Die Märchen und Geschichten, die wir als Kinder erzählt bekommen, prägen unsere Wahrnehmung der Welt. Was aber passiert, wenn man sich eher mit dem Biest identifiziert als mit der Schönen? Wenn jede hässliche, entstellte, behinderte Märchenfigur als böse gilt, verhöhnt und bestraft wird – wie kann sich das Biest dann jemals ein Happy End erhoffen?
Amanda Leduc untersucht Märchen in Text und Film, von den Brüdern Grimm über Hans Christian Andersen bis zu Walt Disney und »Game of Thrones«. In den Geschichten erkennt man das Gute stets an seiner Schönheit und das Böse an seinem entstellten Körper. Behinderung dient als Metapher für Minderwertigkeit und Schlechtigkeit, als etwas, das es zu überwinden gilt, das dem Glück im Wege steht und bestenfalls Mitleid verdient. Stets ist es das Individuum, das sich verändern und anpassen muss, nicht die Gesellschaft. Diese Narrative, so zeigt Leduc, spiegeln sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in unserem Umgang mit Behinderung.
Mitreißend und voller Empathie verbindet sie eine kulturtheoretische Analyse der Figuren und Stoffe mit persönlichen Erfahrungen aus ihrem Leben mit Zerebralparese. Sie nimmt die Gesellschaft in die Pflicht und fordert Raum für neue Geschichten, die Behinderung sichtbar machen und als gleichwertige Lebensrealität anerkennen: »Was passiert mit der Geschichte, wenn wir einander die Hand reichen?«
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Weshalb abendländische Märchen "Ausdruck ableistischer Ideologie" ist, lässt sich Rezensent Klaus Birnstiel von der kanadischen Autorin Amanda Leduc auseinandersetzen. Ableismus, lernt Birnstiel von der Autorin, ist die Bewertung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten, oder kurz: Behindertendiskriminierung. Unsere Märchen - von den Grimm-Varianten bis zu den Disney-Adaptionen sind insofern Ausdruck dieser Diskriminierung, als dass physische und psychische Andersartigkeit stets nur als sensationelles Defizit ausstellen, und das Ziel des andersartigen Einzelnen immer die Verwandlung ist - vom hässlichen Frosch zum Märchenprinzen. Nun könnte man natürlich ein paar Prinzessinnen Brillen aufsetzen und die Helden in Rollstühle setzen, worauf laut Kritiker sicherlich auch demnächst noch irgendjemand kommen wird, doch damit sei es nicht getan, meint er. Was es braucht, ist eine neue Erzähltradition, die nicht mehr zwischen Norm und Abweichung unterscheidet, so der Rezensent. Leducs These mag zunächst recht steil erscheinen, ihre Argumentation jedoch ist so nachvollziehbar, dass der Kritiker nie wieder ein Märchen so lesen wird wie vor der Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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