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Wilhelm Genazino lobt die Muße im Akkord · Von Hubert Spiegel
Der Schutzumschlag von Wilhelm Genazinos neuem Roman zeigt einen jungen Mann, der mit Hilfe zweier Klappstühle eine vom Regen überflutete Straße überquert. Der rechte Fuß steht auf dem vorderen Stuhl, der linke auf dem hinteren, eine Hand liegt auf der Lehne, die andere hält einen Schirm. Gleich wird er mit beiden Füßen auf dem vorderen Stuhl stehen, dann hinter sich greifen und den zweiten Stuhl vor sich stellen. So kommt er voran, langsam, umständlich, stetig. Allerdings ist an den Stuhlbeinen unschwer zu erkennen, daß das Wasser nicht sehr hoch steht, fünf, sechs Zentimeter vielleicht. Ein Platzregen im Sommer, mehr nicht. Das einfachste wäre es gewesen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und barfuß über die Straße zu gehen. Aber dann wäre eine andere Fotografie entstanden, für die Genazino ein anderes Buch hätte schreiben müssen.
Der wasserscheue Jüngling auf den Stühlen, das ist eine Situation, wie sie der Ich-Erzähler des Romans "Ein Regenschirm für diesen Tag" nie erlebt hätte. Nicht als Artist der Umständlichkeit, dem die Klappstühle unter seinen Sohlen zu Kothurnen werden, und nicht einmal als Beobachter - zu spektakulär, zu extravagant ist die Szene. Die Sensationen, denen der Blick von Genazinos Frankfurter Müßiggänger gilt, sind von bescheidenerer Art: Herbstlaub, das Schaufenster eines Zoogeschäfts, Passanten, Staubflusen in der Wohnung, Gestrüpp in den städtischen Grünanlagen. Was den Stuhltänzer mit Genazinos Helden verbindet, ist etwas anderes: Beiden sind Hilfsmittel Hindernisse und Hindernisse Hilfsmittel. Wie immer wieder eins ins andere unversehens umschlägt, dieses Wechselspiel macht die wichtigste Bewegung eines Buches aus, in dem einer unablässig unterwegs ist, weil er um keinen Preis vom Fleck kommen möchte.
Mit sechsundvierzig Jahren ist der Held des Buches alt genug, eine seiner zahlreichen Maximen auf sich selbst anzuwenden: "Alles, was andauert, muß seltsam werden." Und seltsam, sonderlich, verkauzt ist Genazinos Erzähler in der Tat. Ein ehemaliger Achtundsechziger, der nur noch gelegentlich und widerwillig in die alte Untugend der Gesellschaftskritik zurückfällt und den beschwerlichen Marsch durch die Institutionen zugunsten des interesselosen Streunens durch die Frankfurter Innenstadt verweigert hat. Ein Tagedieb und Habenichts, der Luxusschuhe testet und sich vom Honorar, das er für seine Gutachten erhält, kaum über Wasser halten kann. Ein Lebenskünstler, der Kunstlosigkeit zum Prinzip erhoben hat, ein Reflexionsathlet, der den Müßiggang als Schwerarbeit betreibt: rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche. Ein Workaholic des Nichtstuns und sanftmütiger Bezichtiger alles Bestehenden, der geduldig auf den Tag wartet, "an dem alles was lebt, seine Peinlichkeit eingesteht." In diesem Punkt zumindest ist er seiner Umwelt weit voraus. Immer auf der Suche nach dem erlösenden Wort, das die "Gesamtmerkwürdigkeit" des Lebens auf den Begriff bringen könnte, immer auf der Flucht vor Begegnungen, die ihn aus seinen Tagträumen reißen könnten, gleichzeitig ziellos-emsig damit beschäftigt, einen Ersatz für seine entschwundene Lebensgefährtin Lisa zu finden, ist er sich sicher, daß sein ganzes Leben eine "Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel" ist.
Kokett und sanft erregt vom süßen Gift des Selbstmitleids, sinniert hier ein Verweigerer aller Konventionen über Wahnsinn, Depression, Selbstmord und Persönlichkeitsspaltung. Daß dieses sorgfältig ausbalancierte Wahnsystem überaus stabil ist, macht dabei den ironischen Witz der Sache aus. Ehrfürchtig denkt der Held über die letzten Dinge nach, aber im Sinn hat er nicht die letztgültige Wahrheit, sondern die endgültige Formulierung: Der Flaneur ist immer auch Aphoristiker.
"Ein Regenschirm für diesen Tag" ist ein Buch, das den Lebenszweifel und die Schwermut federleicht serviert: lebensklug, ironisch, sprachlich brillant. Genazinos Held ist das lustwandelnde Paradoxon eines Mannes, der sich unablässig mit sich selber beschäftigt, in die eigenen Probleme aber möglichst nicht hineingezogen werden möchte. Weil er sich selbst stets im Auge behalten möchte, darf er sich nicht zu nahe kommen. Das bestimmt seine Perspektive. Damit die Last, die er sich selbst ist, ihn nicht zu Boden drückt, muß er seine Ansichten, Meinungen und Probleme, kurzum die ganze eigene Person, allzeit in der Schwebe halten. So sehen wir ihn dank Genazinos Beschreibungskunst vor uns: schwebend, scharf umrissen in seiner ganzen Unschärfe, ein letzter, kunstvoll ironisch gebrochener Reflex jener "Neuen Innerlichkeit", die nach 1968 die deutsche Literatur befallen hatte wie eine ansteckende Krankheit, ein Peinlichkeitserreger. Gegen ihn ist Wilhelm Genazino immun.
Wilhelm Genazino: "Ein Regenschirm für diesen Tag." Roman. Hanser Verlag. München und Wien 2001. 174 S., geb., 35,- DM.
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"Phänomenologie des Unscheinbaren" Kristina Maidt-Zinde in 'Süddeutsche Zeitung'
"...ein witziges Buch par Excellenze und dabei so schwerelos und ohne jede Geheimniskrämerei." www.buchinformation.de
"Ein so glückhaft gelungenes Buch, so jenseits aller Moden und literarischen Großmäuligkeit, dass man, am Ende (...) angekommen, gleich wieder von vorn beginnen möchte. Noch einmal durch diese kleine Schule der Wahrnehmung gehen, noch einmal in diesen Alltagsminiaturen und Weltverzauberungsnotaten das Staunen über die Merkwürdigkeiten des Lebens wiedererlernen." Sabine Küchler in 'Der Tagesspiegel'