternden Kontrasten zu verdeutlichen.
Das ist nämlich das prägende Element dieses Buches: sein tragischer Witz. Als Beispiel sei die Szene genannt, in der Nawrat das klaustrophobische Polen nach dem Ausruf des Kriegsrechts 1981 durch General Jaruzelski beschreibt. Jurek hat da bereits einen erwachsenen Sohn, der sich nichts sehnlicher wünscht, als Polen Richtung Kanada zu verlassen. Den Plan will der Hobbybergsteiger notfalls mit einer Flucht über das Tatra-Gebirge verwirklichen. Die verhängte Ausgangssperre ist ihm und seinen Freunden eine willkommene Gelegenheit, auf die willkürlich in die Luft schießenden jungen Soldaten mit zivilem Ungehorsam zu reagieren - mit fatalen Folgen: "Einmal, als unser Vater und unsere Mutter mit unserem Onkel Edek und dessen damaliger Freundin Danuta Balak auf dem Nachhauseweg von einer Party kurz vor 23 Uhr unter einer noch brennenden Laterne angehalten worden waren und sich den Tonfall dieser Jugendlichen nicht gefallen lassen wollten, schossen sie ausnahmsweise nicht in die Luft, sondern in Danuta Balak hinein, die versucht hatte, unseren Onkel Edek zurückzuhalten, als er einem der jungen Männer eine Tracht Prügel androhte. Was im Krankenhaus endete, jedoch passierte Danuta Balak fast nichts, außer dass sie später im Rollstuhl sitzen musste, aber heutzutage gibt es zum Glück in fast jedem Geschäft oder Amt eine Rollstuhlrampe oder einen Aufzug."
Sowohl der Erzähler als auch Opa Jurek präsentieren sich als Apologeten eines "Umgekehrten Humors". Je mehr man von Jureks Schicksalsschlägen erfährt, desto mehr versteht man, dass dieser perfide, invertierte Witz eine Strategie ist, das ungerechte Schicksal nicht nur zu ertragen, sondern es auch zu überwinden. Verbitterung ist diesem Polen fremd, was seine Biographie in den Händen von Nawrat zu einem unerhörten literarischen Wunder macht. Denn noch nie ist es einem Autor gelungen, die neuere Geschichte Polens, die insbesondere in Deutschland kaum bekannt ist, derart klug in einer Mischform aus Witz und Tragik erzählerisch zu verdichten.
Man merkt diesem Roman an, dass er einem biographischen Interesse entspringt: Matthias Nawrat ist 1989 mit seiner Familie aus Polen nach Bamberg ausgewandert. Und es steht fest, dass sich Teile der Beschreibungen auf die Erinnerungen an Nawrats eigenen Großvater beziehen. Wo nun aber die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Tragik und Komik exakt verlaufen, ist nach der Lektüre so ungewiss wie egal. Denn gerade in der Gratwanderung gewinnt dieses großartige Buch seine volle verstörende Kraft.
TOMASZ KURIANOWICZ
Matthias Nawrat: "Die vielen Tode unseres Opas Jurek". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" ist bereits der dritte Roman Matthias Nawrats erschienen, verkündet Rezensent Nico Bleutge, der den Autor allein für sein geniales Spiel mit literarischen Ideen schätzt. In diesem Fall sind es Versatzstücke des Schelmenromans, erklärt der Kritiker, der hier einem Chor klug arrangierter Sprechweisen, ihren Affekten, Vorurteilen und ideologischen Hintergründen lauscht. Ein Jahrhundert polnischer Geschichte, beginnend im Warschau der Zwanziger Jahre bis in die Nach-Wende-Zeit, erlebt der Rezensent auf vielen verschiedenen Wahrnehmungsebenen und bewundert dabei Nawrats Kunst der Umkehrung, die gängige Denkmuster nicht selten in ihr Gegenteil verkehre. Insbesondere hebt der Rezensent das Kapitel über die Zeit des Großvaters in Auschwitz hervor: Absurder, komischer noch als Roberto Benigni in "La vita è bella", lobt Bleutge, der zwar nicht jedem Kapitel die gleiche "dialektische Schärfe" attestiert, diese bewegungsreiche, mit Klischees und Vorurteilen spielende Erinnerungssuche aber dennoch uneingeschränkt empfehlen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2015Der Yukon unten im Keller
Matthias Nawrats dritter Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“
durchmisst spielend leicht ein Jahrhundert polnischer Geschichte
VON NICO BLEUTGE
Manchmal kann der Yukon ein glucksender Bach sein. Mit Gipfeln im Hintergrund, dem Geruch von Bäumen, Farnen und feuchter Erde – und einem Himmel darüber, der so blau ist, wie er es nur in den Bergen sein kann. Und doch befinden wir uns keineswegs in der kanadischen Provinz, sondern mitten in Polen. Oder genauer: in der Stadt Opole, und zwar in einer Seitenstraße, genauer noch im Keller eines Hauses, den man nur über eine steile Treppe vom Hinterhof aus erreichen kann. Doch sobald das Türglöckchen schellt, faltet sich eine Welt aus künstlichen Bergen, vor allem aber aus Rucksäcken, Wanderschuhen und Steigeisen auf.
Auch wenn er über einen sprachlichen Ton verfügt, der so eigen ist wie das Klingeln eines Türglöckchens, ähnelt der Schriftsteller Matthias Nawrat einem Stimmenimitator. Oder besser: einem Stimmenarrangeur. War es in seinem ersten Buch „Wir zwei allein“ (2012) die Sprache der Romantik mit ihren Natur- und Liebesbildern, die er seinen Figuren anverwandelte, so ist es in dem kleinen Roman „Unternehmer“ (2014) eine Art fantastischer Jugendslang, der auch die Fabriksprache der „Kupferspulen“ und „Platinen“ kennt. Dabei geht es dem 1979 geborenen Autor keineswegs darum, einfach nur Traditionsspeicher zu plündern oder platte Genreromane zu schreiben. Vielmehr verschmilzt er seine Funde zu ganz eigenen, ästhetisch aufgerauten Sprechweisen und nutzt sie geschickt für seine literarischen Ideen. Wer erzählt, und vor allem: mit welchen Affekten, Vorurteilen und ideologischen Verschiebungen das geschieht, steht als Frage immer im Vordergrund.
Für seinen neuen Roman hat Matthias Nawrat in den erzählerischen Reservoirs des Schelmenromans gestöbert. Nur dass der Schelm hier nicht allein auftritt, sondern einen Zwillingsbruder hat, vielleicht sogar: eine ganze Zwillingssippschaft. Ein nicht genauer bestimmtes „Wir“ gibt die Perspektive vor, ein Wir, bei dem es sich um ein Geschwisterpaar handeln könnte oder um mehrere Brüder und Schwestern im Chor, die aus der Sicht der Enkel erzählen. Mag sein, Nawrat hangelt sich hier insgeheim an der eigenen Familiengeschichte entlang, mag sein, er verzwirnt die Fäden der Imagination stärker mit der vermeintlichen Wirklichkeit, als es dem Leser lieb ist – jedenfalls (eines von Nawrats Lieblingswörtern) markiert dieses Wir gleich zu Beginn, nicht aus der eigenen Fantasie zu schöpfen, sondern in die Rolle des Berichterstatters zu schlüpfen: „Und dann sagte unser Großvater, dass wir uns merken sollten, was er uns erzählt habe. Dass wir ab und zu an ihn denken, dass wir ihn und sein Leben in Erinnerung behalten, dass wir ja nichts vergessen sollten.“
Doch bei genauem Hinsehen sind es nicht nur die Geschichten von Großvater Jurek, sondern auch die Geschichten von anderen Familienmitgliedern, die für das Erzählen von Bedeutung sind, der Großmutter, des Vaters, aber auch von Freunden und Bekannten. Und so tauchen wir ein in ein Gewebe aus beinahe einem ganzen Jahrhundert polnischer Historie, wobei die Fäden manchmal sogar bis ins Mittelalter zurückgespannt werden. Vom Warschau der Zwanzigerjahre geht es über den Zweiten Weltkrieg bis hinein in die Achtzigerjahre, von Generalfeldmarschall Józef Piłsudski bis zu Wojciech Jaruzelski mit seiner Hornbrille und zur Solidarność-Bewegung.
Die zeitliche Schicht, von der aus erzählt wird, ist die Nach-Wende-Zeit, der Beginn der Neunziger. So entsteht ein weiterer Verschiebungseffekt in der Wahrnehmung, zugleich wird die Möglichkeit angedeutet, bei dem erzählenden „Wir“ könnte es sich um ein Ensemble von fast noch kindlichen Stimmen handeln. Was zunächst wie eine jener allzu oft gelesenen „naiven“ Perspektiven anmutet, in denen von „Weltbegebenheiten“ wie den „Problemen in einer kleinen Tierbucht in der Karibik“ die Rede ist oder von einem „gewissen Juri Gagarin“, verwandelt sich nach und nach in ein vielsträngiges erzählerisches Konstrukt.
Dass ein Sportgeschäft an den Yukon erinnern und der Yukon selbst wie ein Bach in der Hohen Tatra aussehen kann, verdankt sich dabei einem Phänomen, das einmal unter der Hand als „Umkehrung der Dinge“ bezeichnet wird. Diese Umkehrung ist nicht nur Signum für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, es mag sich um das Warschauer Ghetto handeln, um Auschwitz oder das Spitzelsystem im kommunistischen Polen. Die Umkehrung ist auch die bevorzugte literarische Technik, mit der Nawrat seine Leser durch die Geschichten und die Geschichte führt.
So kann es im Polen unter Władysław Gomułka geradezu selbstverständlich sein, wenn in jenes paradiesische Warenhaus, das der Großvater eine Zeit lang leitet, nicht die gewünschten Delikatessen, sondern nachgemachte Husarenrüstungen aus dem 17. Jahrhundert geliefert werden, die dann auch noch – dank des Großvaters fantastischer Argumentationskunst – verkauft werden. Oder die Mitarbeiter des Geheimdienstes: Nie würden sie einen Verdächtigen zwingen, in den Katakomben des „Grauen Quaders“ nach all den Befragungen auch noch über Nacht zu bleiben, vielmehr kommt der Gast am Ende ganz alleine auf die Idee, das „Übernachtungsangebot“ der Beamten anzunehmen. Selbst ein einfaches Fußballspiel kann hier jenem Phänomen folgen, das man vielleicht noch allgemeiner als das der „paradoxen Weise“ bezeichnen darf, von der an anderer Stelle einmal die Rede ist.
Doch die Umkehrung meint nicht nur ein Wenden der bekannten Denk- und Wahrnehmungsmuster in ihr Gegenteil. Eines der intensivsten Kapitel gilt der Zeit des Großvaters in Auschwitz. Als hätte ihm Roberto Benigni beim Schreiben über die Schulter geblickt, lässt Nawrat seinen Jurek hier verständnisvoll „die pyjamaartige Arbeitskleidung“ entgegennehmen und sich mit der „befristeten Arbeitsmaßnahme“ arrangieren: „Man war, wenn man so wollte, als Leiharbeiter vom heimischen Betrieb abgezogen worden und würde für eine begrenzte Zeit hier vor Ort eingesetzt werden.“ Nur dass sein „La vita è bella“ noch weiter geht. Immer tiefer dreht er die Schraube der Absurdität ins Gefüge des Textes ein, indem er verschiedene Geschichten gegeneinander setzt, mit Tautologien und Widersprüchen, mit semantischen Verschiebungen und kleinen Sprachspielen arbeitet. Bis am Ende so etwas wie eine Umkehrung der Umkehrung der Umkehrung vollzogen ist und alles infrage steht, auch die Rolle, die der Großvater in Auschwitz innehatte.
Nicht alle Teile des Romans haben diese dialektische Schärfe. Auch hat sich Matthias Nawrat mit seinen Schlusskapiteln keinen Gefallen getan, in denen er einige der erzählerischen Ideen, die so genau die Struktur vieler Sätze bestimmen, eigens herauspräpariert und auf Begriffe wie „umgekehrte Humoristik“ bringt. Und doch gelingt es ihm, die Geschichten von Opa Jurek in all ihren sinnlichen Einzelheiten und erzählerischen Verschattungen aufzufalten. Zugleich entwirft er eine andere Art von Erinnerung, fern von den Vorstellungen der Historiker, fern auch von jenen Erinnerungsperlen, die für den polnischen Dichter Adam Mickiewicz „das baltische Wasser in seinem klaren Schoß / unter azurblauer Farbe auf Jahrhunderte bewahrt“. Nawrats mit Klischees und Vorurteilen spielende Erinnerungssuche ist immer beweglich, sie will nicht plan von der Vergangenheit erzählen, sondern denkt um die Ecke, arbeitet mit Umkehrungen, Schleifen und kleinsten Volten. Hier lösen sich die überkommenen Zuordnungen auf – und Erinnerung und Geschichte zeigen sich als etwas, das immer bruchstückhaft ist, zugeschliffen, voller Fehlschlüsse und bisweilen großer Komik.
Der 1979 geborene Autor
ist ein äußerst raffinierter
Stimmenarrangeur
Als hätte Roberto Benigni
Nawrat beim Schreiben über
die Schulter geschaut
Matthias Nawrat:
Die vielen Tode unseres
Opas Jurek. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Matthias Nawrats dritter Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“
durchmisst spielend leicht ein Jahrhundert polnischer Geschichte
VON NICO BLEUTGE
Manchmal kann der Yukon ein glucksender Bach sein. Mit Gipfeln im Hintergrund, dem Geruch von Bäumen, Farnen und feuchter Erde – und einem Himmel darüber, der so blau ist, wie er es nur in den Bergen sein kann. Und doch befinden wir uns keineswegs in der kanadischen Provinz, sondern mitten in Polen. Oder genauer: in der Stadt Opole, und zwar in einer Seitenstraße, genauer noch im Keller eines Hauses, den man nur über eine steile Treppe vom Hinterhof aus erreichen kann. Doch sobald das Türglöckchen schellt, faltet sich eine Welt aus künstlichen Bergen, vor allem aber aus Rucksäcken, Wanderschuhen und Steigeisen auf.
Auch wenn er über einen sprachlichen Ton verfügt, der so eigen ist wie das Klingeln eines Türglöckchens, ähnelt der Schriftsteller Matthias Nawrat einem Stimmenimitator. Oder besser: einem Stimmenarrangeur. War es in seinem ersten Buch „Wir zwei allein“ (2012) die Sprache der Romantik mit ihren Natur- und Liebesbildern, die er seinen Figuren anverwandelte, so ist es in dem kleinen Roman „Unternehmer“ (2014) eine Art fantastischer Jugendslang, der auch die Fabriksprache der „Kupferspulen“ und „Platinen“ kennt. Dabei geht es dem 1979 geborenen Autor keineswegs darum, einfach nur Traditionsspeicher zu plündern oder platte Genreromane zu schreiben. Vielmehr verschmilzt er seine Funde zu ganz eigenen, ästhetisch aufgerauten Sprechweisen und nutzt sie geschickt für seine literarischen Ideen. Wer erzählt, und vor allem: mit welchen Affekten, Vorurteilen und ideologischen Verschiebungen das geschieht, steht als Frage immer im Vordergrund.
Für seinen neuen Roman hat Matthias Nawrat in den erzählerischen Reservoirs des Schelmenromans gestöbert. Nur dass der Schelm hier nicht allein auftritt, sondern einen Zwillingsbruder hat, vielleicht sogar: eine ganze Zwillingssippschaft. Ein nicht genauer bestimmtes „Wir“ gibt die Perspektive vor, ein Wir, bei dem es sich um ein Geschwisterpaar handeln könnte oder um mehrere Brüder und Schwestern im Chor, die aus der Sicht der Enkel erzählen. Mag sein, Nawrat hangelt sich hier insgeheim an der eigenen Familiengeschichte entlang, mag sein, er verzwirnt die Fäden der Imagination stärker mit der vermeintlichen Wirklichkeit, als es dem Leser lieb ist – jedenfalls (eines von Nawrats Lieblingswörtern) markiert dieses Wir gleich zu Beginn, nicht aus der eigenen Fantasie zu schöpfen, sondern in die Rolle des Berichterstatters zu schlüpfen: „Und dann sagte unser Großvater, dass wir uns merken sollten, was er uns erzählt habe. Dass wir ab und zu an ihn denken, dass wir ihn und sein Leben in Erinnerung behalten, dass wir ja nichts vergessen sollten.“
Doch bei genauem Hinsehen sind es nicht nur die Geschichten von Großvater Jurek, sondern auch die Geschichten von anderen Familienmitgliedern, die für das Erzählen von Bedeutung sind, der Großmutter, des Vaters, aber auch von Freunden und Bekannten. Und so tauchen wir ein in ein Gewebe aus beinahe einem ganzen Jahrhundert polnischer Historie, wobei die Fäden manchmal sogar bis ins Mittelalter zurückgespannt werden. Vom Warschau der Zwanzigerjahre geht es über den Zweiten Weltkrieg bis hinein in die Achtzigerjahre, von Generalfeldmarschall Józef Piłsudski bis zu Wojciech Jaruzelski mit seiner Hornbrille und zur Solidarność-Bewegung.
Die zeitliche Schicht, von der aus erzählt wird, ist die Nach-Wende-Zeit, der Beginn der Neunziger. So entsteht ein weiterer Verschiebungseffekt in der Wahrnehmung, zugleich wird die Möglichkeit angedeutet, bei dem erzählenden „Wir“ könnte es sich um ein Ensemble von fast noch kindlichen Stimmen handeln. Was zunächst wie eine jener allzu oft gelesenen „naiven“ Perspektiven anmutet, in denen von „Weltbegebenheiten“ wie den „Problemen in einer kleinen Tierbucht in der Karibik“ die Rede ist oder von einem „gewissen Juri Gagarin“, verwandelt sich nach und nach in ein vielsträngiges erzählerisches Konstrukt.
Dass ein Sportgeschäft an den Yukon erinnern und der Yukon selbst wie ein Bach in der Hohen Tatra aussehen kann, verdankt sich dabei einem Phänomen, das einmal unter der Hand als „Umkehrung der Dinge“ bezeichnet wird. Diese Umkehrung ist nicht nur Signum für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, es mag sich um das Warschauer Ghetto handeln, um Auschwitz oder das Spitzelsystem im kommunistischen Polen. Die Umkehrung ist auch die bevorzugte literarische Technik, mit der Nawrat seine Leser durch die Geschichten und die Geschichte führt.
So kann es im Polen unter Władysław Gomułka geradezu selbstverständlich sein, wenn in jenes paradiesische Warenhaus, das der Großvater eine Zeit lang leitet, nicht die gewünschten Delikatessen, sondern nachgemachte Husarenrüstungen aus dem 17. Jahrhundert geliefert werden, die dann auch noch – dank des Großvaters fantastischer Argumentationskunst – verkauft werden. Oder die Mitarbeiter des Geheimdienstes: Nie würden sie einen Verdächtigen zwingen, in den Katakomben des „Grauen Quaders“ nach all den Befragungen auch noch über Nacht zu bleiben, vielmehr kommt der Gast am Ende ganz alleine auf die Idee, das „Übernachtungsangebot“ der Beamten anzunehmen. Selbst ein einfaches Fußballspiel kann hier jenem Phänomen folgen, das man vielleicht noch allgemeiner als das der „paradoxen Weise“ bezeichnen darf, von der an anderer Stelle einmal die Rede ist.
Doch die Umkehrung meint nicht nur ein Wenden der bekannten Denk- und Wahrnehmungsmuster in ihr Gegenteil. Eines der intensivsten Kapitel gilt der Zeit des Großvaters in Auschwitz. Als hätte ihm Roberto Benigni beim Schreiben über die Schulter geblickt, lässt Nawrat seinen Jurek hier verständnisvoll „die pyjamaartige Arbeitskleidung“ entgegennehmen und sich mit der „befristeten Arbeitsmaßnahme“ arrangieren: „Man war, wenn man so wollte, als Leiharbeiter vom heimischen Betrieb abgezogen worden und würde für eine begrenzte Zeit hier vor Ort eingesetzt werden.“ Nur dass sein „La vita è bella“ noch weiter geht. Immer tiefer dreht er die Schraube der Absurdität ins Gefüge des Textes ein, indem er verschiedene Geschichten gegeneinander setzt, mit Tautologien und Widersprüchen, mit semantischen Verschiebungen und kleinen Sprachspielen arbeitet. Bis am Ende so etwas wie eine Umkehrung der Umkehrung der Umkehrung vollzogen ist und alles infrage steht, auch die Rolle, die der Großvater in Auschwitz innehatte.
Nicht alle Teile des Romans haben diese dialektische Schärfe. Auch hat sich Matthias Nawrat mit seinen Schlusskapiteln keinen Gefallen getan, in denen er einige der erzählerischen Ideen, die so genau die Struktur vieler Sätze bestimmen, eigens herauspräpariert und auf Begriffe wie „umgekehrte Humoristik“ bringt. Und doch gelingt es ihm, die Geschichten von Opa Jurek in all ihren sinnlichen Einzelheiten und erzählerischen Verschattungen aufzufalten. Zugleich entwirft er eine andere Art von Erinnerung, fern von den Vorstellungen der Historiker, fern auch von jenen Erinnerungsperlen, die für den polnischen Dichter Adam Mickiewicz „das baltische Wasser in seinem klaren Schoß / unter azurblauer Farbe auf Jahrhunderte bewahrt“. Nawrats mit Klischees und Vorurteilen spielende Erinnerungssuche ist immer beweglich, sie will nicht plan von der Vergangenheit erzählen, sondern denkt um die Ecke, arbeitet mit Umkehrungen, Schleifen und kleinsten Volten. Hier lösen sich die überkommenen Zuordnungen auf – und Erinnerung und Geschichte zeigen sich als etwas, das immer bruchstückhaft ist, zugeschliffen, voller Fehlschlüsse und bisweilen großer Komik.
Der 1979 geborene Autor
ist ein äußerst raffinierter
Stimmenarrangeur
Als hätte Roberto Benigni
Nawrat beim Schreiben über
die Schulter geschaut
Matthias Nawrat:
Die vielen Tode unseres
Opas Jurek. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schon wieder eine Leidensgeschichte über totalitäre Herrschaft lesen? Doch, unbedingt. Der neue Roman von Matthias Nawrat ist überaus lesenswert. Der Ton macht die Musik. Hier gelingt ein Schelmenroman auf hohem Niveau. Basler Zeitung