Heinrich Gerlachs großer Antikriegsroman: Direkt nach der Schlacht um Stalingrad im sowjetischen Kriegsgefangenenlager geschrieben, durch verschiedene Arbeitslager gerettet, aber letztendlich vom russischen Geheimdienst konfisziert - jetzt nach fast 70 Jahren erstmals im Original veröffentlicht.
Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch ist in diesem Buch nichts erfunden. Alles, was die Romanhandlung an Begebenheiten schildert, war irgendwann und irgendwo auf den Schneefeldern vor Stalingrad und in den Trümmern der Stadt einmal Wirklichkeit. Nur mit Ort, Zeit und den beteiligten Personen ist der Verfasser nach eigenem Ermessen verfahren. Den Stoff bot ihm, was er selbst vor und in Stalingrad erlebte und was er in den drei Jahren seiner Gefangenschaft von überlebenden Stalingradern – Soldaten, Offizieren und Generalen – erfuhr.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Die Urfassung des Buchs der Katastrophe
Nach Stalingrad schrieb der Kriegsgefangene Heinrich Gerlach einen Roman über seine Erlebnisse. Damals konfiszierte die Rote Armee das Manuskript.
Von Lorenz Jäger
Dieses Buch ist eine Entdeckung. Nach siebzig Jahren hat es Carsten Gansel in einem russischen Archiv gefunden. Dem Autor Heinrich Gerlach, einem Gymnasiallehrer, war es in der Kriegsgefangenschaft von den sowjetischen Behörden abgenommen worden. Wieder in Deutschland, machte er sich an eine zweite Fassung. Und das ist eine Abenteuergeschichte für sich: Durch Hypnose wurde Gerlach dazu gebracht, sich auf die Einzelheiten seiner Darstellung zu besinnen.
Dieses Buch muss man lesen, wenn man sich einen Begriff von Stalingrad machen will. Nein, keinen Begriff, der nämlich findet sich nicht, das Geschehen fügt sich kaum zusammen, es sei denn in fast apokalyptischen Kategorien. Sagen wir also: Wer eine Ahnung davon bekommen will, was Stalingrad war, wie groß allein der Umfang des Kessels war, was die Einkesselung und schließliche Kapitulation der 6. Armee bedeutete, der muss es lesen. Von rund 300 000 Soldaten - die meisten waren Deutsche, aber auch Rumänen und Italiener kämpften dort - kehrten nach der Kriegsgefangenschaft rund 6000 in die Heimat zurück. Stalingrad war der Wendepunkt. So nahmen die Studenten der "Weißen Rose" die Schlacht wahr und mit ihnen ein großer Teil der Bevölkerung: Die Standesämter dokumentieren, dass danach die Beliebtheit des Vornamens "Adolf" schnell in den Keller ging.
Gerlach hatte als Nachrichtenoffizier ("I c") in Stalingrad gekämpft. Das unterscheidet seinen Roman von Theodor Pliviers "Stalingrad" (Berlin 1945). Plivier hatte im Moskauer Exil gelebt und auf Gespräche mit Wehrmachtssoldaten zurückgreifen können, es unterscheidet ihn aber auch von Alexander Kluges Dokumentarmontage "Schlachtbeschreibung" (erschienen 1964, auch dieses Buch muss man in der ersten Auflage lesen und nicht in der späteren Bearbeitung).
Stalingrad sollte nach Hitlers Kriegsplan genommen werden, um den sowjetischen Nachschub über die Wolga abzuschneiden und danach auf die kaukasischen Ölfelder marschieren zu können. Gerlachs eigene Teilnahme an den Kämpfen, am Martyrium der Eingekesselten und am bitteren Ende der 6. Armee bringt einen eigentümlichen Ton in das Buch, eigentlich überlagern sich zwei Tonlagen. Man erkennt die völlig klare Anti-Hitler-Haltung des Autors - und gleichzeitig eine den heutigen Lesern vielleicht kaum mehr verständliche Loyalität gegenüber den Kameraden. Ja, man glaubt, am Anfang der folgenden Schilderung die Sprache der Wehrmachtsberichte noch erkennen zu können, die erst am Ende des Satzes in die pure Verzweiflung mündet: "Es begann ein erbittertes Ringen um jedes Haus, jedes Kellerloch, um jede Mauer und um jeden Trümmerhaufen, ein Kämpfen Mann gegen Mann, das ungeheuerliche Opfer forderte und die Divisionen dahinschmelzen ließ wie Aprilschnee an der Sonne."
Im Rhythmus dieses einen Satzes findet man die ganze Rhetorik, das "Narrativ", wenn man so will, des Buches. Alles bewegt sich zwischen Glaube und Zweifel, anfangs gibt es noch Hoffnungen auf einen Heimaturlaub, später folgt der grausame Zerfall aller Illusionen. Deutlich wird eine gewisse Erinnerung an christliche Gehalte: "Über die heimatfremde Einöde ritten Kampf, Frost und Hunger als apokalyptisches Dreigespann und hielten immer reichere Ernte unter allem Lebendigen . . . Schädelstätte, Golgatha der Dreihunderttausend! Kreuz von Stalingrad!" Zu den bewegendsten Passagen gehört die Schilderung der Weihnachtsfeier im Kessel und darin das unvergessliche Porträt des evangelischen Pfarrers.
In der Figur des Oberleutnants Breuer hat Gerlach sich selbst gezeichnet. Ihm und seinem Fahrer Lakosch begegnen wir im ersten Kapitel. Später wird sich Lakosch an "die Sache mit den Juden" erinnern. "Vor der getünchten Ziegelmauer drängten sich die Juden, klammerten sich aneinander fest und bildeten so eine unauflösliche Einheit abgründigen Leidens und eines schwarzen, stechenden Hasses, der aus den Urtiefen zu kommen schien." Sie müssen sich, so will es ein Unteroffizier, ihr eigenes Grab schaufeln. In letzter Sekunde erscheint ein anständiger Offizier, er kann der geplanten Mordaktion gerade noch ein Ende machen. Ein älterer Mann unter den Juden, dem man das linke Ohr abgeschnitten hat, nähert sich ihm nun: ",Auch ich, werter Cherr, begrieße serr von Cherzen neie deutsche Regierung!' Durch die Maske sklavischer Unterwerfung, die jahrhundertelange Knechtschaft aufgezwungen hatte, schimmerte ohnmächtiger Hass. Der Offizier wandte sich ab. ,Machen Sie, dass Sie fortkommen', sagte er barsch, ,und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken!'"
Auf den Typus des deutschen Offiziers fällt kein genereller Verdacht. Wie man an anderer Stelle Feuer der Zerstörung sieht, wo Dörfer niedergebrannt werden, heißt es: "Der Oberst hat seinen Einheiten diesen sinnlosen Feuerzauber verboten. Er weiß um die zersetzende Wirkung eines durch Befehl gedeckten Vernichtungsrausches." Selbst eine wüste Landsknechtsnatur, ein Hauptmann, wird nicht völlig ohne Verständnis und Sympathie geschildert. Nur der schöne Harras, ein Fanatiker, der jede Propagandafloskel nachbetet und noch im Kessel auf Eleganz hält, entpuppt sich am Ende, im letzten, schauerlichen Elend, als erbärmlicher Wicht.
Die Zweifel fast aller am Sinn des Kampfes um Stalingrad, dann an Hitler und schließlich an der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda wachsen bei den Romanfiguren - aber sie wachsen nicht gleichmäßig und auch kaum so, wie man sie heute formulieren würde. Sie wachsen - in Soldaten. Auch Breuer sucht noch nach Rechtfertigungen, als ein Kamerad ihm das pseudoreligiöse Wesen des Nationalsozialismus darlegen will: ",Ich glaube, Sie überspitzen, Wiese', sagte er mit kühl überlegener Missbilligung. ,So schlimm ist das alles doch nicht! In einem mögen Sie vielleicht recht haben: Manches könnte besser sein. Es gibt wilde Männer, die über das Ziel hinausschießen. Das sind so die letzten Eierschalen aus der Kampfzeit, Ausnahmen, Einzelfälle . . .'"
Schließlich kommt auch er zu dem Gedanken, eine Kapitulation des Kessels könne geboten sein. "Selbst ein Blücher hat kapituliert! Bei Radkau hat er kapituliert, als ihm Brot und Munition ausging. Eine Kapitulation unter ehrenvollen Bedingungen, nach tapferem Kampf, das ist keine Schande . . . Das kann sogar Pflicht sein!"
Dies dämmert Breuer, als der Plan eines befehlswidrigen Ausbruchs aus dem Kessel schon nicht mehr realistisch war. Der Urheber dieses Plans war General Walther von Seydlitz gewesen, der sich aber gegen den zögernden und von Hitler "wie ein dummer Junge" behandelten Friedrich Paulus nicht durchsetzen konnte. Seydlitz hat einen Auftritt, bei dem er als Muster des hohen Militärs erscheint: "Er nahm die Feldmütze vom Kopf und strich sich mit der Hand über das weiße, an den Schläfen kurzgeschnittene Haar. Dann legte er seine Tarnjacke ab, die das Ritterkreuz mit dem Eichenlaub freigab. Seinem faltigen Gesicht nach mochte der General um die fünfzig herum sein, die straffe Reitergestalt, Ausdruck einer verpflichtenden Familientradition, ließ ihn jünger erscheinen."
Seydlitz gehört in der Kriegsgefangenschaft zum "Bund Deutscher Offiziere", der dem Nationalkomitee Freies Deutschland eingegliedert wurde. Auch Heinrich Gerlach schloss sich dieser Anti-Hitler-Gruppierung an. Seydlitz hatte weitreichende Pläne zur Aufstellung deutscher Einheiten, die unter dem Kommando der Roten Armee kämpfen sollten, und in Berlin hatte man durchaus Sorge angesichts eines solchen Schrittes; beim Eintritt nach Ostpreußen könnte eine deutsche Gegenregierung ausgerufen werden, die an die alte Waffenbrüderschaft gegen Napoleon hätte anknüpfen können. Aber das passte durchaus nicht in die sowjetischen Pläne, und nachdem der BDO seine Schuldigkeit getan hatte, wurde Seydlitz 1950 durch ein Militärgericht zum Tode, dann zu 25 Jahren "Besserungslager" verurteilt, er kam erst 1955 frei. 1996 hob die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft das Urteil von 1950 auf.
Gerlach erging es ein wenig besser, aber auch er kam, nachdem der BDO nicht mehr gebraucht wurde, in neue Gefängnisse und Lager, erst 1950 konnte er in die Bundesrepublik zurückkehren. Wie Carsten Gansel in seinem nicht genug zu rühmenden Nachwort zu diesem Band erläutert (fast ist es ein zweiter kleiner Roman), gehört es zur merkwürdigen Wirkungsgeschichte von Gerlachs Manuskript, dass es zeitweise höchste Kreise der Sowjetunion beschäftigte.
Heinrich Gerlach: "Durchbruch bei Stalingrad". Roman.
Hrsg. von Carsten Gansel. Galiani Verlag, Berlin 2016. 704 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach Stalingrad schrieb der Kriegsgefangene Heinrich Gerlach einen Roman über seine Erlebnisse. Damals konfiszierte die Rote Armee das Manuskript.
Von Lorenz Jäger
Dieses Buch ist eine Entdeckung. Nach siebzig Jahren hat es Carsten Gansel in einem russischen Archiv gefunden. Dem Autor Heinrich Gerlach, einem Gymnasiallehrer, war es in der Kriegsgefangenschaft von den sowjetischen Behörden abgenommen worden. Wieder in Deutschland, machte er sich an eine zweite Fassung. Und das ist eine Abenteuergeschichte für sich: Durch Hypnose wurde Gerlach dazu gebracht, sich auf die Einzelheiten seiner Darstellung zu besinnen.
Dieses Buch muss man lesen, wenn man sich einen Begriff von Stalingrad machen will. Nein, keinen Begriff, der nämlich findet sich nicht, das Geschehen fügt sich kaum zusammen, es sei denn in fast apokalyptischen Kategorien. Sagen wir also: Wer eine Ahnung davon bekommen will, was Stalingrad war, wie groß allein der Umfang des Kessels war, was die Einkesselung und schließliche Kapitulation der 6. Armee bedeutete, der muss es lesen. Von rund 300 000 Soldaten - die meisten waren Deutsche, aber auch Rumänen und Italiener kämpften dort - kehrten nach der Kriegsgefangenschaft rund 6000 in die Heimat zurück. Stalingrad war der Wendepunkt. So nahmen die Studenten der "Weißen Rose" die Schlacht wahr und mit ihnen ein großer Teil der Bevölkerung: Die Standesämter dokumentieren, dass danach die Beliebtheit des Vornamens "Adolf" schnell in den Keller ging.
Gerlach hatte als Nachrichtenoffizier ("I c") in Stalingrad gekämpft. Das unterscheidet seinen Roman von Theodor Pliviers "Stalingrad" (Berlin 1945). Plivier hatte im Moskauer Exil gelebt und auf Gespräche mit Wehrmachtssoldaten zurückgreifen können, es unterscheidet ihn aber auch von Alexander Kluges Dokumentarmontage "Schlachtbeschreibung" (erschienen 1964, auch dieses Buch muss man in der ersten Auflage lesen und nicht in der späteren Bearbeitung).
Stalingrad sollte nach Hitlers Kriegsplan genommen werden, um den sowjetischen Nachschub über die Wolga abzuschneiden und danach auf die kaukasischen Ölfelder marschieren zu können. Gerlachs eigene Teilnahme an den Kämpfen, am Martyrium der Eingekesselten und am bitteren Ende der 6. Armee bringt einen eigentümlichen Ton in das Buch, eigentlich überlagern sich zwei Tonlagen. Man erkennt die völlig klare Anti-Hitler-Haltung des Autors - und gleichzeitig eine den heutigen Lesern vielleicht kaum mehr verständliche Loyalität gegenüber den Kameraden. Ja, man glaubt, am Anfang der folgenden Schilderung die Sprache der Wehrmachtsberichte noch erkennen zu können, die erst am Ende des Satzes in die pure Verzweiflung mündet: "Es begann ein erbittertes Ringen um jedes Haus, jedes Kellerloch, um jede Mauer und um jeden Trümmerhaufen, ein Kämpfen Mann gegen Mann, das ungeheuerliche Opfer forderte und die Divisionen dahinschmelzen ließ wie Aprilschnee an der Sonne."
Im Rhythmus dieses einen Satzes findet man die ganze Rhetorik, das "Narrativ", wenn man so will, des Buches. Alles bewegt sich zwischen Glaube und Zweifel, anfangs gibt es noch Hoffnungen auf einen Heimaturlaub, später folgt der grausame Zerfall aller Illusionen. Deutlich wird eine gewisse Erinnerung an christliche Gehalte: "Über die heimatfremde Einöde ritten Kampf, Frost und Hunger als apokalyptisches Dreigespann und hielten immer reichere Ernte unter allem Lebendigen . . . Schädelstätte, Golgatha der Dreihunderttausend! Kreuz von Stalingrad!" Zu den bewegendsten Passagen gehört die Schilderung der Weihnachtsfeier im Kessel und darin das unvergessliche Porträt des evangelischen Pfarrers.
In der Figur des Oberleutnants Breuer hat Gerlach sich selbst gezeichnet. Ihm und seinem Fahrer Lakosch begegnen wir im ersten Kapitel. Später wird sich Lakosch an "die Sache mit den Juden" erinnern. "Vor der getünchten Ziegelmauer drängten sich die Juden, klammerten sich aneinander fest und bildeten so eine unauflösliche Einheit abgründigen Leidens und eines schwarzen, stechenden Hasses, der aus den Urtiefen zu kommen schien." Sie müssen sich, so will es ein Unteroffizier, ihr eigenes Grab schaufeln. In letzter Sekunde erscheint ein anständiger Offizier, er kann der geplanten Mordaktion gerade noch ein Ende machen. Ein älterer Mann unter den Juden, dem man das linke Ohr abgeschnitten hat, nähert sich ihm nun: ",Auch ich, werter Cherr, begrieße serr von Cherzen neie deutsche Regierung!' Durch die Maske sklavischer Unterwerfung, die jahrhundertelange Knechtschaft aufgezwungen hatte, schimmerte ohnmächtiger Hass. Der Offizier wandte sich ab. ,Machen Sie, dass Sie fortkommen', sagte er barsch, ,und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken!'"
Auf den Typus des deutschen Offiziers fällt kein genereller Verdacht. Wie man an anderer Stelle Feuer der Zerstörung sieht, wo Dörfer niedergebrannt werden, heißt es: "Der Oberst hat seinen Einheiten diesen sinnlosen Feuerzauber verboten. Er weiß um die zersetzende Wirkung eines durch Befehl gedeckten Vernichtungsrausches." Selbst eine wüste Landsknechtsnatur, ein Hauptmann, wird nicht völlig ohne Verständnis und Sympathie geschildert. Nur der schöne Harras, ein Fanatiker, der jede Propagandafloskel nachbetet und noch im Kessel auf Eleganz hält, entpuppt sich am Ende, im letzten, schauerlichen Elend, als erbärmlicher Wicht.
Die Zweifel fast aller am Sinn des Kampfes um Stalingrad, dann an Hitler und schließlich an der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda wachsen bei den Romanfiguren - aber sie wachsen nicht gleichmäßig und auch kaum so, wie man sie heute formulieren würde. Sie wachsen - in Soldaten. Auch Breuer sucht noch nach Rechtfertigungen, als ein Kamerad ihm das pseudoreligiöse Wesen des Nationalsozialismus darlegen will: ",Ich glaube, Sie überspitzen, Wiese', sagte er mit kühl überlegener Missbilligung. ,So schlimm ist das alles doch nicht! In einem mögen Sie vielleicht recht haben: Manches könnte besser sein. Es gibt wilde Männer, die über das Ziel hinausschießen. Das sind so die letzten Eierschalen aus der Kampfzeit, Ausnahmen, Einzelfälle . . .'"
Schließlich kommt auch er zu dem Gedanken, eine Kapitulation des Kessels könne geboten sein. "Selbst ein Blücher hat kapituliert! Bei Radkau hat er kapituliert, als ihm Brot und Munition ausging. Eine Kapitulation unter ehrenvollen Bedingungen, nach tapferem Kampf, das ist keine Schande . . . Das kann sogar Pflicht sein!"
Dies dämmert Breuer, als der Plan eines befehlswidrigen Ausbruchs aus dem Kessel schon nicht mehr realistisch war. Der Urheber dieses Plans war General Walther von Seydlitz gewesen, der sich aber gegen den zögernden und von Hitler "wie ein dummer Junge" behandelten Friedrich Paulus nicht durchsetzen konnte. Seydlitz hat einen Auftritt, bei dem er als Muster des hohen Militärs erscheint: "Er nahm die Feldmütze vom Kopf und strich sich mit der Hand über das weiße, an den Schläfen kurzgeschnittene Haar. Dann legte er seine Tarnjacke ab, die das Ritterkreuz mit dem Eichenlaub freigab. Seinem faltigen Gesicht nach mochte der General um die fünfzig herum sein, die straffe Reitergestalt, Ausdruck einer verpflichtenden Familientradition, ließ ihn jünger erscheinen."
Seydlitz gehört in der Kriegsgefangenschaft zum "Bund Deutscher Offiziere", der dem Nationalkomitee Freies Deutschland eingegliedert wurde. Auch Heinrich Gerlach schloss sich dieser Anti-Hitler-Gruppierung an. Seydlitz hatte weitreichende Pläne zur Aufstellung deutscher Einheiten, die unter dem Kommando der Roten Armee kämpfen sollten, und in Berlin hatte man durchaus Sorge angesichts eines solchen Schrittes; beim Eintritt nach Ostpreußen könnte eine deutsche Gegenregierung ausgerufen werden, die an die alte Waffenbrüderschaft gegen Napoleon hätte anknüpfen können. Aber das passte durchaus nicht in die sowjetischen Pläne, und nachdem der BDO seine Schuldigkeit getan hatte, wurde Seydlitz 1950 durch ein Militärgericht zum Tode, dann zu 25 Jahren "Besserungslager" verurteilt, er kam erst 1955 frei. 1996 hob die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft das Urteil von 1950 auf.
Gerlach erging es ein wenig besser, aber auch er kam, nachdem der BDO nicht mehr gebraucht wurde, in neue Gefängnisse und Lager, erst 1950 konnte er in die Bundesrepublik zurückkehren. Wie Carsten Gansel in seinem nicht genug zu rühmenden Nachwort zu diesem Band erläutert (fast ist es ein zweiter kleiner Roman), gehört es zur merkwürdigen Wirkungsgeschichte von Gerlachs Manuskript, dass es zeitweise höchste Kreise der Sowjetunion beschäftigte.
Heinrich Gerlach: "Durchbruch bei Stalingrad". Roman.
Hrsg. von Carsten Gansel. Galiani Verlag, Berlin 2016. 704 S., geb., 34,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Allein die Vorgeschichte dieses Buches ist ein Roman für sich, versichert Rezensent Ulrich Baron: Im Jahre 1957 unter dem Titel "Die verratene Armee" erstmals veröffentlicht, hatte Heinrich Gerlach bereits 1944/45 die hier vorliegende, vom Germanisten Carsten Gansel entdeckte Erstfassung mit dem Titel "Durchbruch bei Stalingrad" geschrieben, die allerdings im sowjetischen Gefangenenlager beschlagnahmt wurde, informiert der Kritiker. Die Unterschiede zwischen der Urfassung und dem von Gerlach rekonstruierten Nachfolger erachtet der Rezensent als erstaunlich gering, auch wenn Schuld und Gewissenskonflikte zunächst schärfer betont wurden und sich die verschiedenen Ideologien der 1940er und 1950er Jahren in den beiden Fassungen durchaus bemerkbar machen. In jedem Fall liest Baron gebannt diesen im November 1942 einsetzenden Roman, der Gerlachs Erfahrungen in Stalingrad schildert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Es ist die wahrscheinlich ungewöhnlichste Entstehungsgeschichte eines Romans, von der man je gehört hat. (...) Heinrich Gerlach hat in sowjetischer Gefangenschaft einen Roman über das Grauen und die Sinnlosigkeit von Stalingrad geschrieben, einen Anti-Kriegs-Roman. (...) Gerlach schreibt keinen Offiziersroman, sondern dokumentiert - das macht ihn so besonders - das Leben und Empfinden der Soldaten aller Ränge. Und er dokumentiert auch Kriegsverbrechen der Deutschen Wehrmacht. Hannes Heer hat anlässlich der Wehrmachtsausstellung einmal bemerkt, dass "kein Roman erzähle, was in den besetzten Gebieten im Osten und Südosten am Verbrechen begangen worden" ist. Hier ist er. Jetzt können wir ihn alle lesen. Julia Encke FAS 20160306