Es geht um seinen Ruf als bester Fernsehkoch. Denis F. Degenkolb will das weihnachtliche Kochduell mit einem Gänsebraten gewinnen. Da kommt es ihm gerade recht, dass per Post ein großes Paket mit der Aufschrift "Lebende Tiere" eintrifft, aus dem eine Gans ihren Kopf reckt. Seine Kinder taufen sie Hermine. Besonders der sechsjährige Fabio hat seinen Spaß mit ihr, nachdem er entdeckt hat, dass sie sofort stillsteht, wenn man einen Staubsauger einschaltet. So ist das Glück allgemein, bis Vater Degenkolb sein Messer wetzt und "zur Sache kommen will". Unter lautem Geschnatter reißt Hermine aus. Fabio ist untröstlich, Vater Degenkolb hat ein schlechtes Gewissen und die Mutter den rettenden Einfall. Thomas Brussigs sprechende Gans Hermine könnte eine Urenkelin der bei Jung und Alt beliebten Weihnachtgans Auguste von Friedrich Wolf sein: keck, witzig und liebenswert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Aber Steinpilze tun es doch auch
Allgemeines Glück: In Thomas Brussigs Bilderbuch geht es einer Weihnachtsgans nur fast an den Kragen
Von Elena Geus
Tierkannibalische Genussmenschen haben es schwer. Wer heute nicht von seinen Vorbereitungen auf ein veganes oder wenigstens vegetarisches Weihnachtsmenü berichtet, sondern zugibt, dass, aus Tradition oder weil's eben schmeckt, Gänsebraten mit Rotkohl und Klößen auf den Tisch kommt, der sollte das zumindest mit schlechtem Gewissen tun, auch wenn er sich in guter Gesellschaft, etwa mit der Kanzlerin, weiß. Aufrufe, es ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder gleichzutun und die als Festbraten auserkorene Gans zu begnadigen, prallten bislang an ihr ab. Nett ist das nicht.
Wenig edle Absichten hat auch Thomas Brussigs Koch Dennis F. Degenkolb in "Die Weihnachtsgans Hermine", der das lebend angelieferte Federvieh zwar nicht seiner Familie auftischen, es aber dennoch im Topf sehen möchte: als Probelauf für sein Fernsehduell mit Jules Pöhling. Degenkolb ist zuversichtlich, denn sein Konkurrent schwächelt bei traditionellen Gerichten.
Mit dem Klassiker "Die Weihnachtsgans Auguste" hat Brussigs Kinderbuch nicht nur den verwandten Titel gemein, Friedrich Wolfs Erzählung diente als Vorlage, bis hin zu einer Referenz mit dem wörtlichen Zitat: "So war das Glück allgemein." Aber vielleicht kann man besser nicht ausdrücken, wenn alle Familienmitglieder zufrieden sind.
Die Szenerie ist modern, Geschichte und Repertoire sind bekannt: Es ist noch ein paar Tage hin, bis das Tier dran glauben muss, die Kinder schließen es jeden Tag mehr in ihr Herz, für den sechsjährigen Fabio wird es zum Spielkameraden. Als es Hermine schließlich an den Kragen gehen soll und der Hausherr mit gewetztem Messer losjagt, entwischt die Gans und wird am nächsten Tag, dem Tode näher als dem Leben, auf der nahe gelegenen Baustelle gefunden - mit den Füßen im hart gewordenen Zement steckend. Wieder aufgepäppelt, bleibt sie vom Schicksal des Gebratenwerdens verschont, und der Meisterkoch punktet beim Publikum mit einer vegetarischen "Weihnachtsgans unsterblich", einem mit Steinpilzen und Kohl gefüllten Brotlaib. Diese Anspielung auf den Zeitgeist ist ebenso witzig wie die Idee hübsch, Hermine zum Star des Internets zu machen, der es auf mehr Klicks bringt als die wetteifernden Köche zusammen.
Und doch hat das siebzig Jahre alte Original kaum mehr bekommen als ein neues Kleid, wie einst die gerupfte Auguste einen Pullover als Federkleidersatz. Dem Revolutionären in Wolfs Stück - den Kindern die Gans als Haustier zu lassen in einer Zeit, in der es üblich und meist blanker Not geschuldet war, das gehaltene Vieh am Ende auf dem Teller zu haben - fehlt eine zeitgemäße Entsprechung. Dass es bei Degenkolbs genauso traditionell zugeht wie einst bei Opernsänger Löwenhaupt und Gattin - er sich als Familienoberhaupt wähnend, während eigentlich sie die Geschicke (und ihn) lenkt - ist, wenn ironisch gemeint, zu lau. Und für Brussig, der sich meisterhaft auf Parodien versteht und darauf, Bekanntes im Sinne von "Was wäre, wenn?" neu zu arrangieren, der mit "Das gibt's in keinem Russenfilm" im vergangenen Jahr eine irrwitzige Politsatire über sein Leben in der DDR, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, geschrieben hat - fast schon verstörend konventionell.
Wer diesen Vergleich aber nicht zieht, macht mit dem amüsanten Vorlesebuch, mit schönen Zeichnungen von Katja Wehner, nichts verkehrt. Und dann ist da noch die Anregung, zum Fest der Liebe gefüllten Brotlaib statt Gänsebraten zu servieren. Vielleicht käme es auf einen Versuch an, ob mit der fleischlosen Variante das Glück "allgemein" ist.
Thomas Brussig: "Die Weihnachtsgans Hermine".
Mit Bildern von Katja Wehner. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 32 S., geb., 16,95 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Allgemeines Glück: In Thomas Brussigs Bilderbuch geht es einer Weihnachtsgans nur fast an den Kragen
Von Elena Geus
Tierkannibalische Genussmenschen haben es schwer. Wer heute nicht von seinen Vorbereitungen auf ein veganes oder wenigstens vegetarisches Weihnachtsmenü berichtet, sondern zugibt, dass, aus Tradition oder weil's eben schmeckt, Gänsebraten mit Rotkohl und Klößen auf den Tisch kommt, der sollte das zumindest mit schlechtem Gewissen tun, auch wenn er sich in guter Gesellschaft, etwa mit der Kanzlerin, weiß. Aufrufe, es ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder gleichzutun und die als Festbraten auserkorene Gans zu begnadigen, prallten bislang an ihr ab. Nett ist das nicht.
Wenig edle Absichten hat auch Thomas Brussigs Koch Dennis F. Degenkolb in "Die Weihnachtsgans Hermine", der das lebend angelieferte Federvieh zwar nicht seiner Familie auftischen, es aber dennoch im Topf sehen möchte: als Probelauf für sein Fernsehduell mit Jules Pöhling. Degenkolb ist zuversichtlich, denn sein Konkurrent schwächelt bei traditionellen Gerichten.
Mit dem Klassiker "Die Weihnachtsgans Auguste" hat Brussigs Kinderbuch nicht nur den verwandten Titel gemein, Friedrich Wolfs Erzählung diente als Vorlage, bis hin zu einer Referenz mit dem wörtlichen Zitat: "So war das Glück allgemein." Aber vielleicht kann man besser nicht ausdrücken, wenn alle Familienmitglieder zufrieden sind.
Die Szenerie ist modern, Geschichte und Repertoire sind bekannt: Es ist noch ein paar Tage hin, bis das Tier dran glauben muss, die Kinder schließen es jeden Tag mehr in ihr Herz, für den sechsjährigen Fabio wird es zum Spielkameraden. Als es Hermine schließlich an den Kragen gehen soll und der Hausherr mit gewetztem Messer losjagt, entwischt die Gans und wird am nächsten Tag, dem Tode näher als dem Leben, auf der nahe gelegenen Baustelle gefunden - mit den Füßen im hart gewordenen Zement steckend. Wieder aufgepäppelt, bleibt sie vom Schicksal des Gebratenwerdens verschont, und der Meisterkoch punktet beim Publikum mit einer vegetarischen "Weihnachtsgans unsterblich", einem mit Steinpilzen und Kohl gefüllten Brotlaib. Diese Anspielung auf den Zeitgeist ist ebenso witzig wie die Idee hübsch, Hermine zum Star des Internets zu machen, der es auf mehr Klicks bringt als die wetteifernden Köche zusammen.
Und doch hat das siebzig Jahre alte Original kaum mehr bekommen als ein neues Kleid, wie einst die gerupfte Auguste einen Pullover als Federkleidersatz. Dem Revolutionären in Wolfs Stück - den Kindern die Gans als Haustier zu lassen in einer Zeit, in der es üblich und meist blanker Not geschuldet war, das gehaltene Vieh am Ende auf dem Teller zu haben - fehlt eine zeitgemäße Entsprechung. Dass es bei Degenkolbs genauso traditionell zugeht wie einst bei Opernsänger Löwenhaupt und Gattin - er sich als Familienoberhaupt wähnend, während eigentlich sie die Geschicke (und ihn) lenkt - ist, wenn ironisch gemeint, zu lau. Und für Brussig, der sich meisterhaft auf Parodien versteht und darauf, Bekanntes im Sinne von "Was wäre, wenn?" neu zu arrangieren, der mit "Das gibt's in keinem Russenfilm" im vergangenen Jahr eine irrwitzige Politsatire über sein Leben in der DDR, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, geschrieben hat - fast schon verstörend konventionell.
Wer diesen Vergleich aber nicht zieht, macht mit dem amüsanten Vorlesebuch, mit schönen Zeichnungen von Katja Wehner, nichts verkehrt. Und dann ist da noch die Anregung, zum Fest der Liebe gefüllten Brotlaib statt Gänsebraten zu servieren. Vielleicht käme es auf einen Versuch an, ob mit der fleischlosen Variante das Glück "allgemein" ist.
Thomas Brussig: "Die Weihnachtsgans Hermine".
Mit Bildern von Katja Wehner. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 32 S., geb., 16,95 [Euro]. Ab 6 J.
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»[eine] gleichermaßen abenteuerliche und humorvolle Geschichte [...].« Freie Presse 20161216