Alles ist genauso passiert, soweit ich mich erinnere ...
Ihre Wege kreuzen sich schon, laufen nebeneinander, lange, bevor Alexander Osang beschließt, Uwes Geschichte aufzuschreiben. Und mit ihm aufbricht auf einem Schiff in die Vergangenheit. Die weißen Nächte über der Ostsee - sie sind fast hell, verheißungsvoll und trügerisch, so wie die Nachwendejahre, die beide geprägt haben. Doch während Uwe der Unbestimmte, Flirrende bleibt, während sich seine Geschichte im vagen Licht der Sommernächte auflöst, beginnt für Alexander Osang eine Reise zu sich selbst, getrieben von der Frage, wie er zu dem wurde, der er ist.
Eindringlich und mit staunendem Blick erzählt er von den Zeiten des Umbruchs und davon, wie sich das Leben in der Erinnerung zu einer Erzählung verdichtet, bei der die Wahrheit vielleicht die geringste Rolle spielt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2021Flucht im Kofferraum des Diplomaten
Als das Leben für einige den roten Teppich ausrollte: Alexander Osang beschreibt zwei Leben nach 1989
Für eine "Spiegel"-Sonderbeilage zum dreißigsten Mauerfalljubiläum soll der Reporter Alexander Osang ein Porträt schreiben, das dem Leser den rätselhaften Ostdeutschen erklärt und dessen Wesen zumindest ein bisschen entschlüsselt. Selbst Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer umweht den Ostdeutschen noch etwas Geheimnisvolles. Osang, selbst Ostdeutscher, denkt sofort an Uwe, jenen schillernden Bekannten, dessen aufregendes Leben leicht ein Broadway-Musical inspirieren könnte oder einen Spielfilm. Er kennt Uwe aus seiner Zeit in New York, er scheint der perfekte Protagonist für ein schwieriges Vorhaben zu sein, und glücklicherweise stimmt er zu. Also begleitet Osang Uwe und dessen Mutter auf einer Reise, es geht mit dem Schiff von Helsinki nach St. Petersburg. Zwei Nächte Fähre, drei Tage St. Petersburg, viel Zeit für einen Reporter, um einem Menschen näherzukommen und ihm gut gehütete Geschichten zu entlocken.
Aber der Artikel erscheint nicht in der Sonderbeilage, denn Osangs Kollegen aus der Dokumentation des Magazins bereiten Uwes unmöglich zu verifizierende Abenteuergeschichten Unbehagen. Existierte Nastja, die mit einer chinesischen Armee Motorräder und Kühlschränke schmuggelte, tatsächlich? Was ist mit Andjschella aus Murmansk, die von sich behauptet, mit fünfzig immer noch fruchtbar zu sein? Ganz zu schweigen von Uwes Tante Antje, die im Kofferraum eines argentinischen Botschafters in den Westen flieht.
Osang ist erleichtert, ja froh, eine Last fällt von seinen Reporterschultern. Uwes Leben ist zu groß, zu aufregend, zu widersprüchlich, um es auf ein paar Seiten in einem Magazin abzuhandeln - und, was noch schwerer wiegt, es hat mehr mit Alexander Osang selbst und dessen Familiengeschichte zu tun, als er am Anfang des Projekts geahnt haben dürfte. Und so ist aus einer für ein Magazin geplanten Geschichte ein Buch geworden, das nun vorliegt, "Fast hell" heißt und am ehesten in die Kategorie erzählendes Sachbuch fällt.
"Die Leben der anderen helfen mir, mein eigenes besser zu verstehen. Wenn sie überleben, kann ich es auch", heißt es zu Beginn des Buchs, und was Osang mit diesen Sätzen meint, wird mit jeder Seite deutlicher. Osang erzählt nicht nur Uwes Geschichte, er erzählt auch seine eigene, eine Art Doppelporträt auf gut zweihundert Seiten.
Beginnen wir mit Uwe: Er ist Kindersprecher beim Berliner Rundfunk, stammt aus der Provinz, will Schauspieler werden wie der Großvater, flüchtet oft zu seiner Oma nach Eichenwalde, "in eine Gegenwelt mit Büchern, einem Klavier, den Schauspielergeschichten". Er ist schwul, sein Vater bevorzugt seinen Bruder Klaus, die Mutter fremdelt mit Uwes Liebe zu Männern. Uwe fühlt sich nie zugehörig, ein Fremder in einem verriegelten Land, Opfer der Umstände. Verzagen aber kommt für ihn nicht in Frage, denn die Welt, sie lockt, und als Uwe 24 Jahre alt ist, fällt die Mauer. Alles ist möglich. Das Leben rollt unversehens den roten Teppich aus, wenn auch längst nicht für alle.
Uwe jedenfalls betritt ihn, ohne zu zögern. Er lebt in Hongkong, wo die Hitze feucht und klebrig ist und jeder Geruch fremd. Er reist nach Argentinien, zieht nach New York, heuert bei einer Privatbank an, investiert in Immobilien, erlebt eine irre Geschichte nach der nächsten, und beim Lesen wird einem manchmal ganz schwindlig von den vielen Abenteuern, was auch daran liegen mag, dass der eigene Bewegungsradius seit Monaten schmerzhaft winzig ist. Geschichten des Aufbruchs elektrisieren gerade enorm.
Und Osang schreibt in seinem fesselnden Osang-Sound. Man begegnet einem routinierten Erzähler, der sich für Menschen interessiert und ihnen nicht nur Material für eine gute Story abluchst. Anders formuliert: Osang verrät seine Protagonisten nicht. Man glaubt ihm, wenn er von Skrupeln schreibt, von der Angst, einem Menschen nicht gerecht zu werden, weil es immer etwas Vermessenes hat, fremde Geschichten zu Papier zu bringen und sie dramaturgisch maximal in Szene zu setzen. In "Fast hell" beschreibt Osang, wie er sich in Uwes Leben vortastet - und gleichzeitig in sein eigenes.
Die Entdeckerlust verbindet beide. So wie Uwe schießt auch Osang nach dem Mauerfall "wie eine Feuerwerksrakete in die Welt". Als wollte der knapp Dreißigjährige all seine Träume in kürzester Zeit verwirklichen, legt er ein gefährliches Tempo vor, das eines Getriebenen, der auch vor sich selbst flieht, der das Alte einerseits abschütteln will und dann doch wieder nicht. Dass man sich nie entkommt, ist zwar eine Binsenweisheit, aber man verdrängt sie allzu gern. Bis heute bereitet es Osang Schwierigkeiten, Menschen aus dem Westen des Landes seinen sozialistischen Alltag im Wendeherbst zu erklären. "Sie sahen mich entweder auf Appellplätzen herumstehen oder in Kellerräumen von Widerstandskirchen Flugblätter drucken." Der Kopf funktioniere nun einmal so, er wolle Opfer oder Täter. Leider liegen die Dinge nie derart einfach.
Während der auf etlichen Hochzeiten tanzende Uwe dem Leser langsam entgleitet, sich in eine Romanfigur zu verwandeln scheint mit unscharfen Konturen und räuberpistolenhaften Geschichten, rückt einem Osang, der fragt, zweifelt, mit sich hadert, immer näher. Osang und Uwe sind Wendegewinner, die Väter der beiden Wendeverlierer. Er habe, so Osang, seine Karriere auf der ostdeutschen Trümmerlandschaft aufgebaut, Gestrauchelte, Enttäuschte, Betrogene beschrieben. Verlierer, oft ohne eigenes Zutun.
Sobald Romane oder Sachbücher erscheinen, die sich mit den gewaltigen Umbrüchen, die die Wende gebracht hat, beschäftigen, steht sofort die Frage im Raum, ob dieses oder jenes Werk nun der langersehnte Wenderoman sei - eine für viele Schriftsteller (etwa Ingo Schulze) ärgerliche Etikettierung - oder die augenöffnende Erzählung. Doch das ist die falsche Frage, denn kein Autor kann das allein leisten. Osangs Buch steht in einer Reihe literarischer und nichtliterarischer Werke, die ein helleres Licht auf ein Stück deutsche Geschichte werfen - und in dieser Reihe funkelt es.
MELANIE MÜHL
Alexander Osang: "Fast hell".
Aufbau Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als das Leben für einige den roten Teppich ausrollte: Alexander Osang beschreibt zwei Leben nach 1989
Für eine "Spiegel"-Sonderbeilage zum dreißigsten Mauerfalljubiläum soll der Reporter Alexander Osang ein Porträt schreiben, das dem Leser den rätselhaften Ostdeutschen erklärt und dessen Wesen zumindest ein bisschen entschlüsselt. Selbst Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer umweht den Ostdeutschen noch etwas Geheimnisvolles. Osang, selbst Ostdeutscher, denkt sofort an Uwe, jenen schillernden Bekannten, dessen aufregendes Leben leicht ein Broadway-Musical inspirieren könnte oder einen Spielfilm. Er kennt Uwe aus seiner Zeit in New York, er scheint der perfekte Protagonist für ein schwieriges Vorhaben zu sein, und glücklicherweise stimmt er zu. Also begleitet Osang Uwe und dessen Mutter auf einer Reise, es geht mit dem Schiff von Helsinki nach St. Petersburg. Zwei Nächte Fähre, drei Tage St. Petersburg, viel Zeit für einen Reporter, um einem Menschen näherzukommen und ihm gut gehütete Geschichten zu entlocken.
Aber der Artikel erscheint nicht in der Sonderbeilage, denn Osangs Kollegen aus der Dokumentation des Magazins bereiten Uwes unmöglich zu verifizierende Abenteuergeschichten Unbehagen. Existierte Nastja, die mit einer chinesischen Armee Motorräder und Kühlschränke schmuggelte, tatsächlich? Was ist mit Andjschella aus Murmansk, die von sich behauptet, mit fünfzig immer noch fruchtbar zu sein? Ganz zu schweigen von Uwes Tante Antje, die im Kofferraum eines argentinischen Botschafters in den Westen flieht.
Osang ist erleichtert, ja froh, eine Last fällt von seinen Reporterschultern. Uwes Leben ist zu groß, zu aufregend, zu widersprüchlich, um es auf ein paar Seiten in einem Magazin abzuhandeln - und, was noch schwerer wiegt, es hat mehr mit Alexander Osang selbst und dessen Familiengeschichte zu tun, als er am Anfang des Projekts geahnt haben dürfte. Und so ist aus einer für ein Magazin geplanten Geschichte ein Buch geworden, das nun vorliegt, "Fast hell" heißt und am ehesten in die Kategorie erzählendes Sachbuch fällt.
"Die Leben der anderen helfen mir, mein eigenes besser zu verstehen. Wenn sie überleben, kann ich es auch", heißt es zu Beginn des Buchs, und was Osang mit diesen Sätzen meint, wird mit jeder Seite deutlicher. Osang erzählt nicht nur Uwes Geschichte, er erzählt auch seine eigene, eine Art Doppelporträt auf gut zweihundert Seiten.
Beginnen wir mit Uwe: Er ist Kindersprecher beim Berliner Rundfunk, stammt aus der Provinz, will Schauspieler werden wie der Großvater, flüchtet oft zu seiner Oma nach Eichenwalde, "in eine Gegenwelt mit Büchern, einem Klavier, den Schauspielergeschichten". Er ist schwul, sein Vater bevorzugt seinen Bruder Klaus, die Mutter fremdelt mit Uwes Liebe zu Männern. Uwe fühlt sich nie zugehörig, ein Fremder in einem verriegelten Land, Opfer der Umstände. Verzagen aber kommt für ihn nicht in Frage, denn die Welt, sie lockt, und als Uwe 24 Jahre alt ist, fällt die Mauer. Alles ist möglich. Das Leben rollt unversehens den roten Teppich aus, wenn auch längst nicht für alle.
Uwe jedenfalls betritt ihn, ohne zu zögern. Er lebt in Hongkong, wo die Hitze feucht und klebrig ist und jeder Geruch fremd. Er reist nach Argentinien, zieht nach New York, heuert bei einer Privatbank an, investiert in Immobilien, erlebt eine irre Geschichte nach der nächsten, und beim Lesen wird einem manchmal ganz schwindlig von den vielen Abenteuern, was auch daran liegen mag, dass der eigene Bewegungsradius seit Monaten schmerzhaft winzig ist. Geschichten des Aufbruchs elektrisieren gerade enorm.
Und Osang schreibt in seinem fesselnden Osang-Sound. Man begegnet einem routinierten Erzähler, der sich für Menschen interessiert und ihnen nicht nur Material für eine gute Story abluchst. Anders formuliert: Osang verrät seine Protagonisten nicht. Man glaubt ihm, wenn er von Skrupeln schreibt, von der Angst, einem Menschen nicht gerecht zu werden, weil es immer etwas Vermessenes hat, fremde Geschichten zu Papier zu bringen und sie dramaturgisch maximal in Szene zu setzen. In "Fast hell" beschreibt Osang, wie er sich in Uwes Leben vortastet - und gleichzeitig in sein eigenes.
Die Entdeckerlust verbindet beide. So wie Uwe schießt auch Osang nach dem Mauerfall "wie eine Feuerwerksrakete in die Welt". Als wollte der knapp Dreißigjährige all seine Träume in kürzester Zeit verwirklichen, legt er ein gefährliches Tempo vor, das eines Getriebenen, der auch vor sich selbst flieht, der das Alte einerseits abschütteln will und dann doch wieder nicht. Dass man sich nie entkommt, ist zwar eine Binsenweisheit, aber man verdrängt sie allzu gern. Bis heute bereitet es Osang Schwierigkeiten, Menschen aus dem Westen des Landes seinen sozialistischen Alltag im Wendeherbst zu erklären. "Sie sahen mich entweder auf Appellplätzen herumstehen oder in Kellerräumen von Widerstandskirchen Flugblätter drucken." Der Kopf funktioniere nun einmal so, er wolle Opfer oder Täter. Leider liegen die Dinge nie derart einfach.
Während der auf etlichen Hochzeiten tanzende Uwe dem Leser langsam entgleitet, sich in eine Romanfigur zu verwandeln scheint mit unscharfen Konturen und räuberpistolenhaften Geschichten, rückt einem Osang, der fragt, zweifelt, mit sich hadert, immer näher. Osang und Uwe sind Wendegewinner, die Väter der beiden Wendeverlierer. Er habe, so Osang, seine Karriere auf der ostdeutschen Trümmerlandschaft aufgebaut, Gestrauchelte, Enttäuschte, Betrogene beschrieben. Verlierer, oft ohne eigenes Zutun.
Sobald Romane oder Sachbücher erscheinen, die sich mit den gewaltigen Umbrüchen, die die Wende gebracht hat, beschäftigen, steht sofort die Frage im Raum, ob dieses oder jenes Werk nun der langersehnte Wenderoman sei - eine für viele Schriftsteller (etwa Ingo Schulze) ärgerliche Etikettierung - oder die augenöffnende Erzählung. Doch das ist die falsche Frage, denn kein Autor kann das allein leisten. Osangs Buch steht in einer Reihe literarischer und nichtliterarischer Werke, die ein helleres Licht auf ein Stück deutsche Geschichte werfen - und in dieser Reihe funkelt es.
MELANIE MÜHL
Alexander Osang: "Fast hell".
Aufbau Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- [Euro].
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