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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Robert Seethaler im Frankfurter Literaturhaus
Stadtkinder neigen dazu, die Natur zu romantisieren. Nicht so Robert Seethaler. Der Wiener, der, 1966 geboren, im Arbeiterviertel Favoriten aufwuchs, kennt die Schrecken und Schönheiten der Natur. Er verklärt sie nicht. "Die Natur steht nur rum", sagte er jetzt im Frankfurter Literaturhaus. Vor ausverkauftem Großen Saal stellte der Spiegel-Bestsellerautor im Gespräch mit Sandra Kegel, Literaturredakteurin dieser Zeitung, seinen jüngsten Roman vor: "Ein ganzes Leben" (Hanser Berlin) auf 150 Seiten, die einfache Geschichte eines Grenzgängers in einem österreichischen Dorf des vorigen Jahrhunderts. Andreas Egger heißt sein Protagonist am Berge, aber: "Der Berg ist kein Held. Der Berg ist der Berg", wehrte sich der Schriftsteller abermals gegen jedwede Romantisierung. Seethaler, der mittlerweile in Berlin lebt, hat keine Sehnsucht nach der Natur: "Ich habe Sehnsucht nach der Stille." Dabei denkt er an jene "Schneestille", die er als Kind am Skihang erlebte, wenn ihn der Schlepplift immer höher zwischen die Tannenhänge zog und auf sich selbst zurückwarf - eine Überforderung für den Jungen nach überstandener Linsenluxation. Diese "Schneestille" hat er in seinem Roman immer wieder beschworen: etwa, wenn Egger den halbtoten Hörnerhannes auf der Kraxe ins Tal trägt und dieser ihm plötzlich hangaufwärts davonhüpft, bis er sich in Schneeschleiern verliert. Oder als der alte Egger seiner jungen Braut in Gestalt der Kalten Frau wiederbegegnet. Marie war in der gemeinsamen Hütte unter einer Lawine erstickt. Aber diese Passage las Seethaler nicht. Er machte das Publikum lieber mit der ersten Begegnung der Liebenden bekannt.
Egger, als Kind von seinem Ziehvater zum Krüppel geschlagen, tritt keineswegs als Opfer auf. Er wächst zu einem starken Mann heran und wehrt sich seiner Haut, sobald er erwachsen ist. Der Krieg verschlägt ihn nach Russland, die Seilbahn im heimischen, aber nicht heimeligen Tal bringt ihn in Lohn und Brot. Er passt sich den Zeitläuften an und überlebt viele. Denn es wird viel gestorben in diesem Buch - "wie immer und überall im Leben", so der Autor. Auch unter spektakulären Umständen. Etwa, wenn ein Waldarbeiter durch einen splitternden Zirbenstamm seinen Arm verliert. Oder wenn Touristen den tiefgefrorenen Hörnerhannes nach Jahrzehnten aus einer Gletscherspalte ziehen. Das sogenannte einfache Leben in den Alpentälern war auch brutal und hatte nichts zu bieten, wonach man sich sehnen könnte.
Warum dann aber dieser Erfolg? "Ich habe keine Ahnung", erwiderte Seethaler seiner staunenden Gesprächspartnerin. Sein Buch ist alles andere als eine Fortsetzung der verbreiteten "Landlust". Es sei auch kein Lob auf die Genügsamkeit. Eigentlich sollte es "Eine einfache Geschichte" heißen. Aber diesen Titel habe schon Peter Esterházy für sich reserviert. Seethaler nennt die Geschichte seines Egger einen "Versuch zu leben" und dabei sich selbst treu zu bleiben. Der Autor glaubt an einen unveränderlichen Kern in jedem Menschen, und sei dieser äußerlich auch noch so beweglich und anpassungsbereit. Mit dem Schreiben ist der gelernte Schauspieler auch zu sich selbst zurückgekehrt: vom grellen Rampenlicht ins abgeschirmte Schreibstübchen, wo er die Stille wiederfand, die er als blindes Kind gewohnt war.
CLAUDIA SCHÜLKE
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