1913, Niederschlesien. Am Fuße der Berge steht ein Sanatorium für Lungenkrankheiten. Mieczysław, Student aus Lemberg, hofft, dass eine neuartige Behandlung seine Schwindsucht heilen wird. Wie auf Thomas Manns »Zauberberg« sprechen die versammelten Kranken aus ganz Europa unermüdlich miteinander – mit Vorliebe bei einem Gläschen Likör. Ob es Krieg geben werde in Europa, welche Staatsform die beste sei? Und darüber, dass die Frau des Pensionswirts gerade Selbstmord begangen hat. Überhaupt kommt es häufig zu mysteriösen Todesfällen ringsum, so heißt es zumindest. Was Mieczysław nicht weiß: Dunkle Mächte haben es auch auf ihn abgesehen …
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Na ja, Frauen, zu kleines Gehirn
Doch die Rache für die männliche Überheblichkeit folgt auf dem Fuß: "Empusion", der neueste Roman der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, führt in die Zeit und das Setting des "Zauberbergs" von Thomas Mann, erzählt jedoch ganz anderes.
Von Marta Kijowska
Tag für Tag geschehen in der Welt Dinge, die sich nicht erklären lassen mit den Gesetzmäßigkeiten, die wir von den Dingen kennen": Unter diesem Motto, das von Fernando Pessoa stammt, steht die Handlung der "Schauergeschichte" von Olga Tokarczuk, die, wie so oft in ihrem Fall, in Niederschlesien spielt. Diesmal ist es der Kurort Görbersdorf (heute Sokolowsko), der 1855 von dem Arzt Hermann Brehmer gegründet wurde und sich auf Lungenkrankheiten spezialisiert. Unter den Patienten, die aus ganz Europa kommen, ist auch Mieczyslaw Wojnicz, ein Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik aus Lemberg, der hier im September 1913 eintrifft und für die Heilung seiner Tuberkuloseerkrankung die nicht immer angenehmen Behandlungsmethoden und den täglichen Weg zum Kurhaus in Kauf nimmt. Seine Unterkunft befindet sich in einem "Gästehaus für Herren", das einem gewissen Wilhelm Opitz gehört und in dem etliche weitere Patienten wohnen, unter anderem Longinus Lukas, Gymnasiallehrer aus Königsberg, August August, klassischer Philologe und Schriftsteller aus Wien, Walter Frommer, Theosoph und Geheimrat aus Breslau, und Thilo von Hahn, Kunststudent und Kenner der Landschaftsmalerei aus Berlin. Die meisten dieser Herren haben etwas Groteskes an sich. Sie führen endlose Gespräche über Politik, Kultur, Religion, Zivilisation, Revolution und vieles mehr, doch es kommt bei diesen Diskursen sehr wenig heraus, ja sie scheinen sie schnell wieder zu vergessen und fangen am nächsten Tag von vorn an, als ginge es ihnen nur um den Streit als solchen. Dabei trinken sie ständig einen Likör namens Schwärmerei, und zwar so gern und in solchen Mengen, als wäre es ein Lebenselixier. Drei von den Männern, August, Lukas und Frommer, betrachten sich zudem als Wojnicz' Mentoren und konfrontieren ihn folglich immer wieder mit einer solchen "Lawine an Ideen, Argumenten, Gegenargumenten, Zitaten und Anspielungen", dass er oft nicht mehr weiß, wovon sie sprechen (ein Zustand, der sich gelegentlich auch beim Leser einstellt). Sie sind eine Art Pendant zu Settembrini und Naphta aus Thomas Manns "Zauberberg", was natürlich nur einer der Gründe ist, die beiden Romane miteinander zu vergleichen - Zeit, Ort, Atmosphäre und Beginn der Handlung sowie die Merkmale der beiden Hauptfiguren sind von den übrigen die offensichtlichsten. Allerdings gibt es zwischen den Protagonisten auch wesentliche Unterschiede: Hans Castorp besaß eine moralische und intellektuelle Integrität und verlor nie die Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wojnicz' Stärke hingegen liegt paradoxerweise in seiner Unsicherheit, die nicht zuletzt auf ein Geheimnis zurückgeht, das ihm selbst erst am Ende des Romans bewusst wird. Bis dahin muss er die Debatten der Männer über sich ergehen lassen, die sich bei einem Thema erstaunlich einig sind: dem Charakter, der Rolle und der Bedeutung des weiblichen Geschlechts. Sie sind überzeugt, dass die Psyche der Frauen schwächer ist, dass ein nie befriedigter Sexualtrieb sie zu Verrückten macht, dass sie ein kleineres Gehirn und keinen Sinn für Moral haben, dafür aber die Kunst beherrschen, sie, die Männer, zu imitieren, wohinter die Absicht stecke, sie zu verführen und sich von ihnen schwängern zu lassen. Daher wäre die Welt vollkommener, wenn es überhaupt keine Frauen gäbe. Da es sie aber nun mal gibt, sollten sie unentwegt diszipliniert werden. Diese Ansichten mögen bekannt vorkommen: Sie sind allesamt, so Tokarczuks Anmerkung, Paraphrasen von Äußerungen solcher Berühmtheiten wie William S. Burroughs, Charles Darwin, Joseph Conrad, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, August Strindberg oder Sigmund Freud. Und von Otto Weininger, dem Verfasser des wegweisenden Werks "Geschlecht und Charakter" (1903). Doch die Diskutanten kennen auch die Fallen der Männlichkeit. Sie orientieren sich an Vorbildern, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat, und sehen deshalb als die einzig nachahmenswerte Identität eine an, die auf Stärke und Dominanz ausgerichtet ist. Sie wissen aber, dass ein kleiner Fehler genügt, damit sie zerfällt. Daher ihre ständige Angst vor Komplikationen und Chaos und somit vor dem Verlust ihrer Privilegien. Auch Wojnicz wird von ständigen Angstzuständen und Panikattacken geplagt. Er ist von Natur aus unsicher und überempfindlich, was auf die strenge Erziehung seines Vaters zurückzuführen ist: Da der sich für seinen Sohn den Soldatenberuf wünschte, entzog er ihn schnell der Obhut der einzigen Frau, die es im Haushalt gab, und schickte ihn in ein Internat, um ihn anschließend diversen Erziehern und Lehrern zu überlassen. Nun ist der Junge in Görbersdorf, doch auch hier hat er bald Angst, in erster Linie davor, fremden Blicken ausgesetzt zu sein, und geht den meisten Menschen, vor allem seinen polnischen Landsleuten, aus dem Weg. Außerdem merkt er bald, dass der idyllische Charakter des Kurorts trügt und dort etwas Schlimmes passiert. Schon in der ersten Nacht stößt er auf die Leiche der Frau des Gästehausbesitzers, Klara Opitz, die Selbstmord begangen haben soll. Und er hört von einem blutigen Ritual, das sich jeden Herbst im Wald um Görbersdorf abspielt. Laut einer Legende wurden die dortigen Frauen einst der Hexerei bezichtigt. Sie flohen in die Berge, ihr Leid ist aber immer noch da und fordert Rache. So werde jedes Jahr im November, erfährt Wojnicz von Wilhelm Opitz, ein Mann getötet; man schleife ihn in einer Vollmondnacht in den Wald, um ihn dort anzubinden und "dem Blick der Tuntschis auszusetzen". Auf die Frage, was die Tuntschis seien, murmelt Opitz etwas "von der Großen Sache, dem Opfer, das das Dorf rette". Die Wahl sei diesmal auf Thilo, den schwerkranken Jungen aus Berlin, gefallen, der sei aber leider zu früh gestorben. So ahnt Wojnicz, dass er im Endeffekt das Opfer sein könnte. Was ihn zudem beunruhigt, ist der ungeklärte Tod von Klara Opitz. Er schleicht sich immer wieder ins Zimmer der Verstorbenen, und eine Entdeckung, die er dabei beim Blick in einen Spiegel macht, wird sein Leben verändern. Er entdeckt sein androgynes Wesen, was ihn zwar zu einer vollständigen Identifizierung mit der Weiblichkeit verdammt: Als er den Kurort verlässt, nimmt er die Identität von Klara Opitz an. Doch immerhin ist er in der Lage, seine Andersartigkeit und das damit verbundene Gefühl, "vielfach, vielschichtig, vielgestaltig" zu sein, zu genießen. Mit dieser Selbsterkenntnis hängt ein weiteres wichtiges Motiv des Romans zusammen: die Suche nach einer anderen Sichtweise auf die Welt, die Wojnicz nicht zuletzt den Gesprächen mit dem Kunststudenten Thilo verdankt. Dieser sagt zu ihm Dinge wie: "Du musst die richtige Entfernung finden und so lange hinsehen, bis du eine dreidimensionale Bewegung erkennen kannst." Eine solche Art zu sehen solle ihm helfen, die Welt neu zu definieren, zu begreifen, dass das Grundprinzip "entweder - oder" sie nicht wirklich widerspiegele. Und als Wojnicz wissen will, wie die Welt sei, hört er: "Verwischt ist sie, unscharf, flackernd, mal so, dann wieder anders, je nach Blickwinkel." "Empusion" ist also eine Lektion im Erkennen der Vielfalt der Welt und der Komplexität der menschlichen Natur. Sie wird uns von der Autorin unter anderem in Form eines "nichtmenschlichen" Beobachters erteilt, dessen Präsenz Wojnicz deutlich spürt ("alles hier starrte ihn an"). Und zum anderen ist es eine gnadenlose Abrechnung mit dem Patriarchat, was sich einerseits im ironischen Zitieren der Gespräche der Männer und andererseits in einer der Erzählformen manifestiert. Die eine ist klassisch, in der dritten Person, die andere benutzt die erste Person Plural, wobei das "wir" dabei eindeutig weibliche Züge trägt. Görbersdorf ist zwar eine Welt ohne Frauen, es gibt hier aber die "Empusen", wandelbare mythische Göttinnen der Angst, die diesmal die Gestalt allgegenwärtiger weiblicher Energien angenommen haben. Sie bilden eine Art unterirdisches Matriarchat, das unmerklich die Gemeinschaft regiert, und fungieren zudem als allwissende Erzählerinnen. Wer allerdings den Roman deshalb als ein feministisches Manifest lesen will, der wird vermutlich enttäuscht sein, dem werden ein Gegenstück zu den frauenfeindlichen Ergüssen der Männer und ein wenigstens angedeuteter Bezug zur Gegenwart fehlen. Wer aber einfach nur die Erzählkunst der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk genießen möchte, ihre Fähigkeit, eine Realität zu schaffen, in der Platz für eine besondere Dimension der Zeit, für Magie, für Mythen und Legenden, für Randexistenzen jeder Art, für Ökologie und Geschichte ist und der folglich eine einzigartige Aura anhaftet, der wird voll auf seine Kosten kommen. Olga Tokarczuk: "Empusion". Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich 2023. 384 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doch die Rache für die männliche Überheblichkeit folgt auf dem Fuß: "Empusion", der neueste Roman der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, führt in die Zeit und das Setting des "Zauberbergs" von Thomas Mann, erzählt jedoch ganz anderes.
Von Marta Kijowska
Tag für Tag geschehen in der Welt Dinge, die sich nicht erklären lassen mit den Gesetzmäßigkeiten, die wir von den Dingen kennen": Unter diesem Motto, das von Fernando Pessoa stammt, steht die Handlung der "Schauergeschichte" von Olga Tokarczuk, die, wie so oft in ihrem Fall, in Niederschlesien spielt. Diesmal ist es der Kurort Görbersdorf (heute Sokolowsko), der 1855 von dem Arzt Hermann Brehmer gegründet wurde und sich auf Lungenkrankheiten spezialisiert. Unter den Patienten, die aus ganz Europa kommen, ist auch Mieczyslaw Wojnicz, ein Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik aus Lemberg, der hier im September 1913 eintrifft und für die Heilung seiner Tuberkuloseerkrankung die nicht immer angenehmen Behandlungsmethoden und den täglichen Weg zum Kurhaus in Kauf nimmt. Seine Unterkunft befindet sich in einem "Gästehaus für Herren", das einem gewissen Wilhelm Opitz gehört und in dem etliche weitere Patienten wohnen, unter anderem Longinus Lukas, Gymnasiallehrer aus Königsberg, August August, klassischer Philologe und Schriftsteller aus Wien, Walter Frommer, Theosoph und Geheimrat aus Breslau, und Thilo von Hahn, Kunststudent und Kenner der Landschaftsmalerei aus Berlin. Die meisten dieser Herren haben etwas Groteskes an sich. Sie führen endlose Gespräche über Politik, Kultur, Religion, Zivilisation, Revolution und vieles mehr, doch es kommt bei diesen Diskursen sehr wenig heraus, ja sie scheinen sie schnell wieder zu vergessen und fangen am nächsten Tag von vorn an, als ginge es ihnen nur um den Streit als solchen. Dabei trinken sie ständig einen Likör namens Schwärmerei, und zwar so gern und in solchen Mengen, als wäre es ein Lebenselixier. Drei von den Männern, August, Lukas und Frommer, betrachten sich zudem als Wojnicz' Mentoren und konfrontieren ihn folglich immer wieder mit einer solchen "Lawine an Ideen, Argumenten, Gegenargumenten, Zitaten und Anspielungen", dass er oft nicht mehr weiß, wovon sie sprechen (ein Zustand, der sich gelegentlich auch beim Leser einstellt). Sie sind eine Art Pendant zu Settembrini und Naphta aus Thomas Manns "Zauberberg", was natürlich nur einer der Gründe ist, die beiden Romane miteinander zu vergleichen - Zeit, Ort, Atmosphäre und Beginn der Handlung sowie die Merkmale der beiden Hauptfiguren sind von den übrigen die offensichtlichsten. Allerdings gibt es zwischen den Protagonisten auch wesentliche Unterschiede: Hans Castorp besaß eine moralische und intellektuelle Integrität und verlor nie die Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wojnicz' Stärke hingegen liegt paradoxerweise in seiner Unsicherheit, die nicht zuletzt auf ein Geheimnis zurückgeht, das ihm selbst erst am Ende des Romans bewusst wird. Bis dahin muss er die Debatten der Männer über sich ergehen lassen, die sich bei einem Thema erstaunlich einig sind: dem Charakter, der Rolle und der Bedeutung des weiblichen Geschlechts. Sie sind überzeugt, dass die Psyche der Frauen schwächer ist, dass ein nie befriedigter Sexualtrieb sie zu Verrückten macht, dass sie ein kleineres Gehirn und keinen Sinn für Moral haben, dafür aber die Kunst beherrschen, sie, die Männer, zu imitieren, wohinter die Absicht stecke, sie zu verführen und sich von ihnen schwängern zu lassen. Daher wäre die Welt vollkommener, wenn es überhaupt keine Frauen gäbe. Da es sie aber nun mal gibt, sollten sie unentwegt diszipliniert werden. Diese Ansichten mögen bekannt vorkommen: Sie sind allesamt, so Tokarczuks Anmerkung, Paraphrasen von Äußerungen solcher Berühmtheiten wie William S. Burroughs, Charles Darwin, Joseph Conrad, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, August Strindberg oder Sigmund Freud. Und von Otto Weininger, dem Verfasser des wegweisenden Werks "Geschlecht und Charakter" (1903). Doch die Diskutanten kennen auch die Fallen der Männlichkeit. Sie orientieren sich an Vorbildern, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat, und sehen deshalb als die einzig nachahmenswerte Identität eine an, die auf Stärke und Dominanz ausgerichtet ist. Sie wissen aber, dass ein kleiner Fehler genügt, damit sie zerfällt. Daher ihre ständige Angst vor Komplikationen und Chaos und somit vor dem Verlust ihrer Privilegien. Auch Wojnicz wird von ständigen Angstzuständen und Panikattacken geplagt. Er ist von Natur aus unsicher und überempfindlich, was auf die strenge Erziehung seines Vaters zurückzuführen ist: Da der sich für seinen Sohn den Soldatenberuf wünschte, entzog er ihn schnell der Obhut der einzigen Frau, die es im Haushalt gab, und schickte ihn in ein Internat, um ihn anschließend diversen Erziehern und Lehrern zu überlassen. Nun ist der Junge in Görbersdorf, doch auch hier hat er bald Angst, in erster Linie davor, fremden Blicken ausgesetzt zu sein, und geht den meisten Menschen, vor allem seinen polnischen Landsleuten, aus dem Weg. Außerdem merkt er bald, dass der idyllische Charakter des Kurorts trügt und dort etwas Schlimmes passiert. Schon in der ersten Nacht stößt er auf die Leiche der Frau des Gästehausbesitzers, Klara Opitz, die Selbstmord begangen haben soll. Und er hört von einem blutigen Ritual, das sich jeden Herbst im Wald um Görbersdorf abspielt. Laut einer Legende wurden die dortigen Frauen einst der Hexerei bezichtigt. Sie flohen in die Berge, ihr Leid ist aber immer noch da und fordert Rache. So werde jedes Jahr im November, erfährt Wojnicz von Wilhelm Opitz, ein Mann getötet; man schleife ihn in einer Vollmondnacht in den Wald, um ihn dort anzubinden und "dem Blick der Tuntschis auszusetzen". Auf die Frage, was die Tuntschis seien, murmelt Opitz etwas "von der Großen Sache, dem Opfer, das das Dorf rette". Die Wahl sei diesmal auf Thilo, den schwerkranken Jungen aus Berlin, gefallen, der sei aber leider zu früh gestorben. So ahnt Wojnicz, dass er im Endeffekt das Opfer sein könnte. Was ihn zudem beunruhigt, ist der ungeklärte Tod von Klara Opitz. Er schleicht sich immer wieder ins Zimmer der Verstorbenen, und eine Entdeckung, die er dabei beim Blick in einen Spiegel macht, wird sein Leben verändern. Er entdeckt sein androgynes Wesen, was ihn zwar zu einer vollständigen Identifizierung mit der Weiblichkeit verdammt: Als er den Kurort verlässt, nimmt er die Identität von Klara Opitz an. Doch immerhin ist er in der Lage, seine Andersartigkeit und das damit verbundene Gefühl, "vielfach, vielschichtig, vielgestaltig" zu sein, zu genießen. Mit dieser Selbsterkenntnis hängt ein weiteres wichtiges Motiv des Romans zusammen: die Suche nach einer anderen Sichtweise auf die Welt, die Wojnicz nicht zuletzt den Gesprächen mit dem Kunststudenten Thilo verdankt. Dieser sagt zu ihm Dinge wie: "Du musst die richtige Entfernung finden und so lange hinsehen, bis du eine dreidimensionale Bewegung erkennen kannst." Eine solche Art zu sehen solle ihm helfen, die Welt neu zu definieren, zu begreifen, dass das Grundprinzip "entweder - oder" sie nicht wirklich widerspiegele. Und als Wojnicz wissen will, wie die Welt sei, hört er: "Verwischt ist sie, unscharf, flackernd, mal so, dann wieder anders, je nach Blickwinkel." "Empusion" ist also eine Lektion im Erkennen der Vielfalt der Welt und der Komplexität der menschlichen Natur. Sie wird uns von der Autorin unter anderem in Form eines "nichtmenschlichen" Beobachters erteilt, dessen Präsenz Wojnicz deutlich spürt ("alles hier starrte ihn an"). Und zum anderen ist es eine gnadenlose Abrechnung mit dem Patriarchat, was sich einerseits im ironischen Zitieren der Gespräche der Männer und andererseits in einer der Erzählformen manifestiert. Die eine ist klassisch, in der dritten Person, die andere benutzt die erste Person Plural, wobei das "wir" dabei eindeutig weibliche Züge trägt. Görbersdorf ist zwar eine Welt ohne Frauen, es gibt hier aber die "Empusen", wandelbare mythische Göttinnen der Angst, die diesmal die Gestalt allgegenwärtiger weiblicher Energien angenommen haben. Sie bilden eine Art unterirdisches Matriarchat, das unmerklich die Gemeinschaft regiert, und fungieren zudem als allwissende Erzählerinnen. Wer allerdings den Roman deshalb als ein feministisches Manifest lesen will, der wird vermutlich enttäuscht sein, dem werden ein Gegenstück zu den frauenfeindlichen Ergüssen der Männer und ein wenigstens angedeuteter Bezug zur Gegenwart fehlen. Wer aber einfach nur die Erzählkunst der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk genießen möchte, ihre Fähigkeit, eine Realität zu schaffen, in der Platz für eine besondere Dimension der Zeit, für Magie, für Mythen und Legenden, für Randexistenzen jeder Art, für Ökologie und Geschichte ist und der folglich eine einzigartige Aura anhaftet, der wird voll auf seine Kosten kommen. Olga Tokarczuk: "Empusion". Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich 2023. 384 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2023Das unzähmbare Herz
In Olga Tokarczuks Roman „Empusion“ begibt sich ein sexuell fluides Medium
in einen berühmten schlesischen Luftkurort. Klingt nach Thomas Manns „Zauberberg“? Durchaus kein Zufall
VON HUBERT WINKELS
Das Ursprüngliche und das Rationale, der undurchdringliche Wald und der aufgeräumte Wintergarten, das Verwischte und das Polierte, das Androgyne und das Unterschiedene, das Ambivalente und das Dominante, die Götter und die Ingenieure, der Hase und der Jäger, die Krankheit und der Heiler, das Feuer des Fiebers und die Kaltwasserkur: Diese Reihe binärer Begriffe reicht, um ans Maschinenherz der polnischen Erzählerin Olga Tokarczuk vorzudringen. Sie umreißt einen theoretischen Zusammenhang und führt zugleich ins thematische Zentrum des neuen Romans der Literaturnobelpreisträgerin: das Krankenhaus als das eigentlich menschliche Habitat, prekäres Leben unter Aufsicht. „Empusion“ ist ein Sanatoriumsroman wie Thomas Manns „Zauberberg“, und er verdient diesen märchenhaften Titel ebenso wie sein Davoser Vorbild.
Wir Enthusiasten flexibler Geschlechts- und Lebenswelten ahnen mit Spannung, dass es bei Olga Tokarczuk um die starken Energien gehen wird, die diese Spaltung in Oppositionen und deren Überwindung freisetzen kann. Und wir ahnen die Schwierigkeiten, die das im Erzählvorgang mit sich bringt, also deutlich vom Undeutlichen zu handeln, wenn er nicht ins lyrische Zwischenreich abdriftet. Diesen Weg geht Olga Tokarczuk nicht.
Sie erzählt zeitlich, räumlich, szenisch anschaulich und konkret vom Unheimlichen, das ja per Definition das Unanschauliche ist. So heißt es gleich im ersten Satz des Romans: „Die Rauchwolken der Dampflokomotive, die über den Bahnsteig quellen, verdecken die Sicht. Man muss durch sie hindurchschauen, sich einen Moment lang von dem grauen Dunst blenden lassen, bis der Blick nach dieser Prüfung sich geschärft hat, durchdringend geworden ist, allsehend.“
Voilà, möchte man mit der anzüglichen Madame Chauchat vom Davoser Zauberberg sagen, da haben wir ja schon die ganze Romanentwicklung in einem Satz. In „Empusion“ blickt man nämlich lange nicht durch, am Ende sieht man alles. Und dazwischen? Verliert und vertieft sich der Blick in Rauch und Dunst; erkennt Umrisse, verschwimmende Flecken, Blätterhaufen und Fichtennadelnester, Keime, Sprossen und Insekten, Moos, Humus, Pilze und was der rhizomatischen Undeutlichkeiten sich selbst überlassener Natur mehr sind.
Doch schon der zweite Satz des Romans bietet das ordnungsgefügte Gegenstück zum Undurchschaubaren: „Jetzt erkennen wir die Bahnsteigplatten, Quadrate, zwischen denen die Halme kärglicher Pflänzchen wachsen – eine Fläche, die um jeden Preis ihre Ordnung und Symmetrie bewahren möchte.“ Der Roman handelt handelt wesentlich von einer anderen Lesart der Welt, von einem zweiten und dritten Blick, vom Entdecken der hintergründig wesenden Kräfte, der Geister und Gewalten und deren nur für Menschenaugen ungenauer Repräsentation in der sichtbaren Welt. Noch sind wir bei den Quadraten auf dem Bahnsteig, einer geometrischen Ordnung, die von den Fugen und Ritzen abhängt, ohne die sie nicht wäre. Durch eben diese Raum-Teiler, durch Spalten, Höhlen und Löcher kommen und verschwinden jene ungestalten Kräfte wieder, die wie Dschinns im Rauch und Dunst den Bahnhof verschleiern. Wer sind diese Kräfte, die romanlang durch Kamine, undichte Kellertüren und Rauchschwaden in Häuser und Seelen dringen? Wer oder was verschwindet da ameisenhaft zwischen Bodenplatten, undichten Windfängen und in Mauselöchern? Wer war und wird zu Staub und Wind?
Wir begreifen: Diese nebligen Dämonen bilden die Erzählstimme des Romans, eher eine Instanz im Plural, in der Diversität. Insofern sind sie immer anwesend, doch ansichtig werden wir und das Personal des Romans ihrer bestenfalls im Modus erschreckender Epiphanie oder klandestinen Verschwindens. Der unfassbar wandelbare Erzähler ist jenes wilde, unzähmbare Herz in aller Natur, das schwer zu erkennen, aber überall am Werk ist: im wilden schlesischen Wald, der den Kurort Görbersdorf umfasst, im Körperinneren der lungenkranken Kurgäste, in ihren beschädigten Seelen, in den den fettigen Speisen, den aufgesetzten Gesten und kurortmodischen Kleidungsstücken, vorzüglich Rüschen und Bänder, Hüte und Schuhe. Womit wir beim dritten Satz des Romans angelangt sind:
„Und sogleich erscheint ein linker Schuh, aus braunem Leder, nicht mehr ganz neu, der rechte gesellt sich dazu; er scheint noch etwas ärger mitgenommen – die Spitze abgewetzt, an einigen Stellen sind helle Flecken zu sehen. Einen Augenblick stehen die Schuhe reglos, dann bewegt sich der linke nach vorn.“
Der Neuankömmling im Lederschuh am Bahnhof ist ein junger Pole aus Lemberg namens Mieczyslaw Wojnicz. Eine Pferdekutsche bringt ihn in den harmlos wirkenden Luftkurort Görbersdorf, der gern in einem Atemzug mit Davos und Meran genannt wird, ins dortige „Gästehaus für Herren“. Das Personal des kleinen Kurhauses ist mit viel Freude an der Travestie der schwadronierenden Herrenriege in Thomas Manns Davoser Berghof entfaltet. Neben zugeknöpften Dunkelmännern und an die Zauberberg-Figuren Settembrini und Naphta erinnernde Diskursakrobaten, die sich nur in der evolutionären Minderwertigkeit der Frauen einig sind, ist auch der meist fiebrig-bettlägerige Ephebe Thilo von Hahn dabei. Bald zeigt sich, dass der unscheinbare Held Wojnicz ebenfalls zu den unmännlichen Träumern gehört, die leise Berührungen der kräftigen Zigarre vorziehen und das Glattstreichen eines herbstlichen Ahornblatts dem Genuss von gulaschförmigen toten Tieren.
Beim ersten Plausch in der Kurvilla wird er jedoch einiger Bänder, Röcke und Schuhe gewahr, die wie autonome Flecken durch die Türen huschen. Am Abend erblickt er dann in der abgelegenen Dachkammer eine auf dem Esstisch aufgebahrte, eingehüllte Leiche. Es stellt sich heraus, dass es die Ehefrau des derben Hausverwalters Wilhelm Opitz ist, die sich angeblich erhängt hat. Doch in der Kemenate nebenan entdeckt er einen mit starken Riemen versehenen Folterstuhl. Nicht umsonst lautet die etwas überkandidelte Gattungsangabe zu „Empusion“: „Eine natur(un)kundliche Schauergeschichte“. Bald schon wird der unbedarfte Wojnicz im Schrank jener toten Klara Opitz hocken, sich in ihren Pelzen verlieren und ihre wohlgeformten Schnürschuhe anhimmeln.
Wojnicz, der einen Blick auf seinen Körper seit je verbietet, entkleidet sich selbst in der ärztlichen Praxis des allwissenden Dr. Semperweiss nicht völlig. Wir Leser werden hingegen mit Hinweisen auf seinen Hermaphroditismus überschüttet. Der arme Kerl, der keiner ist, wird als genderfluides Medium romantechnisch zum Passepartout. Er ist in seiner (oder ihrer?) körperlichen Gestalt, in seiner seelischen Natur zum Überwinder jener geschiedenen Begriffs- und Lebenswelten prädestiniert, und kognitiv zur Auflösung aller logischen Operationen in Binaritäten.
Diese mythische Teilhabe am Leben der Natur schützt ihn vor Wut und Rache des von Köhlern und Dämonen behausten Dunkelwaldes, der sich in jedem Jahr zum Martinstag ein Menschenopfer holt, um es in Stücke zu reißen, wie einst, bei Homer, die hexenhaften Mänaden im Gefolge des Dionysos. Es ist nicht ohne Witz, dass dieser Glieder-Zerreißende in „Empusion“ als Feigling erscheint, und zwar in einem Auszug aus Aristophanes‘ Lustspiel „Die Frösche“. Bei einem Waldspaziergang der Patienten-Philosophen rezitiert ein Philologe den antiken Text: Dionysos beim Spaziergang mit seinen Diener Xanthis, der erschreckt ausruft:
- ‚Jetzt seh’ ich auch, beim Zeus, ein schrecklich grosses Thier.
- Wie ist’s denn?
- Furchtbar. In alle Gestalten verwandelt sich’s; Jetzt ist’s ein Ochse, jetzt ein Esel, jetzt ein Weib. Ein wunderschönes.
- Wo denn nur? Ich gehe drauf.
- Jetzt ist es schon kein Weib mehr; jetzt ist’s wieder Hund.
- ’S ist gar wohl die Empuse?
- Ja von Feuer glänzt Die ganze Fratze.
- Und das eine Bein ist Erz?
- Ja beim Poseidon und das andre Eselmist. Nun weißt Du’s.‘
Aristophanes’ Empusen-Auftritt gilt als einer der frühesten Erscheinung der Hexe im Abendland. Der Ausdruck „Empusion“ hingegen ist ein Tokarczukscher Neologismus. In ihn ist sicher auch die Empusa eingegangen, eine Insektenart, zu der Heuschrecke und Gottesanbeterin gehören, monströse Meisterinnen der Mimikry, nicht zu unterscheiden von dem Geäst, in dem sie sich verbergen. Wie alle natürlichen Erscheinungen in Tokarczuks Görbersdorf. „Empusion“ wäre dann so etwas wie das Ereignis des aufblitzenden Sich-Entziehens, der Vorgang des ewigen Erschreckens und Versteckens. Die Allnatur als Erzählerfigur begegnet hier einer grausamen Version ihrer selbst. Eine intrikate Konstruktion der Autorin, weil sie ja einerseits ein von innen und außen bedrohtes, dennoch zivil anmutendes gesellschaftliches Leben, andererseits aber dessen Aushöhlung durch dunkel-magische Naturkräfte erzählt.
Der Roman hält aus erzähllogischen Gründen an der rationalen Form der Darstellung fest, er gleitet nicht hinüber ins ganz andere, in die „Sympathie mit dem Tode“, wie es im „Zauberberg“ heißt. Der Roman „Empusion“ entfacht den Sturm der unterdrückten Natur nicht, den er beschreibt, er verwandelt ihn in ein symbolisches Geschehen, eine kaum bewegte Allegorie. Symbolismus als der Geist der Zeit, nicht unserer allerdings, sondern des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Der kollektive Ausgang aus der Zweideutigkeit des Daseins ist einmal mehr der Erste Weltkrieg. Er droht hinter allen Grenzen des Romans. Der individuelle Fluchtweg des Helden aber ist ein Märchen aus unserer heutigen Zeit, nur schwach verkleidet im historischen Ambiente. Nach einem fiebrigen Kuss des sterbenden Freundes Thilo betritt Mieczyslaw Wojnicz am Ende des Romans die Kammer der ermordeten Hausherrin und tritt aus ihr wieder heraus als Klara Opitz. Mit ihren Schuhen und Bändern und dem floralen Prachthut einer immerzu aus der Ferne angehimmelten schönen Fremden verlässt Wojnicz Görbersdorf. Drei Monate war er da, genauso lange wie Hans Castorp im „Zauberberg“ zu bleiben dachte (es wurden sieben Jahre). Es ist ein Bild wie aus einem Historienfilm über Schönheit und Morbidität der Jahrhundertwende; der Schrecken ästhetisch gebannt in der distinguierten Form und moralisch pariert im behutsamen Umgang mit der Natur, auch der eigenen sexuellen. So verlassen wir die bösen Dämonen Görbersdorfs und die guten Dämonen der ambigen jungen Göttin Mieczyslaw/Klara und nehmen Abschied von einem rätselklug gebauten, ein wenig altmodischen, aber unterhaltsamen Roman.
Der Held ist einer,
der leise Töne
der kräftigen Zigarre vorzieht
Ihre Wortschöpfung „Empusion“
könnte der Vorgang des
Schreckens und Versteckens sein
Im Jahr 2019 erhielt die polnische Autorin Olga Tokarczuk den Nobelpreis für Literatur. „Empusion“ ist ihr erster Roman seitdem.
Foto: Lukasz Giza
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In Olga Tokarczuks Roman „Empusion“ begibt sich ein sexuell fluides Medium
in einen berühmten schlesischen Luftkurort. Klingt nach Thomas Manns „Zauberberg“? Durchaus kein Zufall
VON HUBERT WINKELS
Das Ursprüngliche und das Rationale, der undurchdringliche Wald und der aufgeräumte Wintergarten, das Verwischte und das Polierte, das Androgyne und das Unterschiedene, das Ambivalente und das Dominante, die Götter und die Ingenieure, der Hase und der Jäger, die Krankheit und der Heiler, das Feuer des Fiebers und die Kaltwasserkur: Diese Reihe binärer Begriffe reicht, um ans Maschinenherz der polnischen Erzählerin Olga Tokarczuk vorzudringen. Sie umreißt einen theoretischen Zusammenhang und führt zugleich ins thematische Zentrum des neuen Romans der Literaturnobelpreisträgerin: das Krankenhaus als das eigentlich menschliche Habitat, prekäres Leben unter Aufsicht. „Empusion“ ist ein Sanatoriumsroman wie Thomas Manns „Zauberberg“, und er verdient diesen märchenhaften Titel ebenso wie sein Davoser Vorbild.
Wir Enthusiasten flexibler Geschlechts- und Lebenswelten ahnen mit Spannung, dass es bei Olga Tokarczuk um die starken Energien gehen wird, die diese Spaltung in Oppositionen und deren Überwindung freisetzen kann. Und wir ahnen die Schwierigkeiten, die das im Erzählvorgang mit sich bringt, also deutlich vom Undeutlichen zu handeln, wenn er nicht ins lyrische Zwischenreich abdriftet. Diesen Weg geht Olga Tokarczuk nicht.
Sie erzählt zeitlich, räumlich, szenisch anschaulich und konkret vom Unheimlichen, das ja per Definition das Unanschauliche ist. So heißt es gleich im ersten Satz des Romans: „Die Rauchwolken der Dampflokomotive, die über den Bahnsteig quellen, verdecken die Sicht. Man muss durch sie hindurchschauen, sich einen Moment lang von dem grauen Dunst blenden lassen, bis der Blick nach dieser Prüfung sich geschärft hat, durchdringend geworden ist, allsehend.“
Voilà, möchte man mit der anzüglichen Madame Chauchat vom Davoser Zauberberg sagen, da haben wir ja schon die ganze Romanentwicklung in einem Satz. In „Empusion“ blickt man nämlich lange nicht durch, am Ende sieht man alles. Und dazwischen? Verliert und vertieft sich der Blick in Rauch und Dunst; erkennt Umrisse, verschwimmende Flecken, Blätterhaufen und Fichtennadelnester, Keime, Sprossen und Insekten, Moos, Humus, Pilze und was der rhizomatischen Undeutlichkeiten sich selbst überlassener Natur mehr sind.
Doch schon der zweite Satz des Romans bietet das ordnungsgefügte Gegenstück zum Undurchschaubaren: „Jetzt erkennen wir die Bahnsteigplatten, Quadrate, zwischen denen die Halme kärglicher Pflänzchen wachsen – eine Fläche, die um jeden Preis ihre Ordnung und Symmetrie bewahren möchte.“ Der Roman handelt handelt wesentlich von einer anderen Lesart der Welt, von einem zweiten und dritten Blick, vom Entdecken der hintergründig wesenden Kräfte, der Geister und Gewalten und deren nur für Menschenaugen ungenauer Repräsentation in der sichtbaren Welt. Noch sind wir bei den Quadraten auf dem Bahnsteig, einer geometrischen Ordnung, die von den Fugen und Ritzen abhängt, ohne die sie nicht wäre. Durch eben diese Raum-Teiler, durch Spalten, Höhlen und Löcher kommen und verschwinden jene ungestalten Kräfte wieder, die wie Dschinns im Rauch und Dunst den Bahnhof verschleiern. Wer sind diese Kräfte, die romanlang durch Kamine, undichte Kellertüren und Rauchschwaden in Häuser und Seelen dringen? Wer oder was verschwindet da ameisenhaft zwischen Bodenplatten, undichten Windfängen und in Mauselöchern? Wer war und wird zu Staub und Wind?
Wir begreifen: Diese nebligen Dämonen bilden die Erzählstimme des Romans, eher eine Instanz im Plural, in der Diversität. Insofern sind sie immer anwesend, doch ansichtig werden wir und das Personal des Romans ihrer bestenfalls im Modus erschreckender Epiphanie oder klandestinen Verschwindens. Der unfassbar wandelbare Erzähler ist jenes wilde, unzähmbare Herz in aller Natur, das schwer zu erkennen, aber überall am Werk ist: im wilden schlesischen Wald, der den Kurort Görbersdorf umfasst, im Körperinneren der lungenkranken Kurgäste, in ihren beschädigten Seelen, in den den fettigen Speisen, den aufgesetzten Gesten und kurortmodischen Kleidungsstücken, vorzüglich Rüschen und Bänder, Hüte und Schuhe. Womit wir beim dritten Satz des Romans angelangt sind:
„Und sogleich erscheint ein linker Schuh, aus braunem Leder, nicht mehr ganz neu, der rechte gesellt sich dazu; er scheint noch etwas ärger mitgenommen – die Spitze abgewetzt, an einigen Stellen sind helle Flecken zu sehen. Einen Augenblick stehen die Schuhe reglos, dann bewegt sich der linke nach vorn.“
Der Neuankömmling im Lederschuh am Bahnhof ist ein junger Pole aus Lemberg namens Mieczyslaw Wojnicz. Eine Pferdekutsche bringt ihn in den harmlos wirkenden Luftkurort Görbersdorf, der gern in einem Atemzug mit Davos und Meran genannt wird, ins dortige „Gästehaus für Herren“. Das Personal des kleinen Kurhauses ist mit viel Freude an der Travestie der schwadronierenden Herrenriege in Thomas Manns Davoser Berghof entfaltet. Neben zugeknöpften Dunkelmännern und an die Zauberberg-Figuren Settembrini und Naphta erinnernde Diskursakrobaten, die sich nur in der evolutionären Minderwertigkeit der Frauen einig sind, ist auch der meist fiebrig-bettlägerige Ephebe Thilo von Hahn dabei. Bald zeigt sich, dass der unscheinbare Held Wojnicz ebenfalls zu den unmännlichen Träumern gehört, die leise Berührungen der kräftigen Zigarre vorziehen und das Glattstreichen eines herbstlichen Ahornblatts dem Genuss von gulaschförmigen toten Tieren.
Beim ersten Plausch in der Kurvilla wird er jedoch einiger Bänder, Röcke und Schuhe gewahr, die wie autonome Flecken durch die Türen huschen. Am Abend erblickt er dann in der abgelegenen Dachkammer eine auf dem Esstisch aufgebahrte, eingehüllte Leiche. Es stellt sich heraus, dass es die Ehefrau des derben Hausverwalters Wilhelm Opitz ist, die sich angeblich erhängt hat. Doch in der Kemenate nebenan entdeckt er einen mit starken Riemen versehenen Folterstuhl. Nicht umsonst lautet die etwas überkandidelte Gattungsangabe zu „Empusion“: „Eine natur(un)kundliche Schauergeschichte“. Bald schon wird der unbedarfte Wojnicz im Schrank jener toten Klara Opitz hocken, sich in ihren Pelzen verlieren und ihre wohlgeformten Schnürschuhe anhimmeln.
Wojnicz, der einen Blick auf seinen Körper seit je verbietet, entkleidet sich selbst in der ärztlichen Praxis des allwissenden Dr. Semperweiss nicht völlig. Wir Leser werden hingegen mit Hinweisen auf seinen Hermaphroditismus überschüttet. Der arme Kerl, der keiner ist, wird als genderfluides Medium romantechnisch zum Passepartout. Er ist in seiner (oder ihrer?) körperlichen Gestalt, in seiner seelischen Natur zum Überwinder jener geschiedenen Begriffs- und Lebenswelten prädestiniert, und kognitiv zur Auflösung aller logischen Operationen in Binaritäten.
Diese mythische Teilhabe am Leben der Natur schützt ihn vor Wut und Rache des von Köhlern und Dämonen behausten Dunkelwaldes, der sich in jedem Jahr zum Martinstag ein Menschenopfer holt, um es in Stücke zu reißen, wie einst, bei Homer, die hexenhaften Mänaden im Gefolge des Dionysos. Es ist nicht ohne Witz, dass dieser Glieder-Zerreißende in „Empusion“ als Feigling erscheint, und zwar in einem Auszug aus Aristophanes‘ Lustspiel „Die Frösche“. Bei einem Waldspaziergang der Patienten-Philosophen rezitiert ein Philologe den antiken Text: Dionysos beim Spaziergang mit seinen Diener Xanthis, der erschreckt ausruft:
- ‚Jetzt seh’ ich auch, beim Zeus, ein schrecklich grosses Thier.
- Wie ist’s denn?
- Furchtbar. In alle Gestalten verwandelt sich’s; Jetzt ist’s ein Ochse, jetzt ein Esel, jetzt ein Weib. Ein wunderschönes.
- Wo denn nur? Ich gehe drauf.
- Jetzt ist es schon kein Weib mehr; jetzt ist’s wieder Hund.
- ’S ist gar wohl die Empuse?
- Ja von Feuer glänzt Die ganze Fratze.
- Und das eine Bein ist Erz?
- Ja beim Poseidon und das andre Eselmist. Nun weißt Du’s.‘
Aristophanes’ Empusen-Auftritt gilt als einer der frühesten Erscheinung der Hexe im Abendland. Der Ausdruck „Empusion“ hingegen ist ein Tokarczukscher Neologismus. In ihn ist sicher auch die Empusa eingegangen, eine Insektenart, zu der Heuschrecke und Gottesanbeterin gehören, monströse Meisterinnen der Mimikry, nicht zu unterscheiden von dem Geäst, in dem sie sich verbergen. Wie alle natürlichen Erscheinungen in Tokarczuks Görbersdorf. „Empusion“ wäre dann so etwas wie das Ereignis des aufblitzenden Sich-Entziehens, der Vorgang des ewigen Erschreckens und Versteckens. Die Allnatur als Erzählerfigur begegnet hier einer grausamen Version ihrer selbst. Eine intrikate Konstruktion der Autorin, weil sie ja einerseits ein von innen und außen bedrohtes, dennoch zivil anmutendes gesellschaftliches Leben, andererseits aber dessen Aushöhlung durch dunkel-magische Naturkräfte erzählt.
Der Roman hält aus erzähllogischen Gründen an der rationalen Form der Darstellung fest, er gleitet nicht hinüber ins ganz andere, in die „Sympathie mit dem Tode“, wie es im „Zauberberg“ heißt. Der Roman „Empusion“ entfacht den Sturm der unterdrückten Natur nicht, den er beschreibt, er verwandelt ihn in ein symbolisches Geschehen, eine kaum bewegte Allegorie. Symbolismus als der Geist der Zeit, nicht unserer allerdings, sondern des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Der kollektive Ausgang aus der Zweideutigkeit des Daseins ist einmal mehr der Erste Weltkrieg. Er droht hinter allen Grenzen des Romans. Der individuelle Fluchtweg des Helden aber ist ein Märchen aus unserer heutigen Zeit, nur schwach verkleidet im historischen Ambiente. Nach einem fiebrigen Kuss des sterbenden Freundes Thilo betritt Mieczyslaw Wojnicz am Ende des Romans die Kammer der ermordeten Hausherrin und tritt aus ihr wieder heraus als Klara Opitz. Mit ihren Schuhen und Bändern und dem floralen Prachthut einer immerzu aus der Ferne angehimmelten schönen Fremden verlässt Wojnicz Görbersdorf. Drei Monate war er da, genauso lange wie Hans Castorp im „Zauberberg“ zu bleiben dachte (es wurden sieben Jahre). Es ist ein Bild wie aus einem Historienfilm über Schönheit und Morbidität der Jahrhundertwende; der Schrecken ästhetisch gebannt in der distinguierten Form und moralisch pariert im behutsamen Umgang mit der Natur, auch der eigenen sexuellen. So verlassen wir die bösen Dämonen Görbersdorfs und die guten Dämonen der ambigen jungen Göttin Mieczyslaw/Klara und nehmen Abschied von einem rätselklug gebauten, ein wenig altmodischen, aber unterhaltsamen Roman.
Der Held ist einer,
der leise Töne
der kräftigen Zigarre vorzieht
Ihre Wortschöpfung „Empusion“
könnte der Vorgang des
Schreckens und Versteckens sein
Im Jahr 2019 erhielt die polnische Autorin Olga Tokarczuk den Nobelpreis für Literatur. „Empusion“ ist ihr erster Roman seitdem.
Foto: Lukasz Giza
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»Eine kluge, wunderschön geschriebene, ungewöhnliche Geschichte.« Forbes Magazine »Intelligent, spöttisch, feministisch, proökologisch.« Wysokie Obcasy