Oskar ist neun, er ist Erfinder, Pazifist, Schmuckdesigner und Tamburinspieler - und er hat eine Menge Fragen, auf die er dringend eine Antwort braucht. Wieso gab es den Anschlag vom 11. September? Warum musste sein Vater eines der Opfer sein? Oskar läuft durch New York, immer auf der Suche nach Antworten und nach etwas, dass ihn von den vielen Gedanken in seinem Kopf ablenkt. Safran Foer raubt mit seinem Tempo, seiner Sprachgewalt und seinem halsbrecherischen Witz dem Hörer den Atem. Und er lässt einen verstehen, dass manchmal nur Phantasie hilft, den Irrsinn der Welt zu ertragen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2005Eloquenz auf leeren Seiten
Eheliches Romanduell in New York: Die Bücher von Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer
NEW YORK, Anfang August
Altbewährte Eheleute sind dafür bekannt, in der noch nichtolympischen Sportart des Synchrondenkens keine Konkurrenz fürchten zu müssen. Bevor der oder die eine noch richtig zum Anlauf ansetzt, hat der oder die andere den Satz schon zu Ende gedacht. Jüngere Paare, naturgemäß nicht derart durchtrainiert, haben dagegen keine Chance. Wie allen Regeln fehlen aber auch dieser nicht die Ausnahmen. Ein besonders eindrucksvolles Exemplar halten nun die beiden gefeierten amerikanischen Jungschriftsteller Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer parat. Ihre Verehelichung hat sich außerordentlich rasch nicht nur in diesem oder jenem koproduzierten Satz niedergeschlagen, sondern gleich in zwei Romanen, die, obwohl noch brav nach Autor und Autorin getrennt, aus ein und derselben Feder stammen könnten.
Dabei ist das neue Traumpaar des literarischen Amerika subtil genug, nicht auch schon im Plot nach Kongruenz zu streben. Foers "Extremely Loud and Incredibly Close" (Extrem laut und unglaublich nah) gehört zu dem anschwellenden Strom von 9/11-Literatur. Protagonist ist der kleine Oskar, der statt einer Blechtrommel lieber ein Tamburin traktiert und sich auf seiner Visitenkarte als "Erfinder, Schmuckhersteller, Amateurentomologe, Frankophiler, Veganer, Origamikünstler, Pazifist, Perkussionist, Amateurastronom, Computerberater, Amateurarchäologe, Sammler von: raren Münzen, Schmetterlingen, die eines natürlichen Todes starben, Miniaturkakteen, Beatles-Memorabilien, Halbedelsteinen und anderen Dingen" empfiehlt. Wichtig für die Handlung ist vor allem, daß Oskar beim Terroranschlag aufs World Trade Center den Vater verloren hat und nun versucht, die Erinnerung an ihn wachzuhalten.
Wer Foers sensationell erfolgreichen Erstling "Alles ist erleuchtet" kennt (F.A.Z. vom 18. März 2003), wird kaum davon überrascht sein, wenn in "Extrem laut und unglaublich nah" der Haupthandlungsstrang sich durch ein Labyrinth von Geschichten und Beobachtungen, Erklärungen und Erfahrungen, Informationen und gewollten und ungewollten Klischees, Wortspielereien und Geständnissen, elegischen Abschweifungen und schrulligem Humor zieht. Der Hinweis auf Hiroshima darf ebensowenig fehlen wie die Bombardierung Dresdens, aus der sich die Hauptnebenhandlung herleitet, oder das private Panorama einer verwundeten Stadt. Sie soll New York anno 2003 darstellen, wäre aber eher in einem surrealen, fast dörflich überschaubaren, auf jeden Fall zuvor von Gabriel García Márquez und Isaac Bashevis Singer beispielhaft vermessenen Landstrich zu suchen. Und in der einsamen Fremde, die J. D. Salinger sich für Holden Caulfield ausgedacht hatte.
So vollgestopft ist Foers neues Buch mit gefundenem, erfundenem und phantastisch verpacktem Material, daß der Leser nicht selten darüber schier verzweifeln möchte. Nicole Krauss macht ihm in "The History of Love" (Die Geschichte der Liebe), das in diesen Tagen ebenfalls in deutscher Übersetzung erscheint, die Orientierung nicht leichter. Auch sie begibt sich auf die Suche. Wie Foer, der in "Everything is Illuminated" seinen Doppelgänger in die Ukraine schickt, wo er die Frau aufspüren soll, die den Großvater anscheinend vor den Nazis gerettet hatte, und wie Oskar Schell, der über den toten Vater nicht genug in Erfahrung bringen kann und sich auf einer Odyssee durch New York nach seiner Nähe sehnt, bis hinein ins leere Grab. Bei Nicole Krauss wird nach dem Verfasser der "History of Love" gesucht. Denn der einprägsame Titel ihres - nach dem Debüt "Man Walks Into A Room" zweiten - Romans ist auch der einer mysteriösen, bald romanhaften, bald essayistischen, bald kulturphilosophischen Abhandlung, einer metaphysisch skurrilen Gebrauchsanweisung für die Liebe und das Leben, die sich in Auszügen durch den Roman windet.
Sein geheimnisvoller Kern ist das Buch im Buch, dennoch nur zu verstehen als ein Teilchen in einem Plot-Puzzle, das Krauss mit einer geradezu diabolisch virtuosen Lust am Kombinieren und Konstruieren ausbreitet. Bevor die Geschichte des alten Leopold Gursky und des Mädchens Alma Singer ihr Feuerwerksfinale erreicht, ist viel aufzuklären, nicht zuletzt das Schicksal des Manuskripts von "The History of Love", das im Gepäck eines jüdischen Flüchtlings von Slonim im heutigen Weißrußland ins chilenische Valparaiso reist, dort in spanischer Übersetzung erstmals erscheint und keine weitere Aufmerksamkeit erregt, bis Almas Mutter, eine New Yorker Übersetzerin, von einem Fremden den Auftrag erhält, das obskure Buch, das Almas Vater einst zufällig auch in einer südamerikanischen Buchhandlung aufgestöbert hatte, für das sagenhafte Honorar von hunderttausend Dollar zu übersetzen.
So weit, so vertrackt. Aber das ist erst der grobe Umriß eines Plots, der in seinem Faible für Komplikation Leopold Gursky, den Verfasser der "History of Love", ahnungslos in New York als Schlosser werkeln läßt, während sein Jugendfreund Zvi Litvinoff das Manuskript ein wenig südamerikanisiert und unter eigenem Namen veröffentlicht, um die Liebe seiner Frau Rosa zu erringen. Auch diese Volten und Enthüllungen sind nichts gegen die Sache mit Gurskys verlorenem und halb wiedergefundenem Sohn, der zum berühmten Romancier aufgestiegen ist, oder mit Gurskys Freund Bruno, der seine sehr spezielle Wirklichkeit beansprucht, oder mit Almas Bruder, der sich zum Messias berufen fühlt, oder mit zahllosen anderen Figuren und Ereignissen, die dieses Roman-Kaleidoskop ausmachen.
Nicole Krauss schlägt weniger mit psychologischen Einsichten und ausgereifter Charakterisierungskunst in Bann als mit einer Erzähltechnik, die wohl postmodern zu nennen wäre, über ihre Artifizialität hinaus aber einen unwiderstehlichen Drive entwickelt. Wie da Perspektiven gewechselt, Handlungsstränge verwoben und Schicksalswenden inszeniert werden, das übertrifft selbst die Brillanz, mit der ihr Mann in "Extrem laut und unglaublich nah" aufwartet. Krauss und Foer schießen weit über die geschriebene Sprache hinaus, lassen in sogar typographisch identischer Form manchmal nur einen Satz oder ein paar Wörter auf einer sonst leeren Seite stehen. Im Vergleich mit Foers rot umkringelten Sätzen und Zeilen, farbigem Gekritzel, durchgestrichenen Wörtern, Zahlenkolonnen, kursiven Einsprengseln, Majuskelsignalen, immer enger bedruckten Seiten, die schließlich den totalen Sieg der Druckerschwärze verkünden, bemüht Nicole Krauss sich um einen Rest von graphischer Reserve. Dafür hat ihr Roman mehr innere Aufregung zu bieten.
Beide Autoren bauen ihre Handlungsstrukturen aus Zitaten aus Briefen, Notiz- und Tagebüchern, beide verwandeln New York in einen Ort, der dem Schtetl so nah ist wie einer lateinamerikanischen Phantasmagorie, beide liefern bizarre Geschichten als Standardware, beide verlangen von ihren Helden detektivischen Spürsinn, beide bürden einen Großteil der Last ihrer Bücher zwei Kindern auf, die für lexikalische Exkursionen anfällig sind und damit allzu oft direkt in die Banalität schlittern.
Vom Tonfall und der strukturellen Anlage her sind sich die Bücher derart ähnlich, daß sie in der Erinnerung leicht ineinander verschwimmen. Ist Oskar nicht mit dem alten Gursky auf Entdeckungsreise durch New York gegangen? Hat Alma das Schweizer Armeemesser des Vaters bekommen, oder war es doch Oskar? Foer, der dem Terrorangriff des 11. September jede politische Dimension verweigert, ihm vielmehr in der Selbsterkundung nachspürt, läßt seine Erzählungen und Überlegungen in ein schwaches Ende münden. Um den Weg aus der Trauer ins Leben zu finden, schlägt er vor, den Rückwärtsgang der Geschichte einzulegen und "den schlimmsten Tag" dem Kalender zu entreißen. Zum Kitsch geraten ihm so die Schlußseiten, eine umgekehrte Bilderfolge, in der ein Mensch, der aus einem der Türme in den Tod springt, nun hinauf in den himmlischen Äther schweben darf.
Solche Ausrutscher passieren Nicole Krauss nicht. Dem Schelmenroman ihres Mannes stellt sie einen virtuosen Versuch über die Spielarten der Liebe entgegen. Am herausragenden Talent des gerade achtundzwanzig Jahre alten Foer ist auch nach diesem unvollkommenen, zwischen Terror und Niedlichkeit schwankenden Buch nicht zu zweifeln. Seine nicht minder talentierte Gattin, die drei Jahre älter ist als er, war diesmal aber besser.
JORDAN MEJIAS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eheliches Romanduell in New York: Die Bücher von Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer
NEW YORK, Anfang August
Altbewährte Eheleute sind dafür bekannt, in der noch nichtolympischen Sportart des Synchrondenkens keine Konkurrenz fürchten zu müssen. Bevor der oder die eine noch richtig zum Anlauf ansetzt, hat der oder die andere den Satz schon zu Ende gedacht. Jüngere Paare, naturgemäß nicht derart durchtrainiert, haben dagegen keine Chance. Wie allen Regeln fehlen aber auch dieser nicht die Ausnahmen. Ein besonders eindrucksvolles Exemplar halten nun die beiden gefeierten amerikanischen Jungschriftsteller Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer parat. Ihre Verehelichung hat sich außerordentlich rasch nicht nur in diesem oder jenem koproduzierten Satz niedergeschlagen, sondern gleich in zwei Romanen, die, obwohl noch brav nach Autor und Autorin getrennt, aus ein und derselben Feder stammen könnten.
Dabei ist das neue Traumpaar des literarischen Amerika subtil genug, nicht auch schon im Plot nach Kongruenz zu streben. Foers "Extremely Loud and Incredibly Close" (Extrem laut und unglaublich nah) gehört zu dem anschwellenden Strom von 9/11-Literatur. Protagonist ist der kleine Oskar, der statt einer Blechtrommel lieber ein Tamburin traktiert und sich auf seiner Visitenkarte als "Erfinder, Schmuckhersteller, Amateurentomologe, Frankophiler, Veganer, Origamikünstler, Pazifist, Perkussionist, Amateurastronom, Computerberater, Amateurarchäologe, Sammler von: raren Münzen, Schmetterlingen, die eines natürlichen Todes starben, Miniaturkakteen, Beatles-Memorabilien, Halbedelsteinen und anderen Dingen" empfiehlt. Wichtig für die Handlung ist vor allem, daß Oskar beim Terroranschlag aufs World Trade Center den Vater verloren hat und nun versucht, die Erinnerung an ihn wachzuhalten.
Wer Foers sensationell erfolgreichen Erstling "Alles ist erleuchtet" kennt (F.A.Z. vom 18. März 2003), wird kaum davon überrascht sein, wenn in "Extrem laut und unglaublich nah" der Haupthandlungsstrang sich durch ein Labyrinth von Geschichten und Beobachtungen, Erklärungen und Erfahrungen, Informationen und gewollten und ungewollten Klischees, Wortspielereien und Geständnissen, elegischen Abschweifungen und schrulligem Humor zieht. Der Hinweis auf Hiroshima darf ebensowenig fehlen wie die Bombardierung Dresdens, aus der sich die Hauptnebenhandlung herleitet, oder das private Panorama einer verwundeten Stadt. Sie soll New York anno 2003 darstellen, wäre aber eher in einem surrealen, fast dörflich überschaubaren, auf jeden Fall zuvor von Gabriel García Márquez und Isaac Bashevis Singer beispielhaft vermessenen Landstrich zu suchen. Und in der einsamen Fremde, die J. D. Salinger sich für Holden Caulfield ausgedacht hatte.
So vollgestopft ist Foers neues Buch mit gefundenem, erfundenem und phantastisch verpacktem Material, daß der Leser nicht selten darüber schier verzweifeln möchte. Nicole Krauss macht ihm in "The History of Love" (Die Geschichte der Liebe), das in diesen Tagen ebenfalls in deutscher Übersetzung erscheint, die Orientierung nicht leichter. Auch sie begibt sich auf die Suche. Wie Foer, der in "Everything is Illuminated" seinen Doppelgänger in die Ukraine schickt, wo er die Frau aufspüren soll, die den Großvater anscheinend vor den Nazis gerettet hatte, und wie Oskar Schell, der über den toten Vater nicht genug in Erfahrung bringen kann und sich auf einer Odyssee durch New York nach seiner Nähe sehnt, bis hinein ins leere Grab. Bei Nicole Krauss wird nach dem Verfasser der "History of Love" gesucht. Denn der einprägsame Titel ihres - nach dem Debüt "Man Walks Into A Room" zweiten - Romans ist auch der einer mysteriösen, bald romanhaften, bald essayistischen, bald kulturphilosophischen Abhandlung, einer metaphysisch skurrilen Gebrauchsanweisung für die Liebe und das Leben, die sich in Auszügen durch den Roman windet.
Sein geheimnisvoller Kern ist das Buch im Buch, dennoch nur zu verstehen als ein Teilchen in einem Plot-Puzzle, das Krauss mit einer geradezu diabolisch virtuosen Lust am Kombinieren und Konstruieren ausbreitet. Bevor die Geschichte des alten Leopold Gursky und des Mädchens Alma Singer ihr Feuerwerksfinale erreicht, ist viel aufzuklären, nicht zuletzt das Schicksal des Manuskripts von "The History of Love", das im Gepäck eines jüdischen Flüchtlings von Slonim im heutigen Weißrußland ins chilenische Valparaiso reist, dort in spanischer Übersetzung erstmals erscheint und keine weitere Aufmerksamkeit erregt, bis Almas Mutter, eine New Yorker Übersetzerin, von einem Fremden den Auftrag erhält, das obskure Buch, das Almas Vater einst zufällig auch in einer südamerikanischen Buchhandlung aufgestöbert hatte, für das sagenhafte Honorar von hunderttausend Dollar zu übersetzen.
So weit, so vertrackt. Aber das ist erst der grobe Umriß eines Plots, der in seinem Faible für Komplikation Leopold Gursky, den Verfasser der "History of Love", ahnungslos in New York als Schlosser werkeln läßt, während sein Jugendfreund Zvi Litvinoff das Manuskript ein wenig südamerikanisiert und unter eigenem Namen veröffentlicht, um die Liebe seiner Frau Rosa zu erringen. Auch diese Volten und Enthüllungen sind nichts gegen die Sache mit Gurskys verlorenem und halb wiedergefundenem Sohn, der zum berühmten Romancier aufgestiegen ist, oder mit Gurskys Freund Bruno, der seine sehr spezielle Wirklichkeit beansprucht, oder mit Almas Bruder, der sich zum Messias berufen fühlt, oder mit zahllosen anderen Figuren und Ereignissen, die dieses Roman-Kaleidoskop ausmachen.
Nicole Krauss schlägt weniger mit psychologischen Einsichten und ausgereifter Charakterisierungskunst in Bann als mit einer Erzähltechnik, die wohl postmodern zu nennen wäre, über ihre Artifizialität hinaus aber einen unwiderstehlichen Drive entwickelt. Wie da Perspektiven gewechselt, Handlungsstränge verwoben und Schicksalswenden inszeniert werden, das übertrifft selbst die Brillanz, mit der ihr Mann in "Extrem laut und unglaublich nah" aufwartet. Krauss und Foer schießen weit über die geschriebene Sprache hinaus, lassen in sogar typographisch identischer Form manchmal nur einen Satz oder ein paar Wörter auf einer sonst leeren Seite stehen. Im Vergleich mit Foers rot umkringelten Sätzen und Zeilen, farbigem Gekritzel, durchgestrichenen Wörtern, Zahlenkolonnen, kursiven Einsprengseln, Majuskelsignalen, immer enger bedruckten Seiten, die schließlich den totalen Sieg der Druckerschwärze verkünden, bemüht Nicole Krauss sich um einen Rest von graphischer Reserve. Dafür hat ihr Roman mehr innere Aufregung zu bieten.
Beide Autoren bauen ihre Handlungsstrukturen aus Zitaten aus Briefen, Notiz- und Tagebüchern, beide verwandeln New York in einen Ort, der dem Schtetl so nah ist wie einer lateinamerikanischen Phantasmagorie, beide liefern bizarre Geschichten als Standardware, beide verlangen von ihren Helden detektivischen Spürsinn, beide bürden einen Großteil der Last ihrer Bücher zwei Kindern auf, die für lexikalische Exkursionen anfällig sind und damit allzu oft direkt in die Banalität schlittern.
Vom Tonfall und der strukturellen Anlage her sind sich die Bücher derart ähnlich, daß sie in der Erinnerung leicht ineinander verschwimmen. Ist Oskar nicht mit dem alten Gursky auf Entdeckungsreise durch New York gegangen? Hat Alma das Schweizer Armeemesser des Vaters bekommen, oder war es doch Oskar? Foer, der dem Terrorangriff des 11. September jede politische Dimension verweigert, ihm vielmehr in der Selbsterkundung nachspürt, läßt seine Erzählungen und Überlegungen in ein schwaches Ende münden. Um den Weg aus der Trauer ins Leben zu finden, schlägt er vor, den Rückwärtsgang der Geschichte einzulegen und "den schlimmsten Tag" dem Kalender zu entreißen. Zum Kitsch geraten ihm so die Schlußseiten, eine umgekehrte Bilderfolge, in der ein Mensch, der aus einem der Türme in den Tod springt, nun hinauf in den himmlischen Äther schweben darf.
Solche Ausrutscher passieren Nicole Krauss nicht. Dem Schelmenroman ihres Mannes stellt sie einen virtuosen Versuch über die Spielarten der Liebe entgegen. Am herausragenden Talent des gerade achtundzwanzig Jahre alten Foer ist auch nach diesem unvollkommenen, zwischen Terror und Niedlichkeit schwankenden Buch nicht zu zweifeln. Seine nicht minder talentierte Gattin, die drei Jahre älter ist als er, war diesmal aber besser.
JORDAN MEJIAS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Jonathan Safran Foers zweiter Roman erfüllt all unsere Erwartungen. Er ist ehrgeizig, brillant, geheimnisvoll und vor allem in der Schilderung des verwaisten Oskar zutiefst bewegend. Eine ungewöhnliche Leistung." Salman Rushdie
"Jonathan Safran Foer ist eine ungewöhnliche neue Stimme - virtuos, visionär, naiv, urkomisch und herzzerreißend." The Village Voice
"Temperamentvoll, eindringlich und wunderbar unterhaltsam bringt Foer den Leser dazu, die Welt mit all ihrem Grauen und all ihren Möglichkeiten aus der Perspektive eines Kindes neu zu sehen." National Post
"Jonathan Safran Foer ist eine ungewöhnliche neue Stimme - virtuos, visionär, naiv, urkomisch und herzzerreißend." The Village Voice
"Temperamentvoll, eindringlich und wunderbar unterhaltsam bringt Foer den Leser dazu, die Welt mit all ihrem Grauen und all ihren Möglichkeiten aus der Perspektive eines Kindes neu zu sehen." National Post
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Anhänger der realistischen Literatur sollten den zweiten Roman von Jonathan Safran Foer lieber gleich wieder aus der Hand legen, meint Rezensent Georg Diez. Denn Foer beschwört in bekannter Manier nicht nur den Schrecken des 11. September, sondern den "der gesamten Welt", und präsentiert ihn in der Sprache eines kleinen Jungen. Dieser hat seinen Vater in den Trümmern des World Trade Centers verloren und kämpft nun gegen die "große Tragödie seines Lebens". Das Schicksal des Jungen vernetzt der Autor mit zahlreichen anderen Geschichten vom Suchen - das Hauptmotiv, wie der Rezensent herausfindet. In seiner "kindlichen" Lust am Sammeln von Begebenheiten und Eindrücken liege die Schönheit, aber auch "ein Teil der Probleme". Gelegentlich wirken die Menschen und Schicksale nämlich wie "ausgedachte Wesen". Dafür aber findet die Sprache Foers - von Übersetzer Henning Ahrens "flüssig" übertragen - die volle Zustimmung des Kritikers. Die "Lust an Dialogen" und die Freude an der "krummen" Sprache machen Foers neues Buch zu einer "brillanten" Erzählung, die "so sentimental ist, wie unsere Zeit es verlangt."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2005Jedes Buch ist nur der bestmögliche Kompromiss
Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer über die Trance beim Pingpongspiel und seinen neuen Roman „Extrem laut und unglaublich nah”
Am 24. August erscheint Jonathan Safran Foers neuer Roman „Extrem laut und unglaublich nah” (Kiepenheuer & Witsch), in dem er die Anschläge des 11. September aus der Perspektive eines Neunjährigen namens Oskar Schell erzählt, der seinen Vater in den Türmen verloren hat. In der Zwischenzeit wurde Foers Debütroman „Alles ist erleuchtet” von Liev Schreiber mit Elijah Wood verfilmt (US-Filmstart 22. August). Außerdem hat Foer, Jahrgang 1977, das Libretto für die Oper „Seven Attempted Escapes From Silence” geschrieben, die im September an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin uraufgeführt wird.
Jonathan Safran Foer: Es hat sich so einiges verändert. Ich bin nach Brooklyn gezogen, habe geheiratet, mir einen Hund zugelegt und bin Onkel geworden. Waren ein paar sehr nette Jahre gerade.
SZ: Vor zwei Jahren hatten Sie noch einen Roman in Arbeit, der in einem Museum spielen sollte, das einem fiktiven Autor gewidmet ist, dessen Mythos darauf beruht, dass er spurlos verschwand. Was ist daraus geworden?
Foer: Das Interessante ist, dass ich dieses Buch eigentlich nie bewusst zur Seite gelegt habe, um ein Neues zu beginnen. Ich habe es nur Stück für Stück verändert. Ich habe einen Ausschussordner auf meinem Computer, in dem ich alles ablege, das nicht ins Buch kommt. Und da habe ich mehr und mehr Stoff reingetan. Inzwischen sind in dem Ordner dreitausend Seiten. Nicht dass ich die nicht mochte. Manches davon mag ich sogar lieber als das ein oder andere im Buch. Aber ein Buch ist ja nicht einfach eine Sammlung deiner besten Seiten, es ist eher wie der bestmögliche Kompromiss.
SZ: Was ist denn davon in „Extrem laut und unglaublich nah” übrig geblieben?
Foer: Dass der Roman in New York spielt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger erstaunlich finde ich das, weil sich meine Erfahrungen in New York ja auch andauernd verändern. Und New York hat sich gewaltig verändert.
SZ: Die entscheidende Veränderung durch die Anschläge vom 11. September hatte sich aber schon zugetragen, als wir über den Museumsroman sprachen.
Foer: Aber da war es noch nicht so lange her. Da war alles sehr seltsam und traurig. Hm. Ich hasse es ja, wenn ich auf Worte wie seltsam oder traurig zurückgreife, weil sie dem allem nicht gerecht werden. Das war alles so unbegreiflich.
SZ: Haben Sie deswegen einen Neunjährigen zur Hauptfigur gemacht?
Foer: Nein, den Neunjährigen hatte ich schon, bevor sich das Buch um den 11. September drehte. Es fällt mir immer ziemlich schwer, zu rekonstruieren, wann und warum ich bestimmte Entscheidungen getroffen habe.
SZ: Das geht sonst eher Musikern so.
Foer: Das stimmt. Im Englischen gibt es diesen Spruch, dass eine Ameise kein Insektenkundler ist. Nur weil man etwas verkörpert, kann man es nicht erklären. Ich schreibe eigentlich immer dann am besten, wenn ich mir dessen am wenigsten bewusst bin. Der Maler Philip Guston hat erzählt, dass er jedes Mal, wenn er in sein Atelier ging, seine Frau und seine Tochter und sein Galerist mitkamen. Im Laufe des Tages sei einer nach dem anderen gegangen, und zum Schluss, wenn das Malen richtig gut lief, habe er dann selbst den Raum verlassen und nur das Malen an sich sei zurückgeblieben. Genauso geht es mir auch. Wenn das Schreiben richtig läuft, bin ich kaum da.
SZ: Musiker haben noch ein Instrument zwischen sich und dem Publikum. Ist das Schreiben nicht eher wie Singen?
Foer: Da hat man doch auch ein Instrument - die Sprache. Die stellt sich sogar sehr oft zwischen einen selbst und die Person, an die man sich richtet. Ein Freund von mir sagt, jeder Maler träumt davon, ein Schreiber zu sein, und jeder Schreiber, ein Maler zu sein. Jeder Maler würde sich gerne deutlicher erklären, jeder Schreiber genau das Gegenteil. Mit Sprache ist es manchmal verdammt schwer, nichts Konkretes auszusagen.
SZ: Als Kritiker ist es viel schwerer, über Musik zu schreiben als über ein Buch.
Foer: Das ist auch interessant: Schreiben ist die einzige Kunst, die sich mit ihren eigenen Mitteln kritisiert. Niemand kritisiert einen Song mit einem Song oder ein Bild mit einem Bild. Das ist auch mit ein Grund dafür, warum das Schreiben in den letzten hundert Jahren konservativer geblieben ist als jede andere Kunstform. Vergleicht man zum Beispiel Shakespeare mit Jonathan Franzens „Die Korrekturen”, dann würde Shakespeare „Die Korrekturen” immer noch erkennen können. Wenn man dagegen die Unterschiede zwischen Mozart und Eminem betrachtet, dann sind die gewaltig.
SZ: Grafische Elemente und Fotos spielen in „Extrem laut und unglaublich nah” eine wichtige Rolle. Haben Sie die Fotos selbst gemacht?
Foer: Ein paar. Viele habe ich aus Fotoarchiven. Ich habe bestimmt tausend Stunden im Onlinearchiv von Corbis verbracht und oft Sachen gefunden, nach denen ich gar nicht gesucht habe und dann den Text danach geändert. Das hat großen Spaß gemacht. Auch wenn mir viele vorwerfen, das sei bloß ein Gimmick. Was genauso schwachsinnig ist, als wenn man sagen würde, die Musik eines Balletts sei überflüssig, weil es doch ums Tanzen geht. Wenn ein Maler wie Ed Ruscha Worte in seine Bilder einbaut, stört es ja auch niemanden.
SZ: Man braucht eben ein Empfinden für Bildsprache und visuellen Rhythmus, das kann vielleicht nicht jeder nachvollziehen.
Foer: Über visuellen Rhythmus habe ich bei der Arbeit viel nachgedacht - wie sich Bilder aufeinander beziehen, wie eine Reihe von Bildern eine Art Reim entwickeln kann. Ich habe früher Schlagzeug gespielt, und das hat auf mein Schreiben enormen Einfluss gehabt. Wann immer ich schreibe, schlage ich mit dem Fuß einen Takt. Und wenn es um Bilder, Worte, Geschichten und Charaktere geht, denke ich eigentlich auch immer rhythmisch.
Ein guter Freund von mir, wieder ein Maler, hat mich zum Pingpongspielen gebracht. Er ist eigentlich ein sehr intellektueller Typ, aber er meinte, er sei ganz bei sich nur, wenn er Pingpong spielt, weil er dann gleichzeitig physisch und intellektuell aktiv sei. So geht es mir auch, weil man einerseits daran denken muss, was man tut, andererseits nicht zu genau darüber nachdenken darf, weil es sonst nicht mehr funktioniert. Beim Schlagzeugspielen geht es mir auch so.
SZ: Ist es beim Schreiben schwerer, diesen Zustand zu erreichen?
Foer: Ja, eben wegen der Sprache. Sprache ist so ungenau, dass man meistens weniger als ein Prozent von dem sagt, was man sagen könnte.
SZ: Weniger als ein Prozent?
Foer: Na ja, ich habe ja während der Arbeit an dem Buch drei, vier Jahre gelebt. Da gab es so viele Geschichten, die ich gerne erzählt hätte. So ein Buch ist ein winziger Ausschnitt aus einer persönlichen Erfahrung. Die meisten Leser glauben immer, so ein Buch sei die Summe des Autors selbst. Aber das ist ein Irrtum.
SZ: Sonst wäre es aber kein Roman, sondern ein Blog.
Foer: Ich glaube, ein Blog sind eher null Prozent. Wenn ich ein Buch schreibe, dann bringt mich das Buch zu den Punkten, die ich sagen will. Der Dichter W.H. Auden hat gesagt, er schaut sich an, was er schreibt, damit er sieht, was er denkt. Die meisten, die einen Blog schreiben, haben das Gefühl, dass ihr Leben irgendeine Bedeutung hat, das wollen sie mit dem Rest der Welt teilen. So geht es mir beim Schreiben gar nicht. Ich habe nichts gegen Blogs, es gibt sicher Blogs, die besser sind als mancher Roman. Aber eigentlich ist das alles eher deprimierend. Das hat so was von Bastelkeller. Gleichzeitig ist das Phänomen sehr erstaunlich, weil wir in einer Welt leben, in der wir als Individuen anonymer sind und gleichzeitig mehr Macht haben als je zuvor. Das ist ein eigenartiges Paradox.
SZ: Ist das eine Frage der Werkzeuge?
Foer: Theoretisch ist das eine wunderbare Sache. Aber da gibt es so viele Gefahren. Niemand muss sich mehr für seine Aussagen verantworten. Du kannst alles sagen, was du willst, und dabei so zerstörerisch sein, wie du willst. Bisher musste man sich in einem Bezugssystem legitimieren, wenn man etwas öffentlich machen wollte. Da gab es Lektoren, Redakteure, Verlage, die sich hinter dein Buch stellen mussten. Das waren alles Mechanismen, die uns vor durchgeknallten Botschaften geschützt haben. Heute herrscht in den Medien insgesamt die Lust am Vernichten.
Derzeit steht es höher im Kurs, etwas fertig zu machen, als etwas zu schaffen. In der Literatur ist das doch auch so. Haben Sie schon bemerkt, dass Kritiken immer bösartiger geworden sind? Haben Sie schon mal Michiko Kakuktani in der New York Times gelesen? Mit der ist doch irgendwas nicht in Ordnung. Die hat gerade über Michael Cunninghams neues Buch geschrieben. Ich konnte gar nicht glauben, wie fies das war. Inzwischen hebt die New York Times Book Review Verrisse sogar auf den Titel. Kann das die Aufgabe der Kritik sein?
SZ: Nun ja, wenn ein wichtiger Autor ein schlechtes Buch schreibt, dann ist das eben wichtig.
Foer: In dem Fall wird ein Verriss aber nicht viel ändern. Einem Bestsellerautor wird er sogar eher helfen. Würde man stattdessen ein geniales Debut auf den Titel heben, könnte das etwas verändern.
SZ: Richten sich solche Entscheidungen nicht oft auch nach der Prominenz des Kritikers? Oft kritisieren ja große Schriftsteller ihre großen Kollegen, das ist dann eben eine Sensation.
Foer: Das ist ziemlich billig. In anderen Ländern machen sie so was nicht. In Europa gibt es professionelle Kritiker, und so sollte das auch sein.
SZ: Aber wenn John Updike Tom Wolfes neues Buch verreißt und Tom Wolfe dann einen bösen Essay über Updike schreibt, schlägt das eben Wellen.
Foer: Aber brauchen wir solche Debatten?
SZ: Hat man Ihnen schon Kritiken angetragen?
Foer: Man hat mir angeboten, Philip Roths Frühwerke für eine neue Ausgabe zu besprechen. Das wäre eigentlich ein Traumjob gewesen. Aber ich habe trotzdem abgesagt, weil das ein Interessenskonflikt wäre.
SZ: Haben andere Schriftsteller über Sie geschrieben?
Foer: Walter Kern. Das war allerdings ein Super-GAU, weil das ein drittklassiger Schriftsteller ist, den niemand liest, und wann immer der über ein Buch schreibt, macht er es fix und fertig. Genau deswegen engagieren sie ihn ja auch. Wie einen Kampfhund. Der greift jeden Schriftsteller an, der jünger ist als er.
SZ: Das scheint Ihnen doch nahe zu gehen.
Foer: Nein, es liest sich eher amüsant. Im Großen und Ganzen wurde mein neues Buch sehr gut aufgenommen. Und was soll man auch sagen? Wenn mein Buch Mist sein sollte, schreibe ich eben ein anderes. Ich habe nie behauptet, dass ich nur gute Bücher schreibe.
Interview: Andrian Kreye
„Ich habe nie behauptet, dass ich nur gute Bücher schreibe.” Jonathan Safran Foer
Foto: Neville Elder/ Corbis
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Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer über die Trance beim Pingpongspiel und seinen neuen Roman „Extrem laut und unglaublich nah”
Am 24. August erscheint Jonathan Safran Foers neuer Roman „Extrem laut und unglaublich nah” (Kiepenheuer & Witsch), in dem er die Anschläge des 11. September aus der Perspektive eines Neunjährigen namens Oskar Schell erzählt, der seinen Vater in den Türmen verloren hat. In der Zwischenzeit wurde Foers Debütroman „Alles ist erleuchtet” von Liev Schreiber mit Elijah Wood verfilmt (US-Filmstart 22. August). Außerdem hat Foer, Jahrgang 1977, das Libretto für die Oper „Seven Attempted Escapes From Silence” geschrieben, die im September an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin uraufgeführt wird.
Jonathan Safran Foer: Es hat sich so einiges verändert. Ich bin nach Brooklyn gezogen, habe geheiratet, mir einen Hund zugelegt und bin Onkel geworden. Waren ein paar sehr nette Jahre gerade.
SZ: Vor zwei Jahren hatten Sie noch einen Roman in Arbeit, der in einem Museum spielen sollte, das einem fiktiven Autor gewidmet ist, dessen Mythos darauf beruht, dass er spurlos verschwand. Was ist daraus geworden?
Foer: Das Interessante ist, dass ich dieses Buch eigentlich nie bewusst zur Seite gelegt habe, um ein Neues zu beginnen. Ich habe es nur Stück für Stück verändert. Ich habe einen Ausschussordner auf meinem Computer, in dem ich alles ablege, das nicht ins Buch kommt. Und da habe ich mehr und mehr Stoff reingetan. Inzwischen sind in dem Ordner dreitausend Seiten. Nicht dass ich die nicht mochte. Manches davon mag ich sogar lieber als das ein oder andere im Buch. Aber ein Buch ist ja nicht einfach eine Sammlung deiner besten Seiten, es ist eher wie der bestmögliche Kompromiss.
SZ: Was ist denn davon in „Extrem laut und unglaublich nah” übrig geblieben?
Foer: Dass der Roman in New York spielt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger erstaunlich finde ich das, weil sich meine Erfahrungen in New York ja auch andauernd verändern. Und New York hat sich gewaltig verändert.
SZ: Die entscheidende Veränderung durch die Anschläge vom 11. September hatte sich aber schon zugetragen, als wir über den Museumsroman sprachen.
Foer: Aber da war es noch nicht so lange her. Da war alles sehr seltsam und traurig. Hm. Ich hasse es ja, wenn ich auf Worte wie seltsam oder traurig zurückgreife, weil sie dem allem nicht gerecht werden. Das war alles so unbegreiflich.
SZ: Haben Sie deswegen einen Neunjährigen zur Hauptfigur gemacht?
Foer: Nein, den Neunjährigen hatte ich schon, bevor sich das Buch um den 11. September drehte. Es fällt mir immer ziemlich schwer, zu rekonstruieren, wann und warum ich bestimmte Entscheidungen getroffen habe.
SZ: Das geht sonst eher Musikern so.
Foer: Das stimmt. Im Englischen gibt es diesen Spruch, dass eine Ameise kein Insektenkundler ist. Nur weil man etwas verkörpert, kann man es nicht erklären. Ich schreibe eigentlich immer dann am besten, wenn ich mir dessen am wenigsten bewusst bin. Der Maler Philip Guston hat erzählt, dass er jedes Mal, wenn er in sein Atelier ging, seine Frau und seine Tochter und sein Galerist mitkamen. Im Laufe des Tages sei einer nach dem anderen gegangen, und zum Schluss, wenn das Malen richtig gut lief, habe er dann selbst den Raum verlassen und nur das Malen an sich sei zurückgeblieben. Genauso geht es mir auch. Wenn das Schreiben richtig läuft, bin ich kaum da.
SZ: Musiker haben noch ein Instrument zwischen sich und dem Publikum. Ist das Schreiben nicht eher wie Singen?
Foer: Da hat man doch auch ein Instrument - die Sprache. Die stellt sich sogar sehr oft zwischen einen selbst und die Person, an die man sich richtet. Ein Freund von mir sagt, jeder Maler träumt davon, ein Schreiber zu sein, und jeder Schreiber, ein Maler zu sein. Jeder Maler würde sich gerne deutlicher erklären, jeder Schreiber genau das Gegenteil. Mit Sprache ist es manchmal verdammt schwer, nichts Konkretes auszusagen.
SZ: Als Kritiker ist es viel schwerer, über Musik zu schreiben als über ein Buch.
Foer: Das ist auch interessant: Schreiben ist die einzige Kunst, die sich mit ihren eigenen Mitteln kritisiert. Niemand kritisiert einen Song mit einem Song oder ein Bild mit einem Bild. Das ist auch mit ein Grund dafür, warum das Schreiben in den letzten hundert Jahren konservativer geblieben ist als jede andere Kunstform. Vergleicht man zum Beispiel Shakespeare mit Jonathan Franzens „Die Korrekturen”, dann würde Shakespeare „Die Korrekturen” immer noch erkennen können. Wenn man dagegen die Unterschiede zwischen Mozart und Eminem betrachtet, dann sind die gewaltig.
SZ: Grafische Elemente und Fotos spielen in „Extrem laut und unglaublich nah” eine wichtige Rolle. Haben Sie die Fotos selbst gemacht?
Foer: Ein paar. Viele habe ich aus Fotoarchiven. Ich habe bestimmt tausend Stunden im Onlinearchiv von Corbis verbracht und oft Sachen gefunden, nach denen ich gar nicht gesucht habe und dann den Text danach geändert. Das hat großen Spaß gemacht. Auch wenn mir viele vorwerfen, das sei bloß ein Gimmick. Was genauso schwachsinnig ist, als wenn man sagen würde, die Musik eines Balletts sei überflüssig, weil es doch ums Tanzen geht. Wenn ein Maler wie Ed Ruscha Worte in seine Bilder einbaut, stört es ja auch niemanden.
SZ: Man braucht eben ein Empfinden für Bildsprache und visuellen Rhythmus, das kann vielleicht nicht jeder nachvollziehen.
Foer: Über visuellen Rhythmus habe ich bei der Arbeit viel nachgedacht - wie sich Bilder aufeinander beziehen, wie eine Reihe von Bildern eine Art Reim entwickeln kann. Ich habe früher Schlagzeug gespielt, und das hat auf mein Schreiben enormen Einfluss gehabt. Wann immer ich schreibe, schlage ich mit dem Fuß einen Takt. Und wenn es um Bilder, Worte, Geschichten und Charaktere geht, denke ich eigentlich auch immer rhythmisch.
Ein guter Freund von mir, wieder ein Maler, hat mich zum Pingpongspielen gebracht. Er ist eigentlich ein sehr intellektueller Typ, aber er meinte, er sei ganz bei sich nur, wenn er Pingpong spielt, weil er dann gleichzeitig physisch und intellektuell aktiv sei. So geht es mir auch, weil man einerseits daran denken muss, was man tut, andererseits nicht zu genau darüber nachdenken darf, weil es sonst nicht mehr funktioniert. Beim Schlagzeugspielen geht es mir auch so.
SZ: Ist es beim Schreiben schwerer, diesen Zustand zu erreichen?
Foer: Ja, eben wegen der Sprache. Sprache ist so ungenau, dass man meistens weniger als ein Prozent von dem sagt, was man sagen könnte.
SZ: Weniger als ein Prozent?
Foer: Na ja, ich habe ja während der Arbeit an dem Buch drei, vier Jahre gelebt. Da gab es so viele Geschichten, die ich gerne erzählt hätte. So ein Buch ist ein winziger Ausschnitt aus einer persönlichen Erfahrung. Die meisten Leser glauben immer, so ein Buch sei die Summe des Autors selbst. Aber das ist ein Irrtum.
SZ: Sonst wäre es aber kein Roman, sondern ein Blog.
Foer: Ich glaube, ein Blog sind eher null Prozent. Wenn ich ein Buch schreibe, dann bringt mich das Buch zu den Punkten, die ich sagen will. Der Dichter W.H. Auden hat gesagt, er schaut sich an, was er schreibt, damit er sieht, was er denkt. Die meisten, die einen Blog schreiben, haben das Gefühl, dass ihr Leben irgendeine Bedeutung hat, das wollen sie mit dem Rest der Welt teilen. So geht es mir beim Schreiben gar nicht. Ich habe nichts gegen Blogs, es gibt sicher Blogs, die besser sind als mancher Roman. Aber eigentlich ist das alles eher deprimierend. Das hat so was von Bastelkeller. Gleichzeitig ist das Phänomen sehr erstaunlich, weil wir in einer Welt leben, in der wir als Individuen anonymer sind und gleichzeitig mehr Macht haben als je zuvor. Das ist ein eigenartiges Paradox.
SZ: Ist das eine Frage der Werkzeuge?
Foer: Theoretisch ist das eine wunderbare Sache. Aber da gibt es so viele Gefahren. Niemand muss sich mehr für seine Aussagen verantworten. Du kannst alles sagen, was du willst, und dabei so zerstörerisch sein, wie du willst. Bisher musste man sich in einem Bezugssystem legitimieren, wenn man etwas öffentlich machen wollte. Da gab es Lektoren, Redakteure, Verlage, die sich hinter dein Buch stellen mussten. Das waren alles Mechanismen, die uns vor durchgeknallten Botschaften geschützt haben. Heute herrscht in den Medien insgesamt die Lust am Vernichten.
Derzeit steht es höher im Kurs, etwas fertig zu machen, als etwas zu schaffen. In der Literatur ist das doch auch so. Haben Sie schon bemerkt, dass Kritiken immer bösartiger geworden sind? Haben Sie schon mal Michiko Kakuktani in der New York Times gelesen? Mit der ist doch irgendwas nicht in Ordnung. Die hat gerade über Michael Cunninghams neues Buch geschrieben. Ich konnte gar nicht glauben, wie fies das war. Inzwischen hebt die New York Times Book Review Verrisse sogar auf den Titel. Kann das die Aufgabe der Kritik sein?
SZ: Nun ja, wenn ein wichtiger Autor ein schlechtes Buch schreibt, dann ist das eben wichtig.
Foer: In dem Fall wird ein Verriss aber nicht viel ändern. Einem Bestsellerautor wird er sogar eher helfen. Würde man stattdessen ein geniales Debut auf den Titel heben, könnte das etwas verändern.
SZ: Richten sich solche Entscheidungen nicht oft auch nach der Prominenz des Kritikers? Oft kritisieren ja große Schriftsteller ihre großen Kollegen, das ist dann eben eine Sensation.
Foer: Das ist ziemlich billig. In anderen Ländern machen sie so was nicht. In Europa gibt es professionelle Kritiker, und so sollte das auch sein.
SZ: Aber wenn John Updike Tom Wolfes neues Buch verreißt und Tom Wolfe dann einen bösen Essay über Updike schreibt, schlägt das eben Wellen.
Foer: Aber brauchen wir solche Debatten?
SZ: Hat man Ihnen schon Kritiken angetragen?
Foer: Man hat mir angeboten, Philip Roths Frühwerke für eine neue Ausgabe zu besprechen. Das wäre eigentlich ein Traumjob gewesen. Aber ich habe trotzdem abgesagt, weil das ein Interessenskonflikt wäre.
SZ: Haben andere Schriftsteller über Sie geschrieben?
Foer: Walter Kern. Das war allerdings ein Super-GAU, weil das ein drittklassiger Schriftsteller ist, den niemand liest, und wann immer der über ein Buch schreibt, macht er es fix und fertig. Genau deswegen engagieren sie ihn ja auch. Wie einen Kampfhund. Der greift jeden Schriftsteller an, der jünger ist als er.
SZ: Das scheint Ihnen doch nahe zu gehen.
Foer: Nein, es liest sich eher amüsant. Im Großen und Ganzen wurde mein neues Buch sehr gut aufgenommen. Und was soll man auch sagen? Wenn mein Buch Mist sein sollte, schreibe ich eben ein anderes. Ich habe nie behauptet, dass ich nur gute Bücher schreibe.
Interview: Andrian Kreye
„Ich habe nie behauptet, dass ich nur gute Bücher schreibe.” Jonathan Safran Foer
Foto: Neville Elder/ Corbis
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»Sein erster Roman war eine Sensation, der zweite ist noch besser. Ein nahezu beängstigend schönes, sentimentales und schlaues Buch...ebenso eingängig wie stimmig wie unvergeßlich.« Welt am Sonntag