Die Ich-Erzählerin begibt sich auf eine Reise nach Schottland und nimmt den Leser mit in ihre tiefste Gedankenwelt. Die Dozentin und Schriftstellerin lässt uns an ihrem Alltag teilhaben, doch immer wieder schweifen die Gedanken in vergangene Jahre zurück. Beschreibungen ihrer Kindheit und von verflossenen Liebschaften stellen die Frage, warum ein einziges Leben so viel Zeit braucht, um falsche Anfänge hinter sich zu lassen...-
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.1995Fremde Notizen
Sigrid Damm in Schottland
In der Malerei ist uns das spätestens seit Caspar David Friedrich vertraut: die Darstellung von Landschaft als Spiegelung eines Seelenzustands. In den Erzählungen Stifters ist das ständige Wechselspiel von Natur und menschlichen Charakteren ein unerläßliches Mittel seiner Darstellung.
Sigrid Damm, die Jakob Michael Reinhold Lenz eine Biographie und eine Werkausgabe gewidmet hat, einen Essay über Goethes Schwester Cornelia verfaßte und den Roman "Ich bin nicht Ottilie", versah im Frühjahr 1993 eine Gastprofessur an den Universitäten Edinburgh und Glasgow und erzählt davon in ihrem jüngsten Buch. Wir erfahren von ihrer Arbeit als Dozentin, als Schriftstellerin (ein neues Buch entsteht), von den schottischen Freunden, von Ausflügen in die Berge und an die Küste; ein Dichterfreund schreibt ihr aus Deutschland verspielte Briefe, und immer wieder schweifen die Gedanken der Autorin von ihren Tagebuchnotizen ab und gehen zurück in die verflossenen Epochen ihres Lebens. In die Kindheit, in die gescheiterten Liebesbeziehungen: "Warum braucht ein einziges Leben so viel Zeit, um falsche Anfänge hinter sich zu lassen?" Und das alles will Sprache werden.
Trotz der Freunde, der Studenten, trotz gemeinsamer Wanderungen, Geselligkeiten, Gesprächen bleibt die Einsamkeit der Erzählerin auf jeder Seite spürbar: "Ich begann mich wieder zu bewohnen." Das Bewußtsein, Liebe immer wieder neu aufbauen und bewähren zu müssen und nach so vielen zerstörten Beziehungen stets auf sich selbst und die eigene Verlassenheit zurückverwiesen zu werden, drückt sich - wohl unbewußt - auch darin aus, daß die Autorin immer wieder das "Wir" betont: Wir essen, wir gehen, wir lachen. Da ersehnt sich jemand verlorengegangene Gemeinschaft zurück, weil nach dem Verschwinden des Du auch das Ich abhanden gekommen ist: "Ich nehme meine mitgebrachten Notizen, Entwürfe vor. Was ich lese, ist mir fremd, wie von einer anderen geschrieben, aus einem anderen Leben; eine abgetrennte, bereits stinkende Haut." Das Schreiben wird zur Selbsttherapie.
Und immer wieder ist die schottische Landschaft, die Sigrid Damm sieht, riecht, schmeckt, mit allen Sinnen in sich aufnimmt und zu reflektieren versucht. Die verletzte Seele, auf der Suche nach Heilung, versucht, sich in der Landschaft zu spiegeln, Gemütszustände als Landschaft zu erfahren, Landschaft bewohnbar werden zu lassen durch Geschichte und Geschichten, Brauchtum und Sagen, die sich vermischen mit Wind und Nässe, Schnee und Sonne, Kühle und der Transparenz eines vom Regen geklärten Horizonts.
Es geht von dieser Autobiographie dreier Monate - mit Rückblicken auf fünfzig Jahre gelebten Lebens - eine große Stille aus. Wie da jemand versucht, nach so manchen Irrwegen und Sackgassen wieder zu sich selbst zu kommen und einen neuen Anfang zu wagen, und wie das über Natur, Landschaft und Brauchtum dann ins Bild gesetzt wird - das macht diese zweihundert Seiten lesens- und bedenkenswert.
Sigrid Damm, 1940 in Gotha geboren, bekam 1994 den Mörike- und den Fontane-Preis. Die Nähe zu diesen beiden Autoren ist spürbar, womit nichts über den literarischen Rang gesagt sein soll, sondern über die Blickrichtung, die gelassene Perspektive. Und Schreiben als Selbsttherapie: Darauf verstanden sich die beiden. ECKART KLESSMANN
Sigrid Damm: "Diese Einsamkeit ohne Überfluß". Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995. 215 Seiten, geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sigrid Damm in Schottland
In der Malerei ist uns das spätestens seit Caspar David Friedrich vertraut: die Darstellung von Landschaft als Spiegelung eines Seelenzustands. In den Erzählungen Stifters ist das ständige Wechselspiel von Natur und menschlichen Charakteren ein unerläßliches Mittel seiner Darstellung.
Sigrid Damm, die Jakob Michael Reinhold Lenz eine Biographie und eine Werkausgabe gewidmet hat, einen Essay über Goethes Schwester Cornelia verfaßte und den Roman "Ich bin nicht Ottilie", versah im Frühjahr 1993 eine Gastprofessur an den Universitäten Edinburgh und Glasgow und erzählt davon in ihrem jüngsten Buch. Wir erfahren von ihrer Arbeit als Dozentin, als Schriftstellerin (ein neues Buch entsteht), von den schottischen Freunden, von Ausflügen in die Berge und an die Küste; ein Dichterfreund schreibt ihr aus Deutschland verspielte Briefe, und immer wieder schweifen die Gedanken der Autorin von ihren Tagebuchnotizen ab und gehen zurück in die verflossenen Epochen ihres Lebens. In die Kindheit, in die gescheiterten Liebesbeziehungen: "Warum braucht ein einziges Leben so viel Zeit, um falsche Anfänge hinter sich zu lassen?" Und das alles will Sprache werden.
Trotz der Freunde, der Studenten, trotz gemeinsamer Wanderungen, Geselligkeiten, Gesprächen bleibt die Einsamkeit der Erzählerin auf jeder Seite spürbar: "Ich begann mich wieder zu bewohnen." Das Bewußtsein, Liebe immer wieder neu aufbauen und bewähren zu müssen und nach so vielen zerstörten Beziehungen stets auf sich selbst und die eigene Verlassenheit zurückverwiesen zu werden, drückt sich - wohl unbewußt - auch darin aus, daß die Autorin immer wieder das "Wir" betont: Wir essen, wir gehen, wir lachen. Da ersehnt sich jemand verlorengegangene Gemeinschaft zurück, weil nach dem Verschwinden des Du auch das Ich abhanden gekommen ist: "Ich nehme meine mitgebrachten Notizen, Entwürfe vor. Was ich lese, ist mir fremd, wie von einer anderen geschrieben, aus einem anderen Leben; eine abgetrennte, bereits stinkende Haut." Das Schreiben wird zur Selbsttherapie.
Und immer wieder ist die schottische Landschaft, die Sigrid Damm sieht, riecht, schmeckt, mit allen Sinnen in sich aufnimmt und zu reflektieren versucht. Die verletzte Seele, auf der Suche nach Heilung, versucht, sich in der Landschaft zu spiegeln, Gemütszustände als Landschaft zu erfahren, Landschaft bewohnbar werden zu lassen durch Geschichte und Geschichten, Brauchtum und Sagen, die sich vermischen mit Wind und Nässe, Schnee und Sonne, Kühle und der Transparenz eines vom Regen geklärten Horizonts.
Es geht von dieser Autobiographie dreier Monate - mit Rückblicken auf fünfzig Jahre gelebten Lebens - eine große Stille aus. Wie da jemand versucht, nach so manchen Irrwegen und Sackgassen wieder zu sich selbst zu kommen und einen neuen Anfang zu wagen, und wie das über Natur, Landschaft und Brauchtum dann ins Bild gesetzt wird - das macht diese zweihundert Seiten lesens- und bedenkenswert.
Sigrid Damm, 1940 in Gotha geboren, bekam 1994 den Mörike- und den Fontane-Preis. Die Nähe zu diesen beiden Autoren ist spürbar, womit nichts über den literarischen Rang gesagt sein soll, sondern über die Blickrichtung, die gelassene Perspektive. Und Schreiben als Selbsttherapie: Darauf verstanden sich die beiden. ECKART KLESSMANN
Sigrid Damm: "Diese Einsamkeit ohne Überfluß". Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995. 215 Seiten, geb., 38,- DM.
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