»Mit Wolfgang Schäuble haben wir einen großartigen Menschen und leidenschaftlichen Politiker verloren, der Historisches für unser Land erreicht hat.« Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident Wolfgang Schäuble war eine politische Ausnahmeerscheinung. Nur wenige haben die Bundesrepublik in vergleichbarem Maße geprägt. Die unmittelbar vor seinem Tod fertiggestellten »Erinnerungen« bieten einen einzigartigen Einblick in die Geschichte unseres Landes und in die verborgenen Mechanismen des politischen Betriebs. Sie sind die Bilanz eines politischen Lebens, ein Vermächtnis der Werte und Haltungen, für die Wolfgang Schäuble ein Leben lang stand. Niemand gehörte länger dem deutschen Bundestag an. In seinem politischen Wirken spiegelt sich die Geschichte eines halben Jahrhunderts und der Weg von der Bonner zur Berliner Republik. Der ehemalige Bundesminister, Parteivorsitzender der CDU, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Bundestagspräsident erzählt von den Anfängen einer Karriere, von Erfolgen und Niederlagen. Wolfgang Schäuble lässt ein einzigartiges politisches Leben Revue passieren: seine Jugend- und Lehrjahre, die Zeit als engster Weggefährte Helmut Kohls und als Architekt des Einigungsvertrages, den Schicksalsschlag des Attentats, das Drama der Spendenaffäre und das unglaubliche Comeback als mächtiger Minister während Angela Merkels Kanzlerschaft, in der er mit der »schwarzen Null« und als wichtiger Akteur in der Euro- und Griechenlandkrise hervorstach. Er verbindet seine Betrachtungen mit pointierten Porträts seiner Vorbilder, Weggefährten, Rivalen und Freunde. Wolfgang Schäubles »Erinnerungen« sind gelebte deutsche und europäische Geschichte und der Erfahrungsschatz eines wahrhaft politischen Lebens im Dienst der Bundesrepublik. Ungekürzte Lesung mit Frank Arnold 27h 8min
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»Von einem Mann, der noch über seinen Tod hinaus etwas zu sagen hat. Anekdoten und Geschichten machen das Hörbuch sehr lebendig und absolut zuhörenswert.«
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Lukas Wallraff tut sich zwar anfangs etwas schwer, bei Wolfgang Schäubles 650-seitigen Memoiren voller ausgedehnter Beschreibungen von Finanzministertreffen oder Fiskalpaktberatungen am Ball zu bleiben, wird dann aber "reich belohnt". Denn aus dem Buch und Schäubles nicht bescheidenem, aber humorvollem Schreiben geht für den Kritiker klar hervor, warum der CDU-Politiker und "Fast-Kanzler" auch von Gegnern respektiert oder sogar gemocht wurde. So mache Schäuble keinen Hehl daraus, dass er "sehr gerne wichtig" war, und Wallraff erinnert auch nochmals an kritikwürdige politische Aktionen wie etwa die "unsägliche" Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder die "finanzielle Drangsalierung" Griechenlands. Aber gleichzeitig spreche aus den Seiten eben auch eine Neugier auf die Gegner, eine Liebe für den "demokratischen Disput" und auch ein "spitzbübischer Witz" - etwa, wenn er etwa den Spott seiner Kinder zitiert: "ob wir nicht wieder einmal die Videokassette mit Papas Berlinrede abspielen sollten". Persönlich gehe es nur in Bezug auf seine Frau zu, und da nimmt es der Kritiker dem Autor gern ab. Ein Buch, das auch für Leute, die sich nicht übermäßig für Politik interessieren, eine lohnende Lektüre bietet, vermittelt Wallraff.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2024Ein Leben im Vollen
50 Jahre Abgeordneter, Minister, Parteichef und Staatslenker:
Zwei Monate nach seinem Tod erscheinen die Erinnerungen von Wolfgang Schäuble.
VON STEFAN KORNELIUS
München – Am 14. Dezember, zwölf Tage vor seinem Tod, erschien Wolfgang Schäuble zum letzten Mal in seinem Büro im Berliner Bundestag. Vier Stunden lang diskutierte er mit den beiden Co-Autoren über die Abschlusskapitel seiner Lebenserinnerungen. Dann war das Werk vollbracht, der Nachlass formuliert. Schäuble konnte loslassen und mit seiner Familie, so wie er es versprochen hatte, ein letztes Mal Weihnachten feiern. Er starb am 26. Dezember. Nach Berlin kehrte er nicht mehr zurück. Die Co-Autoren, die Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack, beschreiben noch das Abschieds-Telefonat am Weihnachtswochenende, in dem Schäuble mit dem ihm so eigenen Kantenhieb den bevorstehenden Tod ironisierte: „Das gehört dann wohl zum Leben dazu.“
Der Tod war Schäubles Lebensbegleiter – am Ende hat ihm Schäuble seinen Willen aufgezwungen. Zuerst meldete er sich beim Attentat von 1990, stets nur „das Unglück“ genannt. Dann durch den Krebs, der 2006 entdeckt wurde, und der in den letzten Lebensjahren die schier unerschöpfliche Energie des Mannes auffraß. Gesprochen hat Schäuble darüber nicht. Für den Tod hatte Schäuble keine Zeit zu vergeuden, für Selbstmitleid oder die grüblerische Betrachtung der Lebensniederlagen auch nicht. Schäuble lebte aus dem Vollen, politische Bewegung war sein Antrieb, Erfolg war das Ziel und die Niederlage sein erduldeter Begleiter.
Angetrieben wurde diese titanische Lebensleistung durch einen unbändigen Gestaltungswillen, Ehrgeiz, Glauben, Familienliebe, Heimatverbundenheit aber auch eine Portion Demut. Hybris, Selbstbesoffenheit, die Unfähigkeit zur Reflexion – das waren Schäubles Eigenschaften nicht. Auch davon zeugen die Erinnerungen, die Schäuble im Bewusstsein seines bevorstehenden Todes verfasst hat. Rücksicht musste dieser Mann zu diesem Zeitpunkt auf niemanden mehr nehmen, nicht mal auf sich selbst.
Wolfgang Schäubles Memoiren werden zum Pflichtkanon der politischen Geschichtsschreibung in Deutschland gehören. Nur wenige Politiker können auf eine vergleichbare Lebensleistung zurückblicken: 50 Jahre Parlamentarier, davon fast 40 Jahre in der Verantwortung als Minister für das Kanzleramt, für Inneres und Finanzen, als Bundestagspräsident, als Partei- und Fraktionsvorsitzender. Dann die Schlüsselrolle in zwei Scharniermomenten der Geschichte: während der deutschen Vereinigung und der Eurokrise.
Schließlich die schicksalhafte Verquickung mit den Langzeitkanzlern Helmut Kohl und Angela Merkel, die Rolle als ewiger Nicht-Kanzler, das „Unglück“ und die Spenden-Tragödie. Am Ende ist es Schäubles intellektuelle Schärfe, mit der er ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte einfängt, bündelt und deutet – ein politisches Leben in unvergleichbarer Fülle.
Von der gescheiterten Kanzler-Wahl Rainer Barzels bis zum Machtkampf in der Union nach Angela Merkels Abschied führt Schäuble durch die Zeitgeschichte der Republik – nie besserwisserisch, stets in selbst ironisierender Schärfe („vermutlich hat kaum jemand zu Lebzeiten so viele politische Nachrufe auf sich lesen dürfen wie ich“). Schäuble ordnet die Verhältnisse als politisch versierter Historiker, nicht als historisch versierter Politiker. Ob da ein Edmund Stoiber zum Putsch gegen Merkel angestachelt hat oder nicht, verkommt zur Fußnote.
Wirklich relevant sind noch immer die Details zur CDU-Spendenaffäre und die selbstkritische Einordnung am Ende einer langen Zeit mit dem Einheitskanzler. Kohl ist der Leitstern der frühen Schäuble-Jahre, für ihn das Symbol einer modernen CDU und der „geistig-moralischen Wende“, die das ausgelaugte Establishment der 70er-Jahre abgelöst hat. An seiner Achtung und Sympathie für Kohl lässt Schäuble keinen Zweifel.
Doch dann, in der vierten Legislatur, wurde Helmut Kohl zum „Gesicht der Krise“. Reformstau und Sklerose mündeten in der ersten großen Niederlage, dem Abschied von der Macht 1998. Schäubles persönlicher Kampf um die Führung scheiterte am Prinzip: „Helmut Kohl hatte ich meine Karriere zu verdanken, und ich war Teil seines Erfolgs gewesen. Mein Wort, dass ich ihn nicht hintergehen werde, galt.“ Und später: „Mit Blick auf meinen Lebensweg fällt mir ohnehin auf, dass … meine strategischen Fähigkeiten in eigener Sache wenig ausgeprägt waren.“ Überwogen hat die Erkenntnis, dass die Partei Kohl „ohne selbstzerstörerische Konsequenzen“ nicht habe stürzen können. „Deshalb durfte ein solcher Putsch nicht stattfinden.“
Koketterie? Mitnichten. Schäuble glaubte an die Kraft des Arguments und des Verstandes – weshalb sich die endgültige Vernichtung durch Kohl in der Spendenaffäre („Tiefpunkt meiner politischen Karriere“) seinem Verständnis entzieht. „Ich musste akzeptieren, dass meine Mission als Parteivorsitzender und Erneuerer gescheitert war.“
Erste Bekanntschaften mit Kohls schwarzen Kassen hatte er als Fraktionsgeschäftsführer gemacht, als er auf ein nicht geprüftes Konto stieß. Als Parteivorsitzender holte ihn diese „Schattenwelt“ ein, der „Sog des Verdachts“ war so übermächtig, dass er Schäuble hinwegriss. „Jeder, der von ihm abrückte, wurde zum Verräter oder Feigling erklärt. … Die Dimension der Zerstörung konnte allerdings niemand vorhersehen.“
Mit dem Abstand der Jahrzehnte, hinterlässt Wolfgang Schäuble für die Ergründung der Affäre zwei Neuigkeiten: Die schwarze Fraktionskasse, mit der er bereits in den 80er-Jahren Bekanntschaft gemacht hatte, war am Ende auf jene zwei Millionen D-Mark zusammengeschrumpft, die Kohl von angeblich „anonymen Spendern“ erhalten haben will. Schäubles Vermutung: Diese Spender gab es nie, es handelt sich um die Überreste der schwarzen Kasse.
Botschaft Nummer zwei für Feinschmecker des CDU-Spendenskandals: In Schäubles Nachlass befindet sich eine Quittung über die Schreiber-Spende – ausgestellt von der Schatzmeisterin Brigitte Baumeister. Es handelte sich um jene Spende, die Schäuble am Ende die Glaubwürdigkeit und das Amt kostete. Mit dem Hinweis auf die Quittung kontert Schäuble ein letztes Mal das Zerstörungsduell, das er sich damals mit Baumeister geliefert hatte. Der Skandal hat sein Ehrgefühl bis zum Tod belastet.
Die Spendenaffäre und ihre Folgen lösten hingegen keinen Groll gegenüber Angela Merkel aus, die als Generalsekretärin ihren Parteivorsitzenden Schäuble umging und am 22. Dezember 1999 den Scheidungsbrief an Kohl und die alte CDU verfasste. Der „mutige und entschlossene Schachzug“ eröffnete Merkel den Zugriff auf die Parteiführung, wie Schäuble anerkennend schreibt.
So wenig wie Merkel im ersten Teil der Lebenserinnerungen eine Rolle spielt, so sehr dominiert sie dann den zweiten Zyklus, die Kabinettsjahre von 2005 bis 2017. Wie bei Kohl entstand eine intensive und vertrauensvolle Beziehung, die über die Jahre nach starkem Dissens über Inhalte und Merkels Führungsstil in der Entfremdung endete.
Schäuble spart hier nicht mit Respektbezeugungen – aber auch nicht mit Kritik. Merkel brachte er intellektuelle Anerkennung entgegen, schätzte ihre abwägende und überlegte Art. In der Währungs- und Griechenlandkrise drifteten die Wege aber auseinander. Schäuble lebte mit einem Kanzleramt, das seine Vorstellungen der Finanz- und Währungspolitik nicht teilte. „In diesem Spannungsfeld ging ich teils an die Grenzen des für mich Erträglichen.“ Die Differenzen nahmen während der Flüchtlingskrise 2015 weiter zu, Schäuble empörte sich über Führungsstil und Kommunikationsverhalten der Kanzlerin.
Nie lässt Schäuble Zweifel an seinem Amtsverständnis aufkommen, das Loyalität zur Regierungschefin gebietet. „Aber … unser Arbeitsverhältnis (hatte …) seine beste Zeit hinter sich... Ihren scharfen Verstand und ihre politische Intelligenz habe ich immer bewundert und darum nie aufgegeben, sie von meiner Sicht der Dinge zu überzeugen. … Eine solche Spannung lässt sich aber auch nicht ewig aufrechterhalten.“ Mehrmals, so schreibt Schäuble, stand er kurz vor dem Rücktritt, weil Merkel ihm die Unterstützung versagte.
Schäuble Vorstellung von Führung zeugen von der ihm eigenen Ungeduld: „Man braucht den Mut zu Entscheidungen“, klagt er. Merkels historisches Verdienst: die CDU nach der Spendenaffäre vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit bewahrt zu haben. Ihr Versäumnis: die Lähmung, die aus „der ständigen Suche nach Kompromissen“ entstand. Schäuble lässt keinen Zweifel, dass er den Streit für die wichtigste Ware in der Politik hält. „Politische Führung auch über Inhalte, die gesellschaftlich kontrovers sind und der Bevölkerung etwas zumuten“ – daran hat es Schäuble nicht missen lassen. Umso mehr litt er unter Merkels Strategie der asymmetrischen Demobilisierung, dem Verzicht auf den Streit. Das war zwar hilfreich für die persönlichen Sympathiewerte, „angesichts der heute erreichten Stärke der (AfD) … langfristig aber fatal“.
Am Ende hatten sich die beiden Politiker auseinandergelebt, bis hin zur letzten Koalitionsentscheidung nach den gescheiterten Jamaika-Gesprächen 2017. Wolfgang Schäuble riet zur proaktiven Flucht in die Minderheitenregierung, Angela Merkel suchte ihr Heil erneut bei der SPD. Schäuble konnte die Kompromisse nicht länger mittragen und zog sich zurück. Die Kräfte schwanden bereits. „Die Zukunft wird zeigen, welchen Platz ihr die Geschichte zuweist“, schreibt er über Angela Merkel. Seinen Platz hat er schon mal eingenommen.
Helmut Kohl und
die Spendenaffäre –
die Wunde bleibt
Eine Frage der Führung:
der Bruch mit Kanzlerin
Angela Merkel
„Merkel hat meine Loyalität strapaziert“, schrieb der verstorbene Wolfgang Schäuble in seinen Memoiren über die frühere Kanzlerin.
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
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50 Jahre Abgeordneter, Minister, Parteichef und Staatslenker:
Zwei Monate nach seinem Tod erscheinen die Erinnerungen von Wolfgang Schäuble.
VON STEFAN KORNELIUS
München – Am 14. Dezember, zwölf Tage vor seinem Tod, erschien Wolfgang Schäuble zum letzten Mal in seinem Büro im Berliner Bundestag. Vier Stunden lang diskutierte er mit den beiden Co-Autoren über die Abschlusskapitel seiner Lebenserinnerungen. Dann war das Werk vollbracht, der Nachlass formuliert. Schäuble konnte loslassen und mit seiner Familie, so wie er es versprochen hatte, ein letztes Mal Weihnachten feiern. Er starb am 26. Dezember. Nach Berlin kehrte er nicht mehr zurück. Die Co-Autoren, die Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack, beschreiben noch das Abschieds-Telefonat am Weihnachtswochenende, in dem Schäuble mit dem ihm so eigenen Kantenhieb den bevorstehenden Tod ironisierte: „Das gehört dann wohl zum Leben dazu.“
Der Tod war Schäubles Lebensbegleiter – am Ende hat ihm Schäuble seinen Willen aufgezwungen. Zuerst meldete er sich beim Attentat von 1990, stets nur „das Unglück“ genannt. Dann durch den Krebs, der 2006 entdeckt wurde, und der in den letzten Lebensjahren die schier unerschöpfliche Energie des Mannes auffraß. Gesprochen hat Schäuble darüber nicht. Für den Tod hatte Schäuble keine Zeit zu vergeuden, für Selbstmitleid oder die grüblerische Betrachtung der Lebensniederlagen auch nicht. Schäuble lebte aus dem Vollen, politische Bewegung war sein Antrieb, Erfolg war das Ziel und die Niederlage sein erduldeter Begleiter.
Angetrieben wurde diese titanische Lebensleistung durch einen unbändigen Gestaltungswillen, Ehrgeiz, Glauben, Familienliebe, Heimatverbundenheit aber auch eine Portion Demut. Hybris, Selbstbesoffenheit, die Unfähigkeit zur Reflexion – das waren Schäubles Eigenschaften nicht. Auch davon zeugen die Erinnerungen, die Schäuble im Bewusstsein seines bevorstehenden Todes verfasst hat. Rücksicht musste dieser Mann zu diesem Zeitpunkt auf niemanden mehr nehmen, nicht mal auf sich selbst.
Wolfgang Schäubles Memoiren werden zum Pflichtkanon der politischen Geschichtsschreibung in Deutschland gehören. Nur wenige Politiker können auf eine vergleichbare Lebensleistung zurückblicken: 50 Jahre Parlamentarier, davon fast 40 Jahre in der Verantwortung als Minister für das Kanzleramt, für Inneres und Finanzen, als Bundestagspräsident, als Partei- und Fraktionsvorsitzender. Dann die Schlüsselrolle in zwei Scharniermomenten der Geschichte: während der deutschen Vereinigung und der Eurokrise.
Schließlich die schicksalhafte Verquickung mit den Langzeitkanzlern Helmut Kohl und Angela Merkel, die Rolle als ewiger Nicht-Kanzler, das „Unglück“ und die Spenden-Tragödie. Am Ende ist es Schäubles intellektuelle Schärfe, mit der er ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte einfängt, bündelt und deutet – ein politisches Leben in unvergleichbarer Fülle.
Von der gescheiterten Kanzler-Wahl Rainer Barzels bis zum Machtkampf in der Union nach Angela Merkels Abschied führt Schäuble durch die Zeitgeschichte der Republik – nie besserwisserisch, stets in selbst ironisierender Schärfe („vermutlich hat kaum jemand zu Lebzeiten so viele politische Nachrufe auf sich lesen dürfen wie ich“). Schäuble ordnet die Verhältnisse als politisch versierter Historiker, nicht als historisch versierter Politiker. Ob da ein Edmund Stoiber zum Putsch gegen Merkel angestachelt hat oder nicht, verkommt zur Fußnote.
Wirklich relevant sind noch immer die Details zur CDU-Spendenaffäre und die selbstkritische Einordnung am Ende einer langen Zeit mit dem Einheitskanzler. Kohl ist der Leitstern der frühen Schäuble-Jahre, für ihn das Symbol einer modernen CDU und der „geistig-moralischen Wende“, die das ausgelaugte Establishment der 70er-Jahre abgelöst hat. An seiner Achtung und Sympathie für Kohl lässt Schäuble keinen Zweifel.
Doch dann, in der vierten Legislatur, wurde Helmut Kohl zum „Gesicht der Krise“. Reformstau und Sklerose mündeten in der ersten großen Niederlage, dem Abschied von der Macht 1998. Schäubles persönlicher Kampf um die Führung scheiterte am Prinzip: „Helmut Kohl hatte ich meine Karriere zu verdanken, und ich war Teil seines Erfolgs gewesen. Mein Wort, dass ich ihn nicht hintergehen werde, galt.“ Und später: „Mit Blick auf meinen Lebensweg fällt mir ohnehin auf, dass … meine strategischen Fähigkeiten in eigener Sache wenig ausgeprägt waren.“ Überwogen hat die Erkenntnis, dass die Partei Kohl „ohne selbstzerstörerische Konsequenzen“ nicht habe stürzen können. „Deshalb durfte ein solcher Putsch nicht stattfinden.“
Koketterie? Mitnichten. Schäuble glaubte an die Kraft des Arguments und des Verstandes – weshalb sich die endgültige Vernichtung durch Kohl in der Spendenaffäre („Tiefpunkt meiner politischen Karriere“) seinem Verständnis entzieht. „Ich musste akzeptieren, dass meine Mission als Parteivorsitzender und Erneuerer gescheitert war.“
Erste Bekanntschaften mit Kohls schwarzen Kassen hatte er als Fraktionsgeschäftsführer gemacht, als er auf ein nicht geprüftes Konto stieß. Als Parteivorsitzender holte ihn diese „Schattenwelt“ ein, der „Sog des Verdachts“ war so übermächtig, dass er Schäuble hinwegriss. „Jeder, der von ihm abrückte, wurde zum Verräter oder Feigling erklärt. … Die Dimension der Zerstörung konnte allerdings niemand vorhersehen.“
Mit dem Abstand der Jahrzehnte, hinterlässt Wolfgang Schäuble für die Ergründung der Affäre zwei Neuigkeiten: Die schwarze Fraktionskasse, mit der er bereits in den 80er-Jahren Bekanntschaft gemacht hatte, war am Ende auf jene zwei Millionen D-Mark zusammengeschrumpft, die Kohl von angeblich „anonymen Spendern“ erhalten haben will. Schäubles Vermutung: Diese Spender gab es nie, es handelt sich um die Überreste der schwarzen Kasse.
Botschaft Nummer zwei für Feinschmecker des CDU-Spendenskandals: In Schäubles Nachlass befindet sich eine Quittung über die Schreiber-Spende – ausgestellt von der Schatzmeisterin Brigitte Baumeister. Es handelte sich um jene Spende, die Schäuble am Ende die Glaubwürdigkeit und das Amt kostete. Mit dem Hinweis auf die Quittung kontert Schäuble ein letztes Mal das Zerstörungsduell, das er sich damals mit Baumeister geliefert hatte. Der Skandal hat sein Ehrgefühl bis zum Tod belastet.
Die Spendenaffäre und ihre Folgen lösten hingegen keinen Groll gegenüber Angela Merkel aus, die als Generalsekretärin ihren Parteivorsitzenden Schäuble umging und am 22. Dezember 1999 den Scheidungsbrief an Kohl und die alte CDU verfasste. Der „mutige und entschlossene Schachzug“ eröffnete Merkel den Zugriff auf die Parteiführung, wie Schäuble anerkennend schreibt.
So wenig wie Merkel im ersten Teil der Lebenserinnerungen eine Rolle spielt, so sehr dominiert sie dann den zweiten Zyklus, die Kabinettsjahre von 2005 bis 2017. Wie bei Kohl entstand eine intensive und vertrauensvolle Beziehung, die über die Jahre nach starkem Dissens über Inhalte und Merkels Führungsstil in der Entfremdung endete.
Schäuble spart hier nicht mit Respektbezeugungen – aber auch nicht mit Kritik. Merkel brachte er intellektuelle Anerkennung entgegen, schätzte ihre abwägende und überlegte Art. In der Währungs- und Griechenlandkrise drifteten die Wege aber auseinander. Schäuble lebte mit einem Kanzleramt, das seine Vorstellungen der Finanz- und Währungspolitik nicht teilte. „In diesem Spannungsfeld ging ich teils an die Grenzen des für mich Erträglichen.“ Die Differenzen nahmen während der Flüchtlingskrise 2015 weiter zu, Schäuble empörte sich über Führungsstil und Kommunikationsverhalten der Kanzlerin.
Nie lässt Schäuble Zweifel an seinem Amtsverständnis aufkommen, das Loyalität zur Regierungschefin gebietet. „Aber … unser Arbeitsverhältnis (hatte …) seine beste Zeit hinter sich... Ihren scharfen Verstand und ihre politische Intelligenz habe ich immer bewundert und darum nie aufgegeben, sie von meiner Sicht der Dinge zu überzeugen. … Eine solche Spannung lässt sich aber auch nicht ewig aufrechterhalten.“ Mehrmals, so schreibt Schäuble, stand er kurz vor dem Rücktritt, weil Merkel ihm die Unterstützung versagte.
Schäuble Vorstellung von Führung zeugen von der ihm eigenen Ungeduld: „Man braucht den Mut zu Entscheidungen“, klagt er. Merkels historisches Verdienst: die CDU nach der Spendenaffäre vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit bewahrt zu haben. Ihr Versäumnis: die Lähmung, die aus „der ständigen Suche nach Kompromissen“ entstand. Schäuble lässt keinen Zweifel, dass er den Streit für die wichtigste Ware in der Politik hält. „Politische Führung auch über Inhalte, die gesellschaftlich kontrovers sind und der Bevölkerung etwas zumuten“ – daran hat es Schäuble nicht missen lassen. Umso mehr litt er unter Merkels Strategie der asymmetrischen Demobilisierung, dem Verzicht auf den Streit. Das war zwar hilfreich für die persönlichen Sympathiewerte, „angesichts der heute erreichten Stärke der (AfD) … langfristig aber fatal“.
Am Ende hatten sich die beiden Politiker auseinandergelebt, bis hin zur letzten Koalitionsentscheidung nach den gescheiterten Jamaika-Gesprächen 2017. Wolfgang Schäuble riet zur proaktiven Flucht in die Minderheitenregierung, Angela Merkel suchte ihr Heil erneut bei der SPD. Schäuble konnte die Kompromisse nicht länger mittragen und zog sich zurück. Die Kräfte schwanden bereits. „Die Zukunft wird zeigen, welchen Platz ihr die Geschichte zuweist“, schreibt er über Angela Merkel. Seinen Platz hat er schon mal eingenommen.
Helmut Kohl und
die Spendenaffäre –
die Wunde bleibt
Eine Frage der Führung:
der Bruch mit Kanzlerin
Angela Merkel
„Merkel hat meine Loyalität strapaziert“, schrieb der verstorbene Wolfgang Schäuble in seinen Memoiren über die frühere Kanzlerin.
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2024Verwegen und so glücklich wie Sisyphus
So kann man diese Memoiren lesen: Helmut Kohl und Angela Merkel, getrennt nur durch die sieben Jahre der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders, bedienen sich eines talentierten CDU-Politikers und regieren jeweils 16 lange Kanzlerjahre. Zwei Glücksfälle für Wolfgang Schäuble. Doch man kann das Buch auch anders lesen: Ein Glücksfall für Kohl und Merkel, dass es diesen Wolfgang Schäuble gab, ohne den sie es nicht so lange geschafft hätten. Dreimal war er es selbst, der sie hätte stürzen können. Nur einmal aber war er tatsächlich bereit dazu. Das war 1997 - vor der Bundestagswahl von 1998, als klar war, dass Kohl sie gegen Schröder verlieren würde. Schäuble sagte ihm das unter vier Augen rundheraus und war darauf gefasst, dass Kohl ihm die Kandidatur überließ. Aber das kam so nicht, Schäuble zuckte zurück, das Verhältnis zu Kohl, ohnehin schon krisenanfällig, war trotzdem vollends zerbrochen. Die Spendenaffäre drei Jahre später, nach dem Sturz Kohls, war nur der letzte Akt in dieser Tragödie.
Zwei Putschpläne wollte Schäuble nicht mitmachen. Das erste Mal, Monate vor dem legendären Bremer CDU-Parteitag von 1989, forderte ihn Heiner Geißler, noch Generalsekretär, dazu auf, sich einer Gruppe um Lothar Späth und Kurt Biedenkopf anzuschließen, die Kohl stürzen wollte. Wann das genau war, lässt Schäuble offen, er lehnte ab. Und nicht nur das Weltgeschehen trug damit dazu bei, dass Kohl weitermachen und zum Kanzler der Einheit werden konnte. Der zweite Putschversuch kam nach der Flüchtlingskrise von 2015, als ihn Edmund Stoiber, da schon außer Diensten, zum Sturz der Kanzlerin anstachelte. Beide Male lehnte Schäuble aus persönlichen Gründen ("Loyalität"), aber auch aus strategischen Gründen ab - ein Dolchstoß hätte der CDU, wie er meinte, schweren Schaden zugefügt.
Auf den nächsten Anlauf, Merkel vorzeitig abzulösen, geht Schäuble nicht näher ein. Das war unter dem Parteivorsitz Annegret Kramp-Karrenbauers, die in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin den Versuch dazu machte, aber ähnlich abblitzte wie seinerzeit Schäuble bei Kohl.
"Merkel war ein Glücksfall", schreibt Schäuble, der sie 1998 in seiner kurzen Zeit als CDU-Vorsitzender zur Generalsekretärin machte. Nicht ganz so heftig wie im Falle Kohls folgte aber auch hier nach Jahren enger Zusammenarbeit das Zerwürfnis. Anlass dafür war nicht, wie man glauben sollte, die Flüchtlingspolitik oder die Griechenlandkrise, sondern weil Merkel ihren Finanzminister, der sich mit Olaf Scholz (damals noch Hamburger Bürgermeister) eine kühne Bund-Länder-Steuerreform ausgedacht hatte, vor aller Augen im Regen stehen ließ.
Mehrere Male bemerkt Schäuble in seinem Buch, dass Führungsstärke, wie er sie verstehe, nicht die Sache Merkels gewesen sei. In der Flüchtlingskrise nicht, in der er ihr ankreidet, nicht schnell genug auf die Türkei zugegangen zu sein, um ein Flüchtlingsabkommen zu schließen; in der Griechenlandkrise nicht, in der ihm ihre Linie zu kompromissbereit und zu wenig visionär vorkam - Schäuble trauert unter anderem seiner Idee eines europäischen Währungsfonds nach. Bemerkenswert ist an Schäubles Darstellung der Flüchtlingskrise, dass er Merkel zwar in ihrem humanitären Wir-schaffen-das-Optimismus unterstützt, ihr aber vorwirft, den Deutschen nicht "reinen Wein" eingeschenkt zu haben. Will sagen: Weder hatte Merkel den Mut zu sagen, dass sie das Land mit ihrer Politik strapazierte, noch hatte sie die Kraft, Verständnis für die daraus resultierende Kritik zu zeigen. Schäuble hielt sie am Ende für "beratungsresistent", das hätte er auch über die Spätphase Kohls sagen können, obgleich in diesem Fall - bei allem Hass, wie man es nennen muss, was Schäuble durchblicken lässt - die Anerkennung historischer Leistungen doch bei Weitem überwiegt.
Davon ist in Schäubles Beurteilung Merkels wenig zu spüren, weder die Abneigung noch die Anerkennung. Wie sehr Schäuble sich Merkel überlegen gefühlt haben muss, wird aus einer Episode deutlich, in der er zwischen ihr und Horst Seehofer (auch er ein Stoiber-Aufgestachelter) vermitteln wollte. Er drohte ihnen, wie er schreibt, mit der lauten Lektüre des Dublin-Vertrags zur Asylpolitik der EU, den er seinerzeit ausgehandelt hatte und sich jetzt für die zerstrittenen Kinder bereitgelegt hatte. Durchaus, um "meinen Hang zur Rechthaberei" offen auszuspielen. Beide wehrten belustigt ab, das Eis zwischen den beiden sei daraufhin gebrochen, schreibt Schäuble, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass Merkel Unrecht hatte, wenn sie scharfe Grenzkontrollen für nicht möglich hielt.
Das Urteil über die Regierungszeit Merkels sei noch nicht gesprochen, kommentiert Schäuble ein Interview, in dem er sie nicht zu den bedeutenden Kanzlern der Republik zählen wollte. Die Ära Merkel endete für ihn, den Finanzminister der "schwarzen Null" (das Wort Schuldenbremse meidet Schäuble, aus welchen Gründen auch immer) mit Rücktrittsgedanken, die er zurückstellte, um nicht, wie er schreibt, unnötig Porzellan zu zerschlagen. Nicht nur Friedrich Merz suchte anschließend, nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft, offenbar vergeblich Kontakt zu Merkel. Auch Schäuble wundert sich über das Desinteresse der ehemaligen Parteivorsitzenden an "ihrer" CDU, ohne den tieferen Ursachen oder Merkels Andeutungen über ihren verletzten Stolz als "Ostdeutsche" nachzuspüren.
Schäuble wäre beinahe Kanzler geworden. Gescheitert ist er nicht nur, wie er mehrmals durchaus bedauernd andeutet, weil ihm der unbedingte Wille zur Macht gefehlt hat. Sondern auch deshalb, weil Kohl und Merkel eines einte: Beide trauten ihren designierten Nachfolgern nicht zu, dass sie es können. Kohl Schäuble nicht, obwohl er ihn auserkoren hatte, im selben Augenblick aber beteuerte, weitermachen zu wollen; Merkel Kramp-Karrenbauer nicht, deren Autorität sie in der Thüringer AfD-Affäre von Südafrika aus den Garaus machte. Schäuble lässt durchblicken, dass er sich durchaus für kanzlerfähig hält, ja dass er es sogar besser gemacht hätte - nicht nur, indem er seine Selbständigkeit wieder und wieder betont, sondern auch, indem er an manchen großen Lichtern kein gutes Haar lässt. Besonders auffällig gegenüber Thomas de Maizière, wie Schäuble ein enger Begleiter der Karriere Merkels, wie Schäuble Kanzleramtschef und mehrmals Bundesinnenminister, zwischendurch auch Verteidigungsminister, dem Schäuble mehrmals Mut und Instinkt abspricht.
In den Diadochenkämpfen nach Merkels Abschied konnte Schäuble, der Merz-Förderer und in die Rolle des Moderators gedrängt, zuschauen, wie der Sprung nach ganz oben noch aus anderen Gründen scheitern kann. Markus Söder hätte die Kanzlerkandidatur nach seiner Darstellung im April 2021 an sich reißen können, wenn er gewollt hätte. Aber er tat es nicht, und Schäuble fragt sich, ob er es denn wirklich wollte. Die Bundestagsfraktion, auch die CDU-Gremien schwankten bis zuletzt. Dass sich Armin Laschet durchsetzte, wäre also nur die halbe Wahrheit. Die Rolle der CSU sieht Schäuble dadurch aber wieder zurechtgerückt. In Kanzlerambitionen aus München, die er schon bei Franz Josef Strauß miterlebte, die schließlich auch Stoiber trieben, sieht er eine Energie, die sich am Ende gegen die CSU und ihren besonderen bundesbayerischen Einfluss richtet.
Die Erinnerungen Schäubles müssten eigentlich mehrere Bände füllen. Dass es nur einer wurde (unter Mitwirkung der Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack), liegt daran, dass schon etliche erschienen sind, über die deutsche Einheit und den Einigungsvertrag ("Der Vertrag", 1991), seine Gedanken über Politik ("Und sie bewegt sich doch", 1998) oder über die Spendenaffäre ("Mitten im Leben", 2000). Aus diesen Zeiten und Zusammenhängen erfährt der Leser deshalb nicht allzu viel Neues, wie überhaupt der Gewinn der Lektüre nicht darin besteht, dass Schäuble schon einmal - von ihm oder Anderen - Geschildertes ganz neu erzählt (das tut er allerdings so, dass es ein Genuss ist) oder neu deutet.
Wohl aber setzt er Akzente, die sicher auch als Wink an seine Partei zu verstehen sind. Dazu gehört vor allem das Bild von den Grünen, über die er sich gerne amüsiert, die er aber nie abwertend beurteilt. Er mokiert sich über den "Spielwiesenidealismus" der rot-grünen Koalition, lehnt Berührungsängste aber ab und will anerkennen, dass es die Grünen - unter ihnen hat es ihm besonders Joschka Fischer angetan - besser verstanden haben als die CDU, das Thema Umweltschutz, später Klimaschutz als lebenswichtig durchzusetzen. Schäuble sieht es weniger als Ironie denn als verpasste Gelegenheit, dass die Kanzlerin, die mitunter mehr grün als CDU war, keine Koalition mit den Grünen zustande brachte (einen Grund für das Scheitern der Verhandlungen 2013 sieht er in Merkels auf Müdigkeit und Überdruss spekulierenden Verhandlungsstil). Bei allem Lob für die grüne Modernisierung der CDU überrascht es nebenbei aber doch, dass Klaus Töpfer bei Schäuble nicht vorkommt.
Auch gegenüber der AfD hegte Schäuble keine Berührungsängste. Nur in wenigen Bemerkungen geht er auf die Gründe ein, warum diese Partei entstehen und derart wachsen konnte. Schäuble erwähnt unter anderem die "asymmetrische Mobilisierung" unter Merkel, die radikale Ränder gestärkt habe. Gegenbild für ihn ist die Unterschriftenkampagne zur doppelten Staatsbürgerschaft im Wahlkampf Roland Kochs von 1999, die er in der Form misslungen, in der Sache aber richtig fand: "Die Polarisierung in der Mitte sorgte dafür, dass das prognostizierte Anwachsen rechter Parteien ausblieb."
Ja, was bist Du nun für einer, wird sich Lieschen Müller fragen: ein Linker oder ein Rechter? Man spürt förmlich, welchen intellektuellen Spaß es Schäuble bereitete, die Leser merken zu lassen, was ein Christdemokrat alles sein kann.
Spaß? Davon hatte Schäuble wahrlich wenig, und wenn es etwas gibt, das dieses Buch so lesenswert macht, sind es die wiederkehrenden Schilderungen der Strapazen, die Schäuble schon vor dem Attentat kannte, erst recht aber danach durchleben musste. Das Leben eines Politikers verlangt schon von einem nicht behinderten Menschen eine Kondition und Psyche, die nicht jeder hat. Schäuble biss sich nicht nur ins Leben, sondern auch mehrmals in sein Lebenselixier, die Politik zurück, der er einen Sinn abringen konnte, indem er sich als "glücklicher Sisyphos" fühlte. Durch seine Memoiren will Schäuble sich aber viel mehr noch als "Verwegenen" inszenieren, dem kein vernünftiger Gedanke, kein durchdachter Plan zu kühn war, um ihn nicht mit aller Kraft durchzusetzen. Nach einer Politikerkarriere, die mit mehr als fünfzig Jahren Bundestagserfahrung so lang war wie kaum eine andere, schrieb Schäuble seine Erinnerungen mit dem nahen Tod vor Augen. Es ist sein Vermächtnis, und weil aus ihm so viel über Politik zu lernen ist wie aus kaum einem anderen Buch, wünscht man ihm eine große Verbreitung. JASPER VON ALTENBOCKUM
Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik.
Klett-Cotta-Verlag,
Stuttgart 2024. 656 S., 38,- Euro.
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So kann man diese Memoiren lesen: Helmut Kohl und Angela Merkel, getrennt nur durch die sieben Jahre der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders, bedienen sich eines talentierten CDU-Politikers und regieren jeweils 16 lange Kanzlerjahre. Zwei Glücksfälle für Wolfgang Schäuble. Doch man kann das Buch auch anders lesen: Ein Glücksfall für Kohl und Merkel, dass es diesen Wolfgang Schäuble gab, ohne den sie es nicht so lange geschafft hätten. Dreimal war er es selbst, der sie hätte stürzen können. Nur einmal aber war er tatsächlich bereit dazu. Das war 1997 - vor der Bundestagswahl von 1998, als klar war, dass Kohl sie gegen Schröder verlieren würde. Schäuble sagte ihm das unter vier Augen rundheraus und war darauf gefasst, dass Kohl ihm die Kandidatur überließ. Aber das kam so nicht, Schäuble zuckte zurück, das Verhältnis zu Kohl, ohnehin schon krisenanfällig, war trotzdem vollends zerbrochen. Die Spendenaffäre drei Jahre später, nach dem Sturz Kohls, war nur der letzte Akt in dieser Tragödie.
Zwei Putschpläne wollte Schäuble nicht mitmachen. Das erste Mal, Monate vor dem legendären Bremer CDU-Parteitag von 1989, forderte ihn Heiner Geißler, noch Generalsekretär, dazu auf, sich einer Gruppe um Lothar Späth und Kurt Biedenkopf anzuschließen, die Kohl stürzen wollte. Wann das genau war, lässt Schäuble offen, er lehnte ab. Und nicht nur das Weltgeschehen trug damit dazu bei, dass Kohl weitermachen und zum Kanzler der Einheit werden konnte. Der zweite Putschversuch kam nach der Flüchtlingskrise von 2015, als ihn Edmund Stoiber, da schon außer Diensten, zum Sturz der Kanzlerin anstachelte. Beide Male lehnte Schäuble aus persönlichen Gründen ("Loyalität"), aber auch aus strategischen Gründen ab - ein Dolchstoß hätte der CDU, wie er meinte, schweren Schaden zugefügt.
Auf den nächsten Anlauf, Merkel vorzeitig abzulösen, geht Schäuble nicht näher ein. Das war unter dem Parteivorsitz Annegret Kramp-Karrenbauers, die in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin den Versuch dazu machte, aber ähnlich abblitzte wie seinerzeit Schäuble bei Kohl.
"Merkel war ein Glücksfall", schreibt Schäuble, der sie 1998 in seiner kurzen Zeit als CDU-Vorsitzender zur Generalsekretärin machte. Nicht ganz so heftig wie im Falle Kohls folgte aber auch hier nach Jahren enger Zusammenarbeit das Zerwürfnis. Anlass dafür war nicht, wie man glauben sollte, die Flüchtlingspolitik oder die Griechenlandkrise, sondern weil Merkel ihren Finanzminister, der sich mit Olaf Scholz (damals noch Hamburger Bürgermeister) eine kühne Bund-Länder-Steuerreform ausgedacht hatte, vor aller Augen im Regen stehen ließ.
Mehrere Male bemerkt Schäuble in seinem Buch, dass Führungsstärke, wie er sie verstehe, nicht die Sache Merkels gewesen sei. In der Flüchtlingskrise nicht, in der er ihr ankreidet, nicht schnell genug auf die Türkei zugegangen zu sein, um ein Flüchtlingsabkommen zu schließen; in der Griechenlandkrise nicht, in der ihm ihre Linie zu kompromissbereit und zu wenig visionär vorkam - Schäuble trauert unter anderem seiner Idee eines europäischen Währungsfonds nach. Bemerkenswert ist an Schäubles Darstellung der Flüchtlingskrise, dass er Merkel zwar in ihrem humanitären Wir-schaffen-das-Optimismus unterstützt, ihr aber vorwirft, den Deutschen nicht "reinen Wein" eingeschenkt zu haben. Will sagen: Weder hatte Merkel den Mut zu sagen, dass sie das Land mit ihrer Politik strapazierte, noch hatte sie die Kraft, Verständnis für die daraus resultierende Kritik zu zeigen. Schäuble hielt sie am Ende für "beratungsresistent", das hätte er auch über die Spätphase Kohls sagen können, obgleich in diesem Fall - bei allem Hass, wie man es nennen muss, was Schäuble durchblicken lässt - die Anerkennung historischer Leistungen doch bei Weitem überwiegt.
Davon ist in Schäubles Beurteilung Merkels wenig zu spüren, weder die Abneigung noch die Anerkennung. Wie sehr Schäuble sich Merkel überlegen gefühlt haben muss, wird aus einer Episode deutlich, in der er zwischen ihr und Horst Seehofer (auch er ein Stoiber-Aufgestachelter) vermitteln wollte. Er drohte ihnen, wie er schreibt, mit der lauten Lektüre des Dublin-Vertrags zur Asylpolitik der EU, den er seinerzeit ausgehandelt hatte und sich jetzt für die zerstrittenen Kinder bereitgelegt hatte. Durchaus, um "meinen Hang zur Rechthaberei" offen auszuspielen. Beide wehrten belustigt ab, das Eis zwischen den beiden sei daraufhin gebrochen, schreibt Schäuble, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass Merkel Unrecht hatte, wenn sie scharfe Grenzkontrollen für nicht möglich hielt.
Das Urteil über die Regierungszeit Merkels sei noch nicht gesprochen, kommentiert Schäuble ein Interview, in dem er sie nicht zu den bedeutenden Kanzlern der Republik zählen wollte. Die Ära Merkel endete für ihn, den Finanzminister der "schwarzen Null" (das Wort Schuldenbremse meidet Schäuble, aus welchen Gründen auch immer) mit Rücktrittsgedanken, die er zurückstellte, um nicht, wie er schreibt, unnötig Porzellan zu zerschlagen. Nicht nur Friedrich Merz suchte anschließend, nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft, offenbar vergeblich Kontakt zu Merkel. Auch Schäuble wundert sich über das Desinteresse der ehemaligen Parteivorsitzenden an "ihrer" CDU, ohne den tieferen Ursachen oder Merkels Andeutungen über ihren verletzten Stolz als "Ostdeutsche" nachzuspüren.
Schäuble wäre beinahe Kanzler geworden. Gescheitert ist er nicht nur, wie er mehrmals durchaus bedauernd andeutet, weil ihm der unbedingte Wille zur Macht gefehlt hat. Sondern auch deshalb, weil Kohl und Merkel eines einte: Beide trauten ihren designierten Nachfolgern nicht zu, dass sie es können. Kohl Schäuble nicht, obwohl er ihn auserkoren hatte, im selben Augenblick aber beteuerte, weitermachen zu wollen; Merkel Kramp-Karrenbauer nicht, deren Autorität sie in der Thüringer AfD-Affäre von Südafrika aus den Garaus machte. Schäuble lässt durchblicken, dass er sich durchaus für kanzlerfähig hält, ja dass er es sogar besser gemacht hätte - nicht nur, indem er seine Selbständigkeit wieder und wieder betont, sondern auch, indem er an manchen großen Lichtern kein gutes Haar lässt. Besonders auffällig gegenüber Thomas de Maizière, wie Schäuble ein enger Begleiter der Karriere Merkels, wie Schäuble Kanzleramtschef und mehrmals Bundesinnenminister, zwischendurch auch Verteidigungsminister, dem Schäuble mehrmals Mut und Instinkt abspricht.
In den Diadochenkämpfen nach Merkels Abschied konnte Schäuble, der Merz-Förderer und in die Rolle des Moderators gedrängt, zuschauen, wie der Sprung nach ganz oben noch aus anderen Gründen scheitern kann. Markus Söder hätte die Kanzlerkandidatur nach seiner Darstellung im April 2021 an sich reißen können, wenn er gewollt hätte. Aber er tat es nicht, und Schäuble fragt sich, ob er es denn wirklich wollte. Die Bundestagsfraktion, auch die CDU-Gremien schwankten bis zuletzt. Dass sich Armin Laschet durchsetzte, wäre also nur die halbe Wahrheit. Die Rolle der CSU sieht Schäuble dadurch aber wieder zurechtgerückt. In Kanzlerambitionen aus München, die er schon bei Franz Josef Strauß miterlebte, die schließlich auch Stoiber trieben, sieht er eine Energie, die sich am Ende gegen die CSU und ihren besonderen bundesbayerischen Einfluss richtet.
Die Erinnerungen Schäubles müssten eigentlich mehrere Bände füllen. Dass es nur einer wurde (unter Mitwirkung der Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack), liegt daran, dass schon etliche erschienen sind, über die deutsche Einheit und den Einigungsvertrag ("Der Vertrag", 1991), seine Gedanken über Politik ("Und sie bewegt sich doch", 1998) oder über die Spendenaffäre ("Mitten im Leben", 2000). Aus diesen Zeiten und Zusammenhängen erfährt der Leser deshalb nicht allzu viel Neues, wie überhaupt der Gewinn der Lektüre nicht darin besteht, dass Schäuble schon einmal - von ihm oder Anderen - Geschildertes ganz neu erzählt (das tut er allerdings so, dass es ein Genuss ist) oder neu deutet.
Wohl aber setzt er Akzente, die sicher auch als Wink an seine Partei zu verstehen sind. Dazu gehört vor allem das Bild von den Grünen, über die er sich gerne amüsiert, die er aber nie abwertend beurteilt. Er mokiert sich über den "Spielwiesenidealismus" der rot-grünen Koalition, lehnt Berührungsängste aber ab und will anerkennen, dass es die Grünen - unter ihnen hat es ihm besonders Joschka Fischer angetan - besser verstanden haben als die CDU, das Thema Umweltschutz, später Klimaschutz als lebenswichtig durchzusetzen. Schäuble sieht es weniger als Ironie denn als verpasste Gelegenheit, dass die Kanzlerin, die mitunter mehr grün als CDU war, keine Koalition mit den Grünen zustande brachte (einen Grund für das Scheitern der Verhandlungen 2013 sieht er in Merkels auf Müdigkeit und Überdruss spekulierenden Verhandlungsstil). Bei allem Lob für die grüne Modernisierung der CDU überrascht es nebenbei aber doch, dass Klaus Töpfer bei Schäuble nicht vorkommt.
Auch gegenüber der AfD hegte Schäuble keine Berührungsängste. Nur in wenigen Bemerkungen geht er auf die Gründe ein, warum diese Partei entstehen und derart wachsen konnte. Schäuble erwähnt unter anderem die "asymmetrische Mobilisierung" unter Merkel, die radikale Ränder gestärkt habe. Gegenbild für ihn ist die Unterschriftenkampagne zur doppelten Staatsbürgerschaft im Wahlkampf Roland Kochs von 1999, die er in der Form misslungen, in der Sache aber richtig fand: "Die Polarisierung in der Mitte sorgte dafür, dass das prognostizierte Anwachsen rechter Parteien ausblieb."
Ja, was bist Du nun für einer, wird sich Lieschen Müller fragen: ein Linker oder ein Rechter? Man spürt förmlich, welchen intellektuellen Spaß es Schäuble bereitete, die Leser merken zu lassen, was ein Christdemokrat alles sein kann.
Spaß? Davon hatte Schäuble wahrlich wenig, und wenn es etwas gibt, das dieses Buch so lesenswert macht, sind es die wiederkehrenden Schilderungen der Strapazen, die Schäuble schon vor dem Attentat kannte, erst recht aber danach durchleben musste. Das Leben eines Politikers verlangt schon von einem nicht behinderten Menschen eine Kondition und Psyche, die nicht jeder hat. Schäuble biss sich nicht nur ins Leben, sondern auch mehrmals in sein Lebenselixier, die Politik zurück, der er einen Sinn abringen konnte, indem er sich als "glücklicher Sisyphos" fühlte. Durch seine Memoiren will Schäuble sich aber viel mehr noch als "Verwegenen" inszenieren, dem kein vernünftiger Gedanke, kein durchdachter Plan zu kühn war, um ihn nicht mit aller Kraft durchzusetzen. Nach einer Politikerkarriere, die mit mehr als fünfzig Jahren Bundestagserfahrung so lang war wie kaum eine andere, schrieb Schäuble seine Erinnerungen mit dem nahen Tod vor Augen. Es ist sein Vermächtnis, und weil aus ihm so viel über Politik zu lernen ist wie aus kaum einem anderen Buch, wünscht man ihm eine große Verbreitung. JASPER VON ALTENBOCKUM
Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik.
Klett-Cotta-Verlag,
Stuttgart 2024. 656 S., 38,- Euro.
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»Die Autobiografie Wolfgang Schäubles behandelt fast alle Themen, die die Bundespolitik in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigten. Für jeden, der das Innenleben politischer Macht in Deutschland und in der CDU als Regierungspartei kennenlernen will, ist sie eine große Fundgrube.« Oskar Lafontaine, Der Freitag, 08. Mai 2024 Oskar Lafontaine der Freitag 20240508