Die Geschichte der Mutter ist zugleich eine schicksalhafte Familiengeschichte – hörenswert!
Dieses Hörbuch mit beinahe 20 Stunden Laufzeit fesselte mich tagelang!
Das Buch von Angelika Schrobsdorff ist bereits 1992 auf Deutsch bei Hoffmann & Campe erstmals erschienen. Dieses Hörbuch aber ist
vollkommen neu. Und es ist wirklich sensationell gelesen von Adriana Altaras. Diese hat auch ein…mehrDie Geschichte der Mutter ist zugleich eine schicksalhafte Familiengeschichte – hörenswert!
Dieses Hörbuch mit beinahe 20 Stunden Laufzeit fesselte mich tagelang!
Das Buch von Angelika Schrobsdorff ist bereits 1992 auf Deutsch bei Hoffmann & Campe erstmals erschienen. Dieses Hörbuch aber ist vollkommen neu. Und es ist wirklich sensationell gelesen von Adriana Altaras. Diese hat auch ein ähnliches Schicksal, sie wurde als Kind aus dem damaligen Jugoslawien geschmuggelt und gerettet. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sie in der Lage ist, den schwierigen und langen Text von Angelika Schrobsdorff so einfühlsam und emotional zu lesen. Besonders zum Ende des Hörbuches ist die Stimme der Sprecherin passend zum Alter der Else Schrobsdorff, rau und leicht gebrochen, spiegelt es das Leid und den frühen Tod.
Angelika Schrobsdorff erzählt in diesem Buch nicht nur die Lebens- und Leidensgeschichte ihrer Mutter, sie berichtet von einem halben Jahrhundert Familiengeschichte, vielen Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten, aber ganz besonders auch von ihren Geschwistern, dem zehn Jahre älteren Peter, der fünf Jahre älteren Bettina. Jedes der Kinder hat einen anderen Vater, jedes der Kinder einen anderen Charakter. Angelika Schrobsdorff geht besonders mit sich selbst in diesem Lebensrückblick nicht gerade zimperlich um, die Mutter hat ihr in vielen Briefen und Diskussionen den Spiegel vorgehalten. Angelika, das schwierige Kind! Und doch ist sie es, die dieses Buch schrieb, aus Briefen und Erinnerungen zusammensetzte, was ein großes, tragisches Bild ergab. Sehr beeindruckend.
Die Mutter Else ist Jüdin, Angelika ist „nur“ Mischling ersten Grades, der Vater kein Jude. Nach dem 9. November 1938 sieht sich die Mutter gezwungen, Deutschland zu verlassen, die Ehe mit Angelikas Vater wird geschieden. Ab 1939 leben Mutter Else und ihre Töchter in Bulgarien. Auch dort immer in Angst vor den politischen Entwicklungen, dem Krieg und immer mit Armut und Schwierigkeiten konfrontiert. Aber sie erleben dort auch das Bulgarien der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, die ihnen das Überleben ermöglichen.
Else und Angelika werden bald nach Kriegsende zurück nach Deutschland gehen, die Mutter schon schwer gezeichnet von einer tückischen Krankheit, Angelika mit einem amerikanischen Ehemann. Bettina bleibt in Bulgarien, sie hat einen Bulgaren geheiratet und beide haben einen kleinen Sohn. Der Abschied fällt schwer, fast alles, was man im Hörbuch aus den Jahren 1946 bis 1949 erfährt, steht in den vielen, todtraurigen und doch so lebenssprühenden und ironischen Briefen der Mutter.
Die Veröffentlichung dieses Hörbuchs ist gerade in der jetzigen Zeit für mich ein Zeichen, dass sich die Beschäftigung oder besser noch Wiederbeschäftigung mit der Holocaustthematik und dem momentan überall aufflackernden Antisemitismus unbedingt lohnt. Ich schreibe dies hier heute, am 27. Januar 2024, es ist der weltweite Holocaustgedenktag. Ich denke, besser und würdevoller kann man ihn nicht begehen, als ein solches Hörbuch zu hören oder Buch zu lesen. Damit auch ein großer Dank an Aufbau Audio und Adriana Altaras.
Fazit: Mehr will ich aus dem Inhalt nicht preisgeben, nur so viel: das lange Zuhören hat sich gelohnt. Hochinteressant und mitreißend wie ein spannender Roman.
Nachtrag: Für mich zeigt dieses Buch wieder einmal eine ganz andere Seite des jüdischen Lebens in Berlin, denn meine Verwandten waren arm, konnten nicht auswandern, wurden ermordet. Die Familie von Angelika Schrobsdorff aber lebte selbst nach der Machtergreifung noch einige Jahre relativ unbehelligt. Das Kind Angelika hatte manches noch gar nicht verstanden oder erfahren, erst im Nachhinein beim Recherchieren zu diesem und anderen Büchern wird sie die ganze Wahrheit und Tragweite der Geschichte erfahren.
Angelika Schrobsdorff, Jahrgang 1927 wie meine Mutter, hat ein bewegendes und interessantes Leben gelebt, sie wurde Schriftstellerin und heiratete 1971 Claude Lanzmann, der vor allem für seine Shoah-Dokumentarfilmreihe weltbekannt wurde. 2012, vier Jahre vor ihrem Tod veröffentlichte sie als letztes Buch die Briefe ihres Bruders Peter, der auf der Seite der Alliierten Anfang 1945 gefallen war.
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