Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D ausgeliefert werden.
© BÜCHERmagazin, Lore Kleinert
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Perfekte Technik: Andreas Pflüger punktet mit einer gehandicapten Ermittlerin
Herausforderungen der besonderen Art gehören berufsbedingt zum Leben von Jenny Aaron. Die härteste Prüfung erlebt die Ermittlerin bei einem Einsatz in Barcelona: Dort soll sie sich mit einem gewissen Holm treffen, der ein geraubtes Chagall-Gemälde verkaufen will. Doch das Treffen erweist sich als Hinterhalt, es kommt zu einem Blutbad, in dessen Verlauf mehrere Polizisten sterben. Zwar kann die verletzte Jenny Aaron in letzter Sekunde flüchten. Doch lässt sie nicht nur ihren am Boden liegenden Kollegen zurück. Sie verliert, von einer Kugel am Kopf getroffen, auch ihr Augenlicht. Seither ist Jenny Aaron, die akribische Spurenleserin und einstige Berühmtheit jener Berliner Sondereinheit, die so besonders ist, dass sie nicht einmal einen Namen trägt, blind.
Das hat es so noch nicht gegeben. Selbst im Fernsehen, wo man auf kaum eine Profilvariante bei Kommissaren verzichtet, ist die Idee einer blinden Kommissarin bisher über den Versuch nie hinausgekommen. Tatsächlich gehören die Beschreibungen eines extremen Lebens in der Dunkelheit zum Interessantesten in diesem an Erschießungen, Entführungen und Verfolgungsjagden nicht eben armen Thriller von Andreas Pflüger. Zu erblinden, das sei so endgültig wie der Tod eines geliebten Menschen, heißt es an einer Stelle. Minutiös beschreibt der Autor zunächst die Stadien der Angst, die seine Heldin nach ihrer Erblindung durchläuft, ehe sie beschließt, ihr Schicksal zu akzeptieren.
Angeleitet von ihrem Vater, einem ehemaligen GSG-9-Kämpfer, der bei der Entführung der Lufthansa-Maschine in Mogadischu als Erster das Flugzeug stürmte, lernt sie buchstäblich alles neu. Ganz so, wie es in Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" heißt, dass jeder Mensch früher oder später eine Geschichte erfinden müsse, die er für sein Leben halte, muss auch die eiserne Aaron ein neues Leben finden, um nicht ausgelöscht zu werden.
Seither ist sie nicht nur in asiatischem Kampfsport versiert, sondern kommt im Bundeskriminalamt Wiesbaden, wohin sie sich nach der Tragödie von Barcelona versetzen ließ, immer dann als Befragerin zum Einsatz, wenn die Kollegen in Verhören nicht mehr weiterkommen. Die Blinde hat ihre restlichen Sinne derart geschärft, dass sie anhand kleinster Regungen wahrnehmen kann, was den sendenden Kollegen, durch den Augenschein abgelenkt, oft genug entgeht.
Andreas Pflüger hat für seinen Thriller gründlich recherchiert. Die verblüffenden Tricks und Kniffe, derer sich Jenny Aaron bedient, um sich ihre Umwelt zu erschließen, finden so auch in der Wirklichkeit Anwendung. Dass sie Angstschweiß ebenso riecht wie sie Blumen anhand ihres Dufts erkennt, versteht sich von selbst. Aber Jenny Aaron trägt anders als früher inzwischen auch nur noch Stöckelschuhe, um anhand des Klackens der Absätze die Beschaffenheit des Bodens zu erkennen. Und dass sie unentwegt mit der Zunge schnalzt, hält nur ihre sehende Umwelt für eine Marotte. In Wahrheit verschafft sie sich über diesen für sie mitunter überlebenswichtigen Klicksonar einen räumlichen Eindruck.
Das bürgerliche Wiesbaden zwischen Neroberg und Gründerzeitpracht ist für die Perfektionistin mit Handicap zum Ort des Vergessens geworden. Zu ihrem ehemaligen Geliebten, jenem damals totgeglaubten Kollegen, hat sie so wenig Kontakt wie zum Rest der Mannschaft von einst. Umso überraschter ist sie, als sie von ihrer früheren Einheit angefordert wird, eine Befragung in einem Berliner Gefängnis durchzuführen. Sie ahnt nicht, dass diese Dienstreise alles andere als Zufall ist, sondern in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen von Barcelona steht. Es ist ihr Gegenspieler von damals, der hochintelligente Borderliner Holm, der sie wie eine Marionette über unsichtbare Fäden nach Berlin gelenkt hat. Ihm hat sie, ohne es zu wissen, das Liebste genommen.
Nicht so sehr das reißerische Finale, dessen Showdown über Landstraßen, in verlassene Gehöfte und tiefe Gewässer führt, bleibt von diesem Thriller im Gedächtnis, sondern die Kunst seiner blinden Heldin, Sehende hinters Licht zu führen. Dabei gerät am Ende auch sie, die längst nicht mehr am Überqueren einer Straße scheitert, ins Stolpern. Denn ihre eigene Geschichte sieht sie plötzlich in einem anderen Licht.
SANDRA KEGEL
Andreas Pflüger: "Endgültig". Thriller.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 459 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main