»Mit Wolfgang Schäuble haben wir einen großartigen Menschen und leidenschaftlichen Politiker verloren, der Historisches für unser Land erreicht hat.« Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident Wolfgang Schäuble war eine politische Ausnahmeerscheinung. Nur wenige haben die Bundesrepublik in vergleichbarem Maße geprägt. Die unmittelbar vor seinem Tod fertiggestellten »Erinnerungen« bieten einen einzigartigen Einblick in die Geschichte unseres Landes und in die verborgenen Mechanismen des politischen Betriebs. Sie sind die Bilanz eines politischen Lebens, ein Vermächtnis der Werte und Haltungen, für die Wolfgang Schäuble ein Leben lang stand. Niemand gehörte länger dem deutschen Bundestag an. In seinem politischen Wirken spiegelt sich die Geschichte eines halben Jahrhunderts und der Weg von der Bonner zur Berliner Republik. Der ehemalige Bundesminister, Parteivorsitzender der CDU, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Bundestagspräsident erzählt von den Anfängen einer Karriere, von Erfolgen und Niederlagen. Wolfgang Schäuble lässt ein einzigartiges politisches Leben Revue passieren: seine Jugend- und Lehrjahre, die Zeit als engster Weggefährte Helmut Kohls und als Architekt des Einigungsvertrages, den Schicksalsschlag des Attentats, das Drama der Spendenaffäre und das unglaubliche Comeback als mächtiger Minister während Angela Merkels Kanzlerschaft, in der er mit der »schwarzen Null« und als wichtiger Akteur in der Euro- und Griechenlandkrise hervorstach. Er verbindet seine Betrachtungen mit pointierten Porträts seiner Vorbilder, Weggefährten, Rivalen und Freunde. Wolfgang Schäubles »Erinnerungen« sind gelebte deutsche und europäische Geschichte und der Erfahrungsschatz eines wahrhaft politischen Lebens im Dienst der Bundesrepublik. Ungekürzte Lesung mit Frank Arnold 27h 8min
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»Von einem Mann, der noch über seinen Tod hinaus etwas zu sagen hat. Anekdoten und Geschichten machen das Hörbuch sehr lebendig und absolut zuhörenswert.« kpv-hessen.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Lukas Wallraff tut sich zwar anfangs etwas schwer, bei Wolfgang Schäubles 650-seitigen Memoiren voller ausgedehnter Beschreibungen von Finanzministertreffen oder Fiskalpaktberatungen am Ball zu bleiben, wird dann aber "reich belohnt". Denn aus dem Buch und Schäubles nicht bescheidenem, aber humorvollem Schreiben geht für den Kritiker klar hervor, warum der CDU-Politiker und "Fast-Kanzler" auch von Gegnern respektiert oder sogar gemocht wurde. So mache Schäuble keinen Hehl daraus, dass er "sehr gerne wichtig" war, und Wallraff erinnert auch nochmals an kritikwürdige politische Aktionen wie etwa die "unsägliche" Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder die "finanzielle Drangsalierung" Griechenlands. Aber gleichzeitig spreche aus den Seiten eben auch eine Neugier auf die Gegner, eine Liebe für den "demokratischen Disput" und auch ein "spitzbübischer Witz" - etwa, wenn er etwa den Spott seiner Kinder zitiert: "ob wir nicht wieder einmal die Videokassette mit Papas Berlinrede abspielen sollten". Persönlich gehe es nur in Bezug auf seine Frau zu, und da nimmt es der Kritiker dem Autor gern ab. Ein Buch, das auch für Leute, die sich nicht übermäßig für Politik interessieren, eine lohnende Lektüre bietet, vermittelt Wallraff.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2024Verwegen und so glücklich wie Sisyphus
So kann man diese Memoiren lesen: Helmut Kohl und Angela Merkel, getrennt nur durch die sieben Jahre der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders, bedienen sich eines talentierten CDU-Politikers und regieren jeweils 16 lange Kanzlerjahre. Zwei Glücksfälle für Wolfgang Schäuble. Doch man kann das Buch auch anders lesen: Ein Glücksfall für Kohl und Merkel, dass es diesen Wolfgang Schäuble gab, ohne den sie es nicht so lange geschafft hätten. Dreimal war er es selbst, der sie hätte stürzen können. Nur einmal aber war er tatsächlich bereit dazu. Das war 1997 - vor der Bundestagswahl von 1998, als klar war, dass Kohl sie gegen Schröder verlieren würde. Schäuble sagte ihm das unter vier Augen rundheraus und war darauf gefasst, dass Kohl ihm die Kandidatur überließ. Aber das kam so nicht, Schäuble zuckte zurück, das Verhältnis zu Kohl, ohnehin schon krisenanfällig, war trotzdem vollends zerbrochen. Die Spendenaffäre drei Jahre später, nach dem Sturz Kohls, war nur der letzte Akt in dieser Tragödie.
Zwei Putschpläne wollte Schäuble nicht mitmachen. Das erste Mal, Monate vor dem legendären Bremer CDU-Parteitag von 1989, forderte ihn Heiner Geißler, noch Generalsekretär, dazu auf, sich einer Gruppe um Lothar Späth und Kurt Biedenkopf anzuschließen, die Kohl stürzen wollte. Wann das genau war, lässt Schäuble offen, er lehnte ab. Und nicht nur das Weltgeschehen trug damit dazu bei, dass Kohl weitermachen und zum Kanzler der Einheit werden konnte. Der zweite Putschversuch kam nach der Flüchtlingskrise von 2015, als ihn Edmund Stoiber, da schon außer Diensten, zum Sturz der Kanzlerin anstachelte. Beide Male lehnte Schäuble aus persönlichen Gründen ("Loyalität"), aber auch aus strategischen Gründen ab - ein Dolchstoß hätte der CDU, wie er meinte, schweren Schaden zugefügt.
Auf den nächsten Anlauf, Merkel vorzeitig abzulösen, geht Schäuble nicht näher ein. Das war unter dem Parteivorsitz Annegret Kramp-Karrenbauers, die in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin den Versuch dazu machte, aber ähnlich abblitzte wie seinerzeit Schäuble bei Kohl.
"Merkel war ein Glücksfall", schreibt Schäuble, der sie 1998 in seiner kurzen Zeit als CDU-Vorsitzender zur Generalsekretärin machte. Nicht ganz so heftig wie im Falle Kohls folgte aber auch hier nach Jahren enger Zusammenarbeit das Zerwürfnis. Anlass dafür war nicht, wie man glauben sollte, die Flüchtlingspolitik oder die Griechenlandkrise, sondern weil Merkel ihren Finanzminister, der sich mit Olaf Scholz (damals noch Hamburger Bürgermeister) eine kühne Bund-Länder-Steuerreform ausgedacht hatte, vor aller Augen im Regen stehen ließ.
Mehrere Male bemerkt Schäuble in seinem Buch, dass Führungsstärke, wie er sie verstehe, nicht die Sache Merkels gewesen sei. In der Flüchtlingskrise nicht, in der er ihr ankreidet, nicht schnell genug auf die Türkei zugegangen zu sein, um ein Flüchtlingsabkommen zu schließen; in der Griechenlandkrise nicht, in der ihm ihre Linie zu kompromissbereit und zu wenig visionär vorkam - Schäuble trauert unter anderem seiner Idee eines europäischen Währungsfonds nach. Bemerkenswert ist an Schäubles Darstellung der Flüchtlingskrise, dass er Merkel zwar in ihrem humanitären Wir-schaffen-das-Optimismus unterstützt, ihr aber vorwirft, den Deutschen nicht "reinen Wein" eingeschenkt zu haben. Will sagen: Weder hatte Merkel den Mut zu sagen, dass sie das Land mit ihrer Politik strapazierte, noch hatte sie die Kraft, Verständnis für die daraus resultierende Kritik zu zeigen. Schäuble hielt sie am Ende für "beratungsresistent", das hätte er auch über die Spätphase Kohls sagen können, obgleich in diesem Fall - bei allem Hass, wie man es nennen muss, was Schäuble durchblicken lässt - die Anerkennung historischer Leistungen doch bei Weitem überwiegt.
Davon ist in Schäubles Beurteilung Merkels wenig zu spüren, weder die Abneigung noch die Anerkennung. Wie sehr Schäuble sich Merkel überlegen gefühlt haben muss, wird aus einer Episode deutlich, in der er zwischen ihr und Horst Seehofer (auch er ein Stoiber-Aufgestachelter) vermitteln wollte. Er drohte ihnen, wie er schreibt, mit der lauten Lektüre des Dublin-Vertrags zur Asylpolitik der EU, den er seinerzeit ausgehandelt hatte und sich jetzt für die zerstrittenen Kinder bereitgelegt hatte. Durchaus, um "meinen Hang zur Rechthaberei" offen auszuspielen. Beide wehrten belustigt ab, das Eis zwischen den beiden sei daraufhin gebrochen, schreibt Schäuble, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass Merkel Unrecht hatte, wenn sie scharfe Grenzkontrollen für nicht möglich hielt.
Das Urteil über die Regierungszeit Merkels sei noch nicht gesprochen, kommentiert Schäuble ein Interview, in dem er sie nicht zu den bedeutenden Kanzlern der Republik zählen wollte. Die Ära Merkel endete für ihn, den Finanzminister der "schwarzen Null" (das Wort Schuldenbremse meidet Schäuble, aus welchen Gründen auch immer) mit Rücktrittsgedanken, die er zurückstellte, um nicht, wie er schreibt, unnötig Porzellan zu zerschlagen. Nicht nur Friedrich Merz suchte anschließend, nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft, offenbar vergeblich Kontakt zu Merkel. Auch Schäuble wundert sich über das Desinteresse der ehemaligen Parteivorsitzenden an "ihrer" CDU, ohne den tieferen Ursachen oder Merkels Andeutungen über ihren verletzten Stolz als "Ostdeutsche" nachzuspüren.
Schäuble wäre beinahe Kanzler geworden. Gescheitert ist er nicht nur, wie er mehrmals durchaus bedauernd andeutet, weil ihm der unbedingte Wille zur Macht gefehlt hat. Sondern auch deshalb, weil Kohl und Merkel eines einte: Beide trauten ihren designierten Nachfolgern nicht zu, dass sie es können. Kohl Schäuble nicht, obwohl er ihn auserkoren hatte, im selben Augenblick aber beteuerte, weitermachen zu wollen; Merkel Kramp-Karrenbauer nicht, deren Autorität sie in der Thüringer AfD-Affäre von Südafrika aus den Garaus machte. Schäuble lässt durchblicken, dass er sich durchaus für kanzlerfähig hält, ja dass er es sogar besser gemacht hätte - nicht nur, indem er seine Selbständigkeit wieder und wieder betont, sondern auch, indem er an manchen großen Lichtern kein gutes Haar lässt. Besonders auffällig gegenüber Thomas de Maizière, wie Schäuble ein enger Begleiter der Karriere Merkels, wie Schäuble Kanzleramtschef und mehrmals Bundesinnenminister, zwischendurch auch Verteidigungsminister, dem Schäuble mehrmals Mut und Instinkt abspricht.
In den Diadochenkämpfen nach Merkels Abschied konnte Schäuble, der Merz-Förderer und in die Rolle des Moderators gedrängt, zuschauen, wie der Sprung nach ganz oben noch aus anderen Gründen scheitern kann. Markus Söder hätte die Kanzlerkandidatur nach seiner Darstellung im April 2021 an sich reißen können, wenn er gewollt hätte. Aber er tat es nicht, und Schäuble fragt sich, ob er es denn wirklich wollte. Die Bundestagsfraktion, auch die CDU-Gremien schwankten bis zuletzt. Dass sich Armin Laschet durchsetzte, wäre also nur die halbe Wahrheit. Die Rolle der CSU sieht Schäuble dadurch aber wieder zurechtgerückt. In Kanzlerambitionen aus München, die er schon bei Franz Josef Strauß miterlebte, die schließlich auch Stoiber trieben, sieht er eine Energie, die sich am Ende gegen die CSU und ihren besonderen bundesbayerischen Einfluss richtet.
Die Erinnerungen Schäubles müssten eigentlich mehrere Bände füllen. Dass es nur einer wurde (unter Mitwirkung der Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack), liegt daran, dass schon etliche erschienen sind, über die deutsche Einheit und den Einigungsvertrag ("Der Vertrag", 1991), seine Gedanken über Politik ("Und sie bewegt sich doch", 1998) oder über die Spendenaffäre ("Mitten im Leben", 2000). Aus diesen Zeiten und Zusammenhängen erfährt der Leser deshalb nicht allzu viel Neues, wie überhaupt der Gewinn der Lektüre nicht darin besteht, dass Schäuble schon einmal - von ihm oder Anderen - Geschildertes ganz neu erzählt (das tut er allerdings so, dass es ein Genuss ist) oder neu deutet.
Wohl aber setzt er Akzente, die sicher auch als Wink an seine Partei zu verstehen sind. Dazu gehört vor allem das Bild von den Grünen, über die er sich gerne amüsiert, die er aber nie abwertend beurteilt. Er mokiert sich über den "Spielwiesenidealismus" der rot-grünen Koalition, lehnt Berührungsängste aber ab und will anerkennen, dass es die Grünen - unter ihnen hat es ihm besonders Joschka Fischer angetan - besser verstanden haben als die CDU, das Thema Umweltschutz, später Klimaschutz als lebenswichtig durchzusetzen. Schäuble sieht es weniger als Ironie denn als verpasste Gelegenheit, dass die Kanzlerin, die mitunter mehr grün als CDU war, keine Koalition mit den Grünen zustande brachte (einen Grund für das Scheitern der Verhandlungen 2013 sieht er in Merkels auf Müdigkeit und Überdruss spekulierenden Verhandlungsstil). Bei allem Lob für die grüne Modernisierung der CDU überrascht es nebenbei aber doch, dass Klaus Töpfer bei Schäuble nicht vorkommt.
Auch gegenüber der AfD hegte Schäuble keine Berührungsängste. Nur in wenigen Bemerkungen geht er auf die Gründe ein, warum diese Partei entstehen und derart wachsen konnte. Schäuble erwähnt unter anderem die "asymmetrische Mobilisierung" unter Merkel, die radikale Ränder gestärkt habe. Gegenbild für ihn ist die Unterschriftenkampagne zur doppelten Staatsbürgerschaft im Wahlkampf Roland Kochs von 1999, die er in der Form misslungen, in der Sache aber richtig fand: "Die Polarisierung in der Mitte sorgte dafür, dass das prognostizierte Anwachsen rechter Parteien ausblieb."
Ja, was bist Du nun für einer, wird sich Lieschen Müller fragen: ein Linker oder ein Rechter? Man spürt förmlich, welchen intellektuellen Spaß es Schäuble bereitete, die Leser merken zu lassen, was ein Christdemokrat alles sein kann.
Spaß? Davon hatte Schäuble wahrlich wenig, und wenn es etwas gibt, das dieses Buch so lesenswert macht, sind es die wiederkehrenden Schilderungen der Strapazen, die Schäuble schon vor dem Attentat kannte, erst recht aber danach durchleben musste. Das Leben eines Politikers verlangt schon von einem nicht behinderten Menschen eine Kondition und Psyche, die nicht jeder hat. Schäuble biss sich nicht nur ins Leben, sondern auch mehrmals in sein Lebenselixier, die Politik zurück, der er einen Sinn abringen konnte, indem er sich als "glücklicher Sisyphos" fühlte. Durch seine Memoiren will Schäuble sich aber viel mehr noch als "Verwegenen" inszenieren, dem kein vernünftiger Gedanke, kein durchdachter Plan zu kühn war, um ihn nicht mit aller Kraft durchzusetzen. Nach einer Politikerkarriere, die mit mehr als fünfzig Jahren Bundestagserfahrung so lang war wie kaum eine andere, schrieb Schäuble seine Erinnerungen mit dem nahen Tod vor Augen. Es ist sein Vermächtnis, und weil aus ihm so viel über Politik zu lernen ist wie aus kaum einem anderen Buch, wünscht man ihm eine große Verbreitung. JASPER VON ALTENBOCKUM
Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik.
Klett-Cotta-Verlag,
Stuttgart 2024. 656 S., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
So kann man diese Memoiren lesen: Helmut Kohl und Angela Merkel, getrennt nur durch die sieben Jahre der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders, bedienen sich eines talentierten CDU-Politikers und regieren jeweils 16 lange Kanzlerjahre. Zwei Glücksfälle für Wolfgang Schäuble. Doch man kann das Buch auch anders lesen: Ein Glücksfall für Kohl und Merkel, dass es diesen Wolfgang Schäuble gab, ohne den sie es nicht so lange geschafft hätten. Dreimal war er es selbst, der sie hätte stürzen können. Nur einmal aber war er tatsächlich bereit dazu. Das war 1997 - vor der Bundestagswahl von 1998, als klar war, dass Kohl sie gegen Schröder verlieren würde. Schäuble sagte ihm das unter vier Augen rundheraus und war darauf gefasst, dass Kohl ihm die Kandidatur überließ. Aber das kam so nicht, Schäuble zuckte zurück, das Verhältnis zu Kohl, ohnehin schon krisenanfällig, war trotzdem vollends zerbrochen. Die Spendenaffäre drei Jahre später, nach dem Sturz Kohls, war nur der letzte Akt in dieser Tragödie.
Zwei Putschpläne wollte Schäuble nicht mitmachen. Das erste Mal, Monate vor dem legendären Bremer CDU-Parteitag von 1989, forderte ihn Heiner Geißler, noch Generalsekretär, dazu auf, sich einer Gruppe um Lothar Späth und Kurt Biedenkopf anzuschließen, die Kohl stürzen wollte. Wann das genau war, lässt Schäuble offen, er lehnte ab. Und nicht nur das Weltgeschehen trug damit dazu bei, dass Kohl weitermachen und zum Kanzler der Einheit werden konnte. Der zweite Putschversuch kam nach der Flüchtlingskrise von 2015, als ihn Edmund Stoiber, da schon außer Diensten, zum Sturz der Kanzlerin anstachelte. Beide Male lehnte Schäuble aus persönlichen Gründen ("Loyalität"), aber auch aus strategischen Gründen ab - ein Dolchstoß hätte der CDU, wie er meinte, schweren Schaden zugefügt.
Auf den nächsten Anlauf, Merkel vorzeitig abzulösen, geht Schäuble nicht näher ein. Das war unter dem Parteivorsitz Annegret Kramp-Karrenbauers, die in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin den Versuch dazu machte, aber ähnlich abblitzte wie seinerzeit Schäuble bei Kohl.
"Merkel war ein Glücksfall", schreibt Schäuble, der sie 1998 in seiner kurzen Zeit als CDU-Vorsitzender zur Generalsekretärin machte. Nicht ganz so heftig wie im Falle Kohls folgte aber auch hier nach Jahren enger Zusammenarbeit das Zerwürfnis. Anlass dafür war nicht, wie man glauben sollte, die Flüchtlingspolitik oder die Griechenlandkrise, sondern weil Merkel ihren Finanzminister, der sich mit Olaf Scholz (damals noch Hamburger Bürgermeister) eine kühne Bund-Länder-Steuerreform ausgedacht hatte, vor aller Augen im Regen stehen ließ.
Mehrere Male bemerkt Schäuble in seinem Buch, dass Führungsstärke, wie er sie verstehe, nicht die Sache Merkels gewesen sei. In der Flüchtlingskrise nicht, in der er ihr ankreidet, nicht schnell genug auf die Türkei zugegangen zu sein, um ein Flüchtlingsabkommen zu schließen; in der Griechenlandkrise nicht, in der ihm ihre Linie zu kompromissbereit und zu wenig visionär vorkam - Schäuble trauert unter anderem seiner Idee eines europäischen Währungsfonds nach. Bemerkenswert ist an Schäubles Darstellung der Flüchtlingskrise, dass er Merkel zwar in ihrem humanitären Wir-schaffen-das-Optimismus unterstützt, ihr aber vorwirft, den Deutschen nicht "reinen Wein" eingeschenkt zu haben. Will sagen: Weder hatte Merkel den Mut zu sagen, dass sie das Land mit ihrer Politik strapazierte, noch hatte sie die Kraft, Verständnis für die daraus resultierende Kritik zu zeigen. Schäuble hielt sie am Ende für "beratungsresistent", das hätte er auch über die Spätphase Kohls sagen können, obgleich in diesem Fall - bei allem Hass, wie man es nennen muss, was Schäuble durchblicken lässt - die Anerkennung historischer Leistungen doch bei Weitem überwiegt.
Davon ist in Schäubles Beurteilung Merkels wenig zu spüren, weder die Abneigung noch die Anerkennung. Wie sehr Schäuble sich Merkel überlegen gefühlt haben muss, wird aus einer Episode deutlich, in der er zwischen ihr und Horst Seehofer (auch er ein Stoiber-Aufgestachelter) vermitteln wollte. Er drohte ihnen, wie er schreibt, mit der lauten Lektüre des Dublin-Vertrags zur Asylpolitik der EU, den er seinerzeit ausgehandelt hatte und sich jetzt für die zerstrittenen Kinder bereitgelegt hatte. Durchaus, um "meinen Hang zur Rechthaberei" offen auszuspielen. Beide wehrten belustigt ab, das Eis zwischen den beiden sei daraufhin gebrochen, schreibt Schäuble, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass Merkel Unrecht hatte, wenn sie scharfe Grenzkontrollen für nicht möglich hielt.
Das Urteil über die Regierungszeit Merkels sei noch nicht gesprochen, kommentiert Schäuble ein Interview, in dem er sie nicht zu den bedeutenden Kanzlern der Republik zählen wollte. Die Ära Merkel endete für ihn, den Finanzminister der "schwarzen Null" (das Wort Schuldenbremse meidet Schäuble, aus welchen Gründen auch immer) mit Rücktrittsgedanken, die er zurückstellte, um nicht, wie er schreibt, unnötig Porzellan zu zerschlagen. Nicht nur Friedrich Merz suchte anschließend, nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft, offenbar vergeblich Kontakt zu Merkel. Auch Schäuble wundert sich über das Desinteresse der ehemaligen Parteivorsitzenden an "ihrer" CDU, ohne den tieferen Ursachen oder Merkels Andeutungen über ihren verletzten Stolz als "Ostdeutsche" nachzuspüren.
Schäuble wäre beinahe Kanzler geworden. Gescheitert ist er nicht nur, wie er mehrmals durchaus bedauernd andeutet, weil ihm der unbedingte Wille zur Macht gefehlt hat. Sondern auch deshalb, weil Kohl und Merkel eines einte: Beide trauten ihren designierten Nachfolgern nicht zu, dass sie es können. Kohl Schäuble nicht, obwohl er ihn auserkoren hatte, im selben Augenblick aber beteuerte, weitermachen zu wollen; Merkel Kramp-Karrenbauer nicht, deren Autorität sie in der Thüringer AfD-Affäre von Südafrika aus den Garaus machte. Schäuble lässt durchblicken, dass er sich durchaus für kanzlerfähig hält, ja dass er es sogar besser gemacht hätte - nicht nur, indem er seine Selbständigkeit wieder und wieder betont, sondern auch, indem er an manchen großen Lichtern kein gutes Haar lässt. Besonders auffällig gegenüber Thomas de Maizière, wie Schäuble ein enger Begleiter der Karriere Merkels, wie Schäuble Kanzleramtschef und mehrmals Bundesinnenminister, zwischendurch auch Verteidigungsminister, dem Schäuble mehrmals Mut und Instinkt abspricht.
In den Diadochenkämpfen nach Merkels Abschied konnte Schäuble, der Merz-Förderer und in die Rolle des Moderators gedrängt, zuschauen, wie der Sprung nach ganz oben noch aus anderen Gründen scheitern kann. Markus Söder hätte die Kanzlerkandidatur nach seiner Darstellung im April 2021 an sich reißen können, wenn er gewollt hätte. Aber er tat es nicht, und Schäuble fragt sich, ob er es denn wirklich wollte. Die Bundestagsfraktion, auch die CDU-Gremien schwankten bis zuletzt. Dass sich Armin Laschet durchsetzte, wäre also nur die halbe Wahrheit. Die Rolle der CSU sieht Schäuble dadurch aber wieder zurechtgerückt. In Kanzlerambitionen aus München, die er schon bei Franz Josef Strauß miterlebte, die schließlich auch Stoiber trieben, sieht er eine Energie, die sich am Ende gegen die CSU und ihren besonderen bundesbayerischen Einfluss richtet.
Die Erinnerungen Schäubles müssten eigentlich mehrere Bände füllen. Dass es nur einer wurde (unter Mitwirkung der Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack), liegt daran, dass schon etliche erschienen sind, über die deutsche Einheit und den Einigungsvertrag ("Der Vertrag", 1991), seine Gedanken über Politik ("Und sie bewegt sich doch", 1998) oder über die Spendenaffäre ("Mitten im Leben", 2000). Aus diesen Zeiten und Zusammenhängen erfährt der Leser deshalb nicht allzu viel Neues, wie überhaupt der Gewinn der Lektüre nicht darin besteht, dass Schäuble schon einmal - von ihm oder Anderen - Geschildertes ganz neu erzählt (das tut er allerdings so, dass es ein Genuss ist) oder neu deutet.
Wohl aber setzt er Akzente, die sicher auch als Wink an seine Partei zu verstehen sind. Dazu gehört vor allem das Bild von den Grünen, über die er sich gerne amüsiert, die er aber nie abwertend beurteilt. Er mokiert sich über den "Spielwiesenidealismus" der rot-grünen Koalition, lehnt Berührungsängste aber ab und will anerkennen, dass es die Grünen - unter ihnen hat es ihm besonders Joschka Fischer angetan - besser verstanden haben als die CDU, das Thema Umweltschutz, später Klimaschutz als lebenswichtig durchzusetzen. Schäuble sieht es weniger als Ironie denn als verpasste Gelegenheit, dass die Kanzlerin, die mitunter mehr grün als CDU war, keine Koalition mit den Grünen zustande brachte (einen Grund für das Scheitern der Verhandlungen 2013 sieht er in Merkels auf Müdigkeit und Überdruss spekulierenden Verhandlungsstil). Bei allem Lob für die grüne Modernisierung der CDU überrascht es nebenbei aber doch, dass Klaus Töpfer bei Schäuble nicht vorkommt.
Auch gegenüber der AfD hegte Schäuble keine Berührungsängste. Nur in wenigen Bemerkungen geht er auf die Gründe ein, warum diese Partei entstehen und derart wachsen konnte. Schäuble erwähnt unter anderem die "asymmetrische Mobilisierung" unter Merkel, die radikale Ränder gestärkt habe. Gegenbild für ihn ist die Unterschriftenkampagne zur doppelten Staatsbürgerschaft im Wahlkampf Roland Kochs von 1999, die er in der Form misslungen, in der Sache aber richtig fand: "Die Polarisierung in der Mitte sorgte dafür, dass das prognostizierte Anwachsen rechter Parteien ausblieb."
Ja, was bist Du nun für einer, wird sich Lieschen Müller fragen: ein Linker oder ein Rechter? Man spürt förmlich, welchen intellektuellen Spaß es Schäuble bereitete, die Leser merken zu lassen, was ein Christdemokrat alles sein kann.
Spaß? Davon hatte Schäuble wahrlich wenig, und wenn es etwas gibt, das dieses Buch so lesenswert macht, sind es die wiederkehrenden Schilderungen der Strapazen, die Schäuble schon vor dem Attentat kannte, erst recht aber danach durchleben musste. Das Leben eines Politikers verlangt schon von einem nicht behinderten Menschen eine Kondition und Psyche, die nicht jeder hat. Schäuble biss sich nicht nur ins Leben, sondern auch mehrmals in sein Lebenselixier, die Politik zurück, der er einen Sinn abringen konnte, indem er sich als "glücklicher Sisyphos" fühlte. Durch seine Memoiren will Schäuble sich aber viel mehr noch als "Verwegenen" inszenieren, dem kein vernünftiger Gedanke, kein durchdachter Plan zu kühn war, um ihn nicht mit aller Kraft durchzusetzen. Nach einer Politikerkarriere, die mit mehr als fünfzig Jahren Bundestagserfahrung so lang war wie kaum eine andere, schrieb Schäuble seine Erinnerungen mit dem nahen Tod vor Augen. Es ist sein Vermächtnis, und weil aus ihm so viel über Politik zu lernen ist wie aus kaum einem anderen Buch, wünscht man ihm eine große Verbreitung. JASPER VON ALTENBOCKUM
Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik.
Klett-Cotta-Verlag,
Stuttgart 2024. 656 S., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Seine 'Erinnerungen' faszinieren wegen seiner Beobachtungsgabe, seinem scharfen Urteilsvermögen, seinem bildungsbürgerlichen Anspruch, seiner Selbstdisziplin und seiner auch in der politischen Praxis bewiesenen moralisch-ethischen Wertehaltung.« Peter Hartmeier, Aargauer Zeitung, 16. Juli 2024 Peter Hartmeier Aargauer Zeitung 20240716