"Ich bin einer derer, die die Jahreskarte gezogen haben. Wenn ich abrutsche oder hochfliege, dann für eine lange Zeit. Dann bin ich nicht mehr zu halten, ob im Flug oder im Fall." Die fesselnde Chronik einer manisch-depressiven Erkrankung: ein autobiografisch radikales Werk von höchster literarischer Kraft.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit einer ausgedehnten Besprechung würdigt Christopher Schmidt Thomas Melles neues Buch, das der Kritiker als "blitzhelle Stroboskop-Prosa" bezeichnet, aber auch als zweispältiges Lesevergnügen. Schmidt beschreibt dieses Memoir als einen Streifzug ins "hirnverbrannte Oberstübchen" des an einer schweren Form manischer Depression erkrankten Autors. Er erfährt, wie Melle daran glaubte, Sex mit Madonna zu haben oder Picasso auf einer Berliner Technoparty Rotwein in den Schoß gegossen zu haben und wie es sich anfühlt, wenn die Krankheit den Kern der eigenen Persönlichkeit korrumpiert. Der Rezensent staunt, wie unmittelbar und drastisch Melle den Lesern teilhaben lässt und wie klug und "theoriefreudig" er die Krankheit auch mit Bezügen zur Geistesgeschichte reflektiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2017Was macht es, wenn ein gutes Buch daraus wird
Zeig her deine Schmerzen: Thomas Melle liest in Frankfurt aus "Die Welt im Rücken"
Gut getarnt sei er gewesen, sagt Thomas Melle im Frankfurter Literaturhaus. Gerade hat sein Gesprächspartner, der HR-Redakteur Alf Mentzer, ihn an den Abend im September 2014 erinnert, an dem beide am selben Ort Melles kurz zuvor erschienenen Roman "3000 Euro" vorgestellt haben. Und Mentzer hat seinen Schriftstellergast gefragt, ob er als sorgfältiger Fragender bestimmten Passagen des Buches seinerzeit Melles manisch-depressive Erkrankung hätte anmerken müssen. Nein, sagt der Autor: "Es lag an der ausreichenden Camouflage auf meiner Seite."
Nun ist Melle in den ausverkauften Lesesaal zurückgekommen, um "Die Welt im Rücken" vorzustellen, das Buch, an das er sich machte, als er die Dauertarnung seines Leidens satt hatte. Voriges Jahr hat die Jury des Deutschen Buchpreises es zu Recht auf die Shortlist der Auszeichnung gesetzt, die sie später Bodo Kirchhoffs Novelle "Widerfahrnis" zuerkannte. "Die Welt im Rücken" beweist für Mentzer, dass nicht jedes Shortlistbuch, das am Ende ohne den Hauptpreis ausgeht, für den Buchhandel so verloren sei wie von den Verlagen oft beklagt: "Es unterläuft die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie souverän."
Souverän. Die Herrschaft über seine Krankheit wollte Melle erlangen. Schon einmal hat er sein Buch im Literaturhaus erklärt. Anfang Oktober vergangenen Jahres ist das gewesen, auf der Lesung sämtlicher Shortlistautoren bis auf Kirchhoff, der wenige Tage später am selben Ort auftrat. Wie damals erklärt Melle nun, der Entschluss zum Verfassen des Buches sei für sein Leben und sein Schreiben gleichermaßen wichtig gewesen - auf dass beides ein wenig freier werde von einer lange getragenen Last. Die von ihm betonte Notwendigkeit, "dem Ganzen eine Form zu geben", bezieht sich nicht nur auf das möglichst gute Schreiben des Buches.
Auch wenn ihm diese Seite seiner Tätigkeit gerade bei "Die Welt im Rücken", dem Bekenntnisbuch, dessen Gattungszugehörigkeit sich nur schwer bestimmen lässt, besonders wichtig ist. "Es ist etwas Gemachtes", sagt Melle und fügt eine paradoxe Formulierung hinzu: "Authentizität kann man nur erreichen, wenn es durch die Kunst gegangen ist." Dieser Krankheit, heißt das, wird man erst gerecht, wenn man sich bei ihrer Beschreibung etwas einfallen lässt: "All das muss aufgeblättert und erzählt werden." Nicht bloß berichtet und sorgfältig durchdacht wie in einem Essay, sondern mit etwas mehr Handlungsschwung und persönlicher Beteiligung, schließlich gilt es, eine Manie in den Kunstgriff zu bekommen, in deren Verlauf Welt und Wörter ihre feste, eindeutige und verlässliche Bedeutung verlieren und der Kranke jeden Halt verliert: "Alles kann alles bedeuten. Auch ich kann alles bedeuten."
Von drei schweren manischen Schüben erzählt Melle, langgezogenen Episoden, die ihn zwischen 1999 und 2010 aus der Bahn warfen. Er schildert Größenwahn und Scham, abgerissene Autospiegel, Zwischenrufe auf Veranstaltungen, Klinikaufenthalte und Selbstmordversuche. Die drei Leben des Manikers, des Depressiven und des zwischenzeitlich Geheilten empfindet er als so unterschiedlich, dass sie für ihn nur in der Erinnerung zusammengehören. Das Gefühl, alle drei Thomas Melles seien derselbe, hat er nicht, so weit liegen die drei Leben auseinander. Viele Lesungen dieser Art, sagt er gegen Schluss des Abends, werde er nicht mehr bestreiten. Das Buch ins Schaufenster zu stellen hat ihm geholfen. Aber immer wieder hinzuzutreten ist anstrengend: "Ich muss etwas Neues machen." Ganz ohne Tarnung oder ihr Abwerfen.
FLORIAN BALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeig her deine Schmerzen: Thomas Melle liest in Frankfurt aus "Die Welt im Rücken"
Gut getarnt sei er gewesen, sagt Thomas Melle im Frankfurter Literaturhaus. Gerade hat sein Gesprächspartner, der HR-Redakteur Alf Mentzer, ihn an den Abend im September 2014 erinnert, an dem beide am selben Ort Melles kurz zuvor erschienenen Roman "3000 Euro" vorgestellt haben. Und Mentzer hat seinen Schriftstellergast gefragt, ob er als sorgfältiger Fragender bestimmten Passagen des Buches seinerzeit Melles manisch-depressive Erkrankung hätte anmerken müssen. Nein, sagt der Autor: "Es lag an der ausreichenden Camouflage auf meiner Seite."
Nun ist Melle in den ausverkauften Lesesaal zurückgekommen, um "Die Welt im Rücken" vorzustellen, das Buch, an das er sich machte, als er die Dauertarnung seines Leidens satt hatte. Voriges Jahr hat die Jury des Deutschen Buchpreises es zu Recht auf die Shortlist der Auszeichnung gesetzt, die sie später Bodo Kirchhoffs Novelle "Widerfahrnis" zuerkannte. "Die Welt im Rücken" beweist für Mentzer, dass nicht jedes Shortlistbuch, das am Ende ohne den Hauptpreis ausgeht, für den Buchhandel so verloren sei wie von den Verlagen oft beklagt: "Es unterläuft die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie souverän."
Souverän. Die Herrschaft über seine Krankheit wollte Melle erlangen. Schon einmal hat er sein Buch im Literaturhaus erklärt. Anfang Oktober vergangenen Jahres ist das gewesen, auf der Lesung sämtlicher Shortlistautoren bis auf Kirchhoff, der wenige Tage später am selben Ort auftrat. Wie damals erklärt Melle nun, der Entschluss zum Verfassen des Buches sei für sein Leben und sein Schreiben gleichermaßen wichtig gewesen - auf dass beides ein wenig freier werde von einer lange getragenen Last. Die von ihm betonte Notwendigkeit, "dem Ganzen eine Form zu geben", bezieht sich nicht nur auf das möglichst gute Schreiben des Buches.
Auch wenn ihm diese Seite seiner Tätigkeit gerade bei "Die Welt im Rücken", dem Bekenntnisbuch, dessen Gattungszugehörigkeit sich nur schwer bestimmen lässt, besonders wichtig ist. "Es ist etwas Gemachtes", sagt Melle und fügt eine paradoxe Formulierung hinzu: "Authentizität kann man nur erreichen, wenn es durch die Kunst gegangen ist." Dieser Krankheit, heißt das, wird man erst gerecht, wenn man sich bei ihrer Beschreibung etwas einfallen lässt: "All das muss aufgeblättert und erzählt werden." Nicht bloß berichtet und sorgfältig durchdacht wie in einem Essay, sondern mit etwas mehr Handlungsschwung und persönlicher Beteiligung, schließlich gilt es, eine Manie in den Kunstgriff zu bekommen, in deren Verlauf Welt und Wörter ihre feste, eindeutige und verlässliche Bedeutung verlieren und der Kranke jeden Halt verliert: "Alles kann alles bedeuten. Auch ich kann alles bedeuten."
Von drei schweren manischen Schüben erzählt Melle, langgezogenen Episoden, die ihn zwischen 1999 und 2010 aus der Bahn warfen. Er schildert Größenwahn und Scham, abgerissene Autospiegel, Zwischenrufe auf Veranstaltungen, Klinikaufenthalte und Selbstmordversuche. Die drei Leben des Manikers, des Depressiven und des zwischenzeitlich Geheilten empfindet er als so unterschiedlich, dass sie für ihn nur in der Erinnerung zusammengehören. Das Gefühl, alle drei Thomas Melles seien derselbe, hat er nicht, so weit liegen die drei Leben auseinander. Viele Lesungen dieser Art, sagt er gegen Schluss des Abends, werde er nicht mehr bestreiten. Das Buch ins Schaufenster zu stellen hat ihm geholfen. Aber immer wieder hinzuzutreten ist anstrengend: "Ich muss etwas Neues machen." Ganz ohne Tarnung oder ihr Abwerfen.
FLORIAN BALKE
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Wie Thomas Melle sein eigenes Zerreißen zwischen überfunkenden Nervenenden und nicht mehr kontrollierbaren Synapsenabstürzen als körperlichen wie geistigen Prozess beschreibt, ist schlicht umwerfend. taz
Hier haben wir es ohne Zweifel mit großer Literatur zu tun. Die Welt