Mit „Ein Haus und seine Hüter“ von Ivy Compton-Burnett legt Die Andere Bibliothek eine spannende Wiederentdeckung vor.
Im Zentrum der Handlung steht die vermögende Familie Edgeworth. Gleich zu Beginn stellt Compton-Burnett alle Familienmitglieder vor, wodurch die Ausgangskonstellation schnell
etabliert ist. Wie für viktorianische Romane typisch nimmt der Hausherr Duncan selbstbewusst den Platz…mehrMit „Ein Haus und seine Hüter“ von Ivy Compton-Burnett legt Die Andere Bibliothek eine spannende Wiederentdeckung vor.
Im Zentrum der Handlung steht die vermögende Familie Edgeworth. Gleich zu Beginn stellt Compton-Burnett alle Familienmitglieder vor, wodurch die Ausgangskonstellation schnell etabliert ist. Wie für viktorianische Romane typisch nimmt der Hausherr Duncan selbstbewusst den Platz des Oberhaupts ein. Er gibt sich gebieterisch gegenüber seiner Frau und seinen noch unverheirateten Töchtern. Das Fehlen eines Sohnes, der als Erbe antreten könnte, schwebt als unausgesprochenes Problem über der Familie. Diese Lücke füllt zunächst der Verwandte Grant aus. Damit entspricht die Familienkonstellation nahezu einem Lehrbuchbeispiel eines viktorianischen Romans, der die Erwartungen der Leser zu Beginn kaum enttäuscht.
Das Anwesen der Familie Edgeworth wird zum Schauplatz für die großen Themen: Tragödien, Intrigen, Hochzeiten, Trennungen, Tod und glückliche Wendungen prägen die Handlung. Besonders geschickt gelingt der Autorin der Aufbau des Romans. Der Einstieg legt nahe, dass die Handlung sich innerhalb weniger Tage abspielen wird – genauer gesagt rund um das Weihnachtsfest, welches zunächst das zentrale Thema bildet. Gespräche und Interaktionen der Figuren kreisen um die Feiertage, um Familie und Tradition. Doch unvermittelt nimmt die Geschichte an Fahrt auf und entwickelt sich in unerwartete Richtungen. Der Roman löst sich bald von der Enge, die die Festtage über die Familie Edgeworth ausgeübt haben, und weitet seinen erzählerischen Horizont.
Ein einschneidendes Ereignis ist der plötzliche Tod von Duncans Frau, der Mutter seiner Töchter. Diese Tragödie bringt das bis dahin geordnete Familiengefüge ins Wanken. Zuvor schien das Leben der Edgeworths in festen Bahnen zu verlaufen; jeder kannte seinen Platz und seine Rolle. Compton-Burnett lässt den Leser annehmen, dass dieser Zustand bereits seit langem besteht, ohne dass es Veränderungen gab oder gar erwartet wurden. Doch nun gerät alles ins Chaos.
Die Reaktionen der Familienmitglieder auf diesen Verlust sind auf den ersten Blick erwartbar: Duncan zeigt sich gefühlskalt und verweigert sich jeglicher Trauer, während seine Töchter Schwierigkeiten haben, ein angemessenes Verhalten zu finden. Doch je tiefer man in die Familienstrukturen eintaucht, desto deutlicher zeigt sich, wie komplex und brüchig das gesamte Gefüge ist. Compton-Burnett nimmt den Leser mit auf eine Reise durch ein zerklüftetes, sich stetig wandelndes Familienleben, in dem zunehmend alles drunter und drüber geht.
In vielerlei Hinsicht wirkt „Ein Haus und seine Hüter“ wie ein moderner Roman. Die Handlung scheint fast an die Seh- und Lesegewohnheiten unserer heutigen Gesellschaft angepasst zu sein. Man hat das Gefühl, die Geschichte könnte ebenso gut aus der Feder eines geübten Drehbuchautors stammen, der seine Zuschauer mit Intrigen, Cliffhangern und emotionalen Spannungen in seinen Bann ziehen will. Unterstützt wird dieser Eindruck durch den eigenwilligen Schreibstil der Autorin: Die Handlung wird fast ausschließlich durch Dialoge vorangetrieben. Beschreibende Erzählungen oder längere Reflexionen sind nahezu Fehlanzeige.
Diese Dialoge zeichnen sich allerdings durch eine bemerkenswerte Eigenart aus: Sie wirken oftmals sprunghaft, absurd und banal. Kaum eine Figur scheint je etwas von wirklichem Gewicht oder von klarer Relevanz zu sagen. Ständig fühlen sich die Charaktere bemüßigt, einen Einwurf zu machen – oft belanglos, oft widersprüchlich, und nicht selten ohne klaren Bezug zur vorherigen Frage oder Antwort. Was zunächst wie ein Defizit erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein geniales Stilmittel. Denn es entsteht eine Dynamik, die ein äußerst treffendes Bild der damaligen Gesellschaft zeichnet. Die Qualität dieser Dialoge und des gesamten Romans offenbart sich somit erst in seiner Gesamtheit.
Auch die Handlung selbst bleibt diesem Muster treu. Viele Motive, die Compton-Burnett aufgreift, hat man in ähnlicher Form bereits bei viktorianischen Erzählern wie Jane Austen oder Frances Hodgson Burnett gesehen. Es wird verlobt und getrennt, ein Todesfall (Mordfall?) sorgt für Aufruhr, und die Familie sieht sich mit Verdächtigungen, Gerüchten und Verleumdungen konfrontiert. Das alles klingt wie der Stoff eines trivialen Unterhaltungsromans oder zeitgenössischen Dramas. Doch trotz dieser vertrauten Elemente gelingt es der Autorin, ihr literarisches Niveau durchweg zu wahren. Das liegt vor allem daran, dass Compton-Burnett die Fäden ihrer Geschichte souverän in der Hand behält.
Insgesamt ist „Ein Haus und seine Hüter“ ein hervorragender Familienroman, der klassische viktorianische Motive mit moderner Erzählkunst verbindet.