Während einer Indienreise wird einem Fernsehjournalisten vor laufender Kamera von einem Zirkuslöwen die linke Hand abgebissen, was ihm einen ungeheuren Bekanntheitsgrad beschert: In Boston wartet ein Handchirurg auf seine erste Transplantation, in Wisconsin ist eine junge Ehefrau wild entschlossen, dem Reporter die Hand ihre Ehemanns zu geben, der allerdings noch kerngesund ist. Aus den bizarrsten Einzelheiten schafft Irving nach und nach einen Entwicklungsroman, eine Satire auf die Fernsehwelt und zugleich eine wunderbare Liebesgeschichte – so ausschweifend, skurril und melancholisch wie Irvings Helden selbst.
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"Eine Mischung aus sexueller Farce, Satire über den Journalismus und zärtlicher Liebesgeschichte... Aus dem auf den ersten Blick Bizarren schafft Irving nach und nach die beste aller möglichen Liebesgeschichten: eine unwahrscheinliche. Sein Held erhält mehr als nur eine neue Hand, er bekommt eine Seele." (USA Today.)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2002Eine elegante Entsorgung
John Irving erzählt von erotischen Ausschweifungen und einer Handtransplantation
Trauer, Verlust und die Kraft der Liebe seien die Themen von John Irvings neuem Roman, weiß der Klappentext. Was „Die vierte Hand” deutlich von „Witwe für ein Jahr” unterscheidet, wo es noch um „Liebe und Tod, Trauer und Vergänglichkeit” ging.
Doch geht es nicht vielmehr um Transplantationsmedizin, geschlechtliche Ausschweifung und die elegante Entsorgung von Hundekot? Stellen wir Medizin und Ausschweifung zunächst zurück, so kommt ein neurasthenischer, mit einem Lacrosseschläger bewaffneter Mann ins Bild: Der Handchirurg, Harvard-Professor und Hundehaufenverächter Dr. Nicholas M. Zajac, der da gerade die unliebsame Hinterlassenschaft eines Vierbeiners mit dem Schwung des früheren Mittelfeldspielers von Deerfield in den Charles River sausen lässt, wo sie den Steuermann des Harvard-Achters nur um Haaresbreite verfehlt.
Dr. Zajac ist geschieden, Vater eines magersüchtigen Sohns und Arbeitgeber einer Haushälterin, die sich vom hässlichen Entlein zur Sexbombe mausert. Und eigentlich ist er eine Nebenfigur, die Irvings Helden Patrick Wallingford nur eine neue Hand annähen soll. Damit sind wir beim Thema, das Irving zu seinem neuem Roman anregte.
Während eines Fernsehberichts über die erste Handtransplantation in den USA hatte seine Frau Janet die „inspirierende Frage” gestellt: „Und wenn die Witwe des Spenders in bezug auf die Hand ein Besuchsrecht fordert?” Nun sollte Frau Irving ihren Mann gut genug kennen, um zu wissen, was dabei herauskommen würde: Ein indischer Zirkus, ein attraktiver Fernsehmann, der bei Frauen nicht nein sagen kann, ein hungriger Löwe, eine abgebissene Hand, ein plötzlicher Todesfall, eine noch kinderlose Witwe, eine Handtransplantation, eine nicht mehr kinderlose Witwe, ein Möchtegernvater, eine doch noch gut ausgehende Geschichte, einige Fragen.
Warum „Die vierte Hand”? Selbst in seinen besten Zeiten hat Patrick Wallingford nie mehr als zwei gehabt. Und was sind schon zwei, drei oder vier Hände angesichts der überragenden Bedeutung, die Irving Wallingfords eigentlichem Zentralorgan und dessen schier unermüdlicher Erektionsfähigkeit beimisst?
Über weite Strecken ist „Die vierte Hand” eine Nummernrevue, die zeigt, dass John Irving ein technisch routinierter, witziger und origineller Erzähler ist, der seinen Talenten inzwischen zu sehr vertraut. Im Grunde erzählt der Roman die Geschichte eines vom Erfolg verwöhnten Mannes, der eines Tages dem machtvollen, gewaltsam in sein Leben dringenden Ruf „Mensch, werde wesentlich!” folgt, um eine Familie zu gründen. Irvings ursprünglichem Thema geht es dabei wie Wallingfords „dritter” Hand: Es will und will nicht richtig anwachsen, wirkt aufgepfropft und als Belastung. Medizinisch gesehen resultieren solche Abstoßungsreaktionen aus der Unverträglichkeit verschiedener Gewebe, die durch Medikamente unterdrückt werden müssen.
Zwar tut Irving alles, um seinen Patienten am Leben und bei Laune zu halten, stimuliert Zwerchfell und erogene Zonen, massiert die Tränendrüsen, um zu verhindern, das auseinander fällt, was nicht zusammengehört. Aber am Ende bedarf es doch großer Liebe, damit dort, wo Wallingfords Armstumpf endet, eine vierte Hand spürbar wird. Und das ist dann kein Happy end, sondern eine erzählerische Notlösung.
ULRICH BARON
JOHN IRVING: Die vierte Hand. Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 439 S., 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
John Irving erzählt von erotischen Ausschweifungen und einer Handtransplantation
Trauer, Verlust und die Kraft der Liebe seien die Themen von John Irvings neuem Roman, weiß der Klappentext. Was „Die vierte Hand” deutlich von „Witwe für ein Jahr” unterscheidet, wo es noch um „Liebe und Tod, Trauer und Vergänglichkeit” ging.
Doch geht es nicht vielmehr um Transplantationsmedizin, geschlechtliche Ausschweifung und die elegante Entsorgung von Hundekot? Stellen wir Medizin und Ausschweifung zunächst zurück, so kommt ein neurasthenischer, mit einem Lacrosseschläger bewaffneter Mann ins Bild: Der Handchirurg, Harvard-Professor und Hundehaufenverächter Dr. Nicholas M. Zajac, der da gerade die unliebsame Hinterlassenschaft eines Vierbeiners mit dem Schwung des früheren Mittelfeldspielers von Deerfield in den Charles River sausen lässt, wo sie den Steuermann des Harvard-Achters nur um Haaresbreite verfehlt.
Dr. Zajac ist geschieden, Vater eines magersüchtigen Sohns und Arbeitgeber einer Haushälterin, die sich vom hässlichen Entlein zur Sexbombe mausert. Und eigentlich ist er eine Nebenfigur, die Irvings Helden Patrick Wallingford nur eine neue Hand annähen soll. Damit sind wir beim Thema, das Irving zu seinem neuem Roman anregte.
Während eines Fernsehberichts über die erste Handtransplantation in den USA hatte seine Frau Janet die „inspirierende Frage” gestellt: „Und wenn die Witwe des Spenders in bezug auf die Hand ein Besuchsrecht fordert?” Nun sollte Frau Irving ihren Mann gut genug kennen, um zu wissen, was dabei herauskommen würde: Ein indischer Zirkus, ein attraktiver Fernsehmann, der bei Frauen nicht nein sagen kann, ein hungriger Löwe, eine abgebissene Hand, ein plötzlicher Todesfall, eine noch kinderlose Witwe, eine Handtransplantation, eine nicht mehr kinderlose Witwe, ein Möchtegernvater, eine doch noch gut ausgehende Geschichte, einige Fragen.
Warum „Die vierte Hand”? Selbst in seinen besten Zeiten hat Patrick Wallingford nie mehr als zwei gehabt. Und was sind schon zwei, drei oder vier Hände angesichts der überragenden Bedeutung, die Irving Wallingfords eigentlichem Zentralorgan und dessen schier unermüdlicher Erektionsfähigkeit beimisst?
Über weite Strecken ist „Die vierte Hand” eine Nummernrevue, die zeigt, dass John Irving ein technisch routinierter, witziger und origineller Erzähler ist, der seinen Talenten inzwischen zu sehr vertraut. Im Grunde erzählt der Roman die Geschichte eines vom Erfolg verwöhnten Mannes, der eines Tages dem machtvollen, gewaltsam in sein Leben dringenden Ruf „Mensch, werde wesentlich!” folgt, um eine Familie zu gründen. Irvings ursprünglichem Thema geht es dabei wie Wallingfords „dritter” Hand: Es will und will nicht richtig anwachsen, wirkt aufgepfropft und als Belastung. Medizinisch gesehen resultieren solche Abstoßungsreaktionen aus der Unverträglichkeit verschiedener Gewebe, die durch Medikamente unterdrückt werden müssen.
Zwar tut Irving alles, um seinen Patienten am Leben und bei Laune zu halten, stimuliert Zwerchfell und erogene Zonen, massiert die Tränendrüsen, um zu verhindern, das auseinander fällt, was nicht zusammengehört. Aber am Ende bedarf es doch großer Liebe, damit dort, wo Wallingfords Armstumpf endet, eine vierte Hand spürbar wird. Und das ist dann kein Happy end, sondern eine erzählerische Notlösung.
ULRICH BARON
JOHN IRVING: Die vierte Hand. Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 439 S., 22,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2002Abschied vom Teleprompter
Dieses ist der zehnte Streich: John Irvings neuer Roman ist einer seiner besten
Die Infantilisierung, die mit der apokalyptischen Berichterstattung à la CNN verbunden ist, macht der amerikanische Bestsellerautor John Irving zum Gegenstand seines zehnten Romans. Wider die "Buchführung der Welt" schreibt er ein Gegenbuch, dessen Herzensangelegenheit der vergessene Kontext des Spektakulären ist. Wir hätten es nicht mit dem Enfant terrible des hemmungslosen Erzählens zu tun, wenn er diesen Vorsatz nicht mit schrillem Witz, absurdem Humor und der mühelosen Orchestrierung eines üppigen Figurenarsenals bewältigen würde.
Patrick Wallingford, sein willensschwacher Held, ist Skandalreporter eines New Yorker Vierundzwanzigstundensenders und hat das Pech, selbst zur Attraktion eines Dreißigsekundenstreifens zu werden, der um die Welt geht: "Schreckliche Geschichte", bemerkt eine Dame, die er in einer Bar in Tokio trifft. "Ich glaube, so gut wie alle wissen noch, wo sie gewesen sind und was sie gerade gemacht haben, als es im Fernsehen kam." Der Unfall, mit dem Wallingford der Ermordung John F. Kennedys Konkurrenz macht, fand vor einem Löwenkäfig statt, dem der eifrige Journalist etwas zu nahe kam. Ein geistesgegenwärtiger Kameramann filmte, wie ihm eine Raubkatze die Hand abbiß und sich mit ihren Artgenossen um die Beute balgte.
Von nun an ist Patrick nur noch der "Löwenmann". Die Verletzung macht ihn unverwechselbar. War er bisher "ein Junge geblieben", so hat ihn jetzt der Tod markiert: Er muß erwachsen werden. Zunächst driftet er weiter von einer Sensationsgeschichte zur nächsten, seine Einschaltquoten steigen dank des "Human Interest"-Faktors. Er probiert vor laufender Kamera Prothesen aus. Unterwegs trifft der gutaussehende Invalide immer wieder auf starke Frauen, die seine Behinderung sexuell stimuliert.
Der gerne mit Freud kokettierende Irving läßt sich die psychologischen Konnotationen, die mit dem Verlust einer Hand verbunden sind, nicht entgehen. Zu den Höhepunkten des Romans zählt Wallingfords Grußadresse auf einem feministischen Kongreß. Er hält seine Rede "im Profil", weil ihm zwei japanische Masseusen am Vorabend den Hals verrenkt haben. Seine Faszination für Powerfrauen ist unbestreitbar, immer wieder wird er Opfer weiblicher Wesen, die meist weder jung noch schön, aber lebensklug, pragmatisch und mit einem eisernen Zugriff begabt sind. Zu dieser Sorte gehört auch Patricks Kollegin Mary, eine ausnahmsweise attraktive Kandidatin, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ein Kind mit ihm zu zeugen. Ihre Wutausbrüche über seine Ablehnung des Antrags illustrieren aufs schönste die Mentalität einer Medienwelt, die auf Sofortbefriedigung gedrillt ist.
Daß "Die vierte Hand" eine bezaubernde Liebesgeschichte geworden ist, verdanken wir einer anderen Frauengestalt. Doris Clausen lebt glücklich verheiratet in Green Bay, Wisconsin. Ihre Ehe trüben nur zwei Wermutstropfen: ihr trotz aller Anstrengungen unerfüllter Kinderwunsch und ihr obsessives Mitleid mit Patrick Wallingford. In einer kuscheligen Stunde hat sie Otto Clausen zum Unterschreiben eines Spenderdokuments gebracht: Für den Fall eines Ablebens steht seine Hand zur Verfügung. Der Zufall will, daß Otto sich versehentlich bald eine Kugel durch den Kopf schießt. Noch im Morgengrauen treffen Mrs. Clausen und Wallingford in der Praxis eines Transplantationsspezialisten zusammen. Bei dieser Gelegenheit reißt sich die biedere Frau aus dem mittleren Westen die Kleider vom Leib und besteigt umstandslos den Handempfänger, um, wenn nicht von Otto, so doch gleichsam von seiner Hand geschwängert zu werden. Für Wallingford wird diese Aktion zum Erweckungserlebnis. Von nun an ist er Mrs. Clausen, die sich alsbald wieder in den Kokon der Wohlanständigkeit zurückzieht, verfallen. Irvings lustige Witwe taugt mit ihrer Fixierung auf das Detail der Hand zur Allegorie des kontextlosen Konsumenten. Halb schöne Seele, halb Pop-Ikone, schießt sie Polaroids von Patricks neuer Hand und schwelgt in der Trauer um Otto.
Der amerikanische Romancier stellt eine untergründige Verbindung zwischen dem sensationslüsternen Voyeurismus der Zeitgenossen und seiner eigenen literarischen Vorliebe für Gags, Blödeleien und Obszönitäten her. Irvings Prosa ist geradezu versessen auf Momente des Stolperns, auf Augenblicke, in denen die Figuren aus der Rolle fallen, ihre grotesken Ticks und Macken zeigen. Die penetrante Lust an peinlichen Körperfunktionen und das Vergnügen an derben erotischen Szenen haben hier ihren Ort. Mit diesen Mitteln gelingt es Irving gerade in diesem Roman, ein vor Lebendigkeit strotzendes Milieu zu evozieren.
Doch die Intensität verdankt sich nicht infantilem Feixen, sondern dem Schritt darüber hinaus. Wallingfords Laufbahn zeichnet die Genese der Kunst aus der kindlichen Nachahmung nach. So wie der Reporter die Aussprache der Japaner nachäfft, bildet sein Fernsehkanal skurrile Phänomene ab. Weiser geworden, erkennt Patrick den medialen "Pennälerhumor". Der Löwenmann, der selbst zum Witz geworden ist, kann sich durch keinen Lacher mehr aus der Affäre ziehen: "Bislang hatte er sich so verhalten, als gäbe es schlicht deshalb weniger Mitgefühl für den bizarren Tod, den bizarren Verlust, das bizarre Leid, weil sie bizarr waren. Mittlerweile wußte er, daß das Bizarre alltäglich und deshalb überhaupt nicht bizarr war. Es war alles Tod, alles Verlust, alles Leid." Von seinem Nachrichtensender läßt Patrick sich feuern. Der Genuß des Lebens fängt mit dem Abschied vom Teleprompter erst an.
John Irving: "Die vierte Hand". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 400 S., geb., 22,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses ist der zehnte Streich: John Irvings neuer Roman ist einer seiner besten
Die Infantilisierung, die mit der apokalyptischen Berichterstattung à la CNN verbunden ist, macht der amerikanische Bestsellerautor John Irving zum Gegenstand seines zehnten Romans. Wider die "Buchführung der Welt" schreibt er ein Gegenbuch, dessen Herzensangelegenheit der vergessene Kontext des Spektakulären ist. Wir hätten es nicht mit dem Enfant terrible des hemmungslosen Erzählens zu tun, wenn er diesen Vorsatz nicht mit schrillem Witz, absurdem Humor und der mühelosen Orchestrierung eines üppigen Figurenarsenals bewältigen würde.
Patrick Wallingford, sein willensschwacher Held, ist Skandalreporter eines New Yorker Vierundzwanzigstundensenders und hat das Pech, selbst zur Attraktion eines Dreißigsekundenstreifens zu werden, der um die Welt geht: "Schreckliche Geschichte", bemerkt eine Dame, die er in einer Bar in Tokio trifft. "Ich glaube, so gut wie alle wissen noch, wo sie gewesen sind und was sie gerade gemacht haben, als es im Fernsehen kam." Der Unfall, mit dem Wallingford der Ermordung John F. Kennedys Konkurrenz macht, fand vor einem Löwenkäfig statt, dem der eifrige Journalist etwas zu nahe kam. Ein geistesgegenwärtiger Kameramann filmte, wie ihm eine Raubkatze die Hand abbiß und sich mit ihren Artgenossen um die Beute balgte.
Von nun an ist Patrick nur noch der "Löwenmann". Die Verletzung macht ihn unverwechselbar. War er bisher "ein Junge geblieben", so hat ihn jetzt der Tod markiert: Er muß erwachsen werden. Zunächst driftet er weiter von einer Sensationsgeschichte zur nächsten, seine Einschaltquoten steigen dank des "Human Interest"-Faktors. Er probiert vor laufender Kamera Prothesen aus. Unterwegs trifft der gutaussehende Invalide immer wieder auf starke Frauen, die seine Behinderung sexuell stimuliert.
Der gerne mit Freud kokettierende Irving läßt sich die psychologischen Konnotationen, die mit dem Verlust einer Hand verbunden sind, nicht entgehen. Zu den Höhepunkten des Romans zählt Wallingfords Grußadresse auf einem feministischen Kongreß. Er hält seine Rede "im Profil", weil ihm zwei japanische Masseusen am Vorabend den Hals verrenkt haben. Seine Faszination für Powerfrauen ist unbestreitbar, immer wieder wird er Opfer weiblicher Wesen, die meist weder jung noch schön, aber lebensklug, pragmatisch und mit einem eisernen Zugriff begabt sind. Zu dieser Sorte gehört auch Patricks Kollegin Mary, eine ausnahmsweise attraktive Kandidatin, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ein Kind mit ihm zu zeugen. Ihre Wutausbrüche über seine Ablehnung des Antrags illustrieren aufs schönste die Mentalität einer Medienwelt, die auf Sofortbefriedigung gedrillt ist.
Daß "Die vierte Hand" eine bezaubernde Liebesgeschichte geworden ist, verdanken wir einer anderen Frauengestalt. Doris Clausen lebt glücklich verheiratet in Green Bay, Wisconsin. Ihre Ehe trüben nur zwei Wermutstropfen: ihr trotz aller Anstrengungen unerfüllter Kinderwunsch und ihr obsessives Mitleid mit Patrick Wallingford. In einer kuscheligen Stunde hat sie Otto Clausen zum Unterschreiben eines Spenderdokuments gebracht: Für den Fall eines Ablebens steht seine Hand zur Verfügung. Der Zufall will, daß Otto sich versehentlich bald eine Kugel durch den Kopf schießt. Noch im Morgengrauen treffen Mrs. Clausen und Wallingford in der Praxis eines Transplantationsspezialisten zusammen. Bei dieser Gelegenheit reißt sich die biedere Frau aus dem mittleren Westen die Kleider vom Leib und besteigt umstandslos den Handempfänger, um, wenn nicht von Otto, so doch gleichsam von seiner Hand geschwängert zu werden. Für Wallingford wird diese Aktion zum Erweckungserlebnis. Von nun an ist er Mrs. Clausen, die sich alsbald wieder in den Kokon der Wohlanständigkeit zurückzieht, verfallen. Irvings lustige Witwe taugt mit ihrer Fixierung auf das Detail der Hand zur Allegorie des kontextlosen Konsumenten. Halb schöne Seele, halb Pop-Ikone, schießt sie Polaroids von Patricks neuer Hand und schwelgt in der Trauer um Otto.
Der amerikanische Romancier stellt eine untergründige Verbindung zwischen dem sensationslüsternen Voyeurismus der Zeitgenossen und seiner eigenen literarischen Vorliebe für Gags, Blödeleien und Obszönitäten her. Irvings Prosa ist geradezu versessen auf Momente des Stolperns, auf Augenblicke, in denen die Figuren aus der Rolle fallen, ihre grotesken Ticks und Macken zeigen. Die penetrante Lust an peinlichen Körperfunktionen und das Vergnügen an derben erotischen Szenen haben hier ihren Ort. Mit diesen Mitteln gelingt es Irving gerade in diesem Roman, ein vor Lebendigkeit strotzendes Milieu zu evozieren.
Doch die Intensität verdankt sich nicht infantilem Feixen, sondern dem Schritt darüber hinaus. Wallingfords Laufbahn zeichnet die Genese der Kunst aus der kindlichen Nachahmung nach. So wie der Reporter die Aussprache der Japaner nachäfft, bildet sein Fernsehkanal skurrile Phänomene ab. Weiser geworden, erkennt Patrick den medialen "Pennälerhumor". Der Löwenmann, der selbst zum Witz geworden ist, kann sich durch keinen Lacher mehr aus der Affäre ziehen: "Bislang hatte er sich so verhalten, als gäbe es schlicht deshalb weniger Mitgefühl für den bizarren Tod, den bizarren Verlust, das bizarre Leid, weil sie bizarr waren. Mittlerweile wußte er, daß das Bizarre alltäglich und deshalb überhaupt nicht bizarr war. Es war alles Tod, alles Verlust, alles Leid." Von seinem Nachrichtensender läßt Patrick sich feuern. Der Genuß des Lebens fängt mit dem Abschied vom Teleprompter erst an.
John Irving: "Die vierte Hand". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 400 S., geb., 22,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch möge niemals enden!
Es gibt einen schönen Satz über die Romane von John Irving, nachzulesen im Klappentext zu einem seiner Bücher: "Ein normaler Leser möchte wissen, wie das Buch endet, der Irving-Leser wünscht, es möge niemals enden." Natürlich kann das auch für Die vierte Hand so stehen bleiben, für Irvings zehnten Roman. Auch wenn dies, so viel sei vorweggenommen, ein vergleichsweise "leiser" Irving ist.
Erzählt wird die Geschichte des Fernsehreporters Patrick Wallingford, eines sowohl beruflich wie auch privat zwar sehr erfolgreichen, aber unerträglich oberflächlichen Menschen. Während einer Indien-Reportage wird dem smarten Frauenschwarm vor laufender Kamera von einem Löwen die linke Hand abgebissen. Millionen Zuschauer verfolgen die Szene und schlagartig wird Wallingford als "Löwenmann" berühmt.
In Boston wittert der kauzige Handchirurg Dr. Zajac seine Chance, die erste amerikanische Handtransplantation vorzunehmen. Auch die junge Doris Clausen verfolgt die Tragödie vor dem Fernseher und verspricht Wallingford die Hand ihres Ehemanns Otto, sollte dieser einmal sterben. Tatsächlich kommt Otto bald bei einem Unfall ums Leben. Wallingford bekommt seine neue Hand - und wird allmählich ein neuer Mensch. Nach einem langatmigen Einstieg entspinnt sich vorsichtig die zärtliche und sensible Liebesgeschichte zwischen dem Reporter und Doris Clausen, in deren Verlauf sich Wallingford als Journalist und Mann neu findet.
Tragisch, komisch, sinnlich, ausschweifend
Die vierte Hand ist bei weitem keines dieser Feuerwerke an blühender Phantasie und skurrilen Ereignissen, wie etwa Das Hotel New Hampshire oder zuletzt Witwe für ein Jahr. Irvings neue Geschichte ist tragisch und komisch, sinnlich ausschweifend, wenn es um Patricks Liebesleben geht, aber auch nüchtern analysierend, wie etwa in der deutlich anklingenden Medienkritik. Wie das Buch endet? Nun ja. Leider schon nach 437 Seiten. Und damit entschieden zu schnell. (ah/André Lorenz. Medien)
"Eine Mischung aus sexueller Farce, Satire über den Journalismus und zärtlicher Liebesgeschichte... Aus dem auf den ersten Blick Bizarren schafft Irving nach und nach die beste aller möglichen Liebesgeschichten: eine unwahrscheinliche. Sein Held erhält mehr als nur eine neue Hand, er bekommt eine Seele." (USA Today)
Es gibt einen schönen Satz über die Romane von John Irving, nachzulesen im Klappentext zu einem seiner Bücher: "Ein normaler Leser möchte wissen, wie das Buch endet, der Irving-Leser wünscht, es möge niemals enden." Natürlich kann das auch für Die vierte Hand so stehen bleiben, für Irvings zehnten Roman. Auch wenn dies, so viel sei vorweggenommen, ein vergleichsweise "leiser" Irving ist.
Erzählt wird die Geschichte des Fernsehreporters Patrick Wallingford, eines sowohl beruflich wie auch privat zwar sehr erfolgreichen, aber unerträglich oberflächlichen Menschen. Während einer Indien-Reportage wird dem smarten Frauenschwarm vor laufender Kamera von einem Löwen die linke Hand abgebissen. Millionen Zuschauer verfolgen die Szene und schlagartig wird Wallingford als "Löwenmann" berühmt.
In Boston wittert der kauzige Handchirurg Dr. Zajac seine Chance, die erste amerikanische Handtransplantation vorzunehmen. Auch die junge Doris Clausen verfolgt die Tragödie vor dem Fernseher und verspricht Wallingford die Hand ihres Ehemanns Otto, sollte dieser einmal sterben. Tatsächlich kommt Otto bald bei einem Unfall ums Leben. Wallingford bekommt seine neue Hand - und wird allmählich ein neuer Mensch. Nach einem langatmigen Einstieg entspinnt sich vorsichtig die zärtliche und sensible Liebesgeschichte zwischen dem Reporter und Doris Clausen, in deren Verlauf sich Wallingford als Journalist und Mann neu findet.
Tragisch, komisch, sinnlich, ausschweifend
Die vierte Hand ist bei weitem keines dieser Feuerwerke an blühender Phantasie und skurrilen Ereignissen, wie etwa Das Hotel New Hampshire oder zuletzt Witwe für ein Jahr. Irvings neue Geschichte ist tragisch und komisch, sinnlich ausschweifend, wenn es um Patricks Liebesleben geht, aber auch nüchtern analysierend, wie etwa in der deutlich anklingenden Medienkritik. Wie das Buch endet? Nun ja. Leider schon nach 437 Seiten. Und damit entschieden zu schnell. (ah/André Lorenz. Medien)
"Eine Mischung aus sexueller Farce, Satire über den Journalismus und zärtlicher Liebesgeschichte... Aus dem auf den ersten Blick Bizarren schafft Irving nach und nach die beste aller möglichen Liebesgeschichten: eine unwahrscheinliche. Sein Held erhält mehr als nur eine neue Hand, er bekommt eine Seele." (USA Today)
»Ein wirklich großer Geschichtenerzähler.« Thomas David / Neue Zürcher Zeitung Neue Zürcher Zeitung