Der Kampf um Freiheit in Ostdeutschland - Ilko-Sascha Kowalczuks kompromisslose Analyse 1989/90 erlitt Ostdeutschland einen "Freiheitsschock", das ist die Grundthese dieses Hörbuches. Ilko-Sascha Kowalczuk erzählt die Geschichte Ostdeutschlands seit 1990 als Kampf um die Freiheit - ein Kampf, dessen Ausgang richtungsweisend ist für die Zukunft ganz Deutschlands. Er will aufrütteln: zu mehr aktiver Eigenverantwortung, zu einer Abkehr von der eigenen Opferrolle und zu einem Blick auf die Geschichte, bei dem die DDR nicht immer schöner wird, je länger sie her ist. Die Diktatur bleibt in diesem Hörbuch eine Diktatur und die Einheit eine Freiheitserfolgsgeschichte: eine Intervention gegen die antifreiheitlichen Strömungen von einem der profiliertesten ostdeutschen Intellektuellen. Die AfD ist ein gesamtdeutsches Phänomen, aber in Ostdeutschland ist sie besonders erfolgreich. Wie ist das zu erklären? Wieso wird die liberale Demokratie gerade dort in Frage gestellt, wo die erste erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden stattfand? Über Ostdeutschland wird gerade intensiv diskutiert, und Ilko-Sascha Kowalczuk ist eine der markantesten Stimmen dieser Debatte. Der Kampf um die Freiheit ist sein Lebensthema. Selbst in der SED-Diktatur groß geworden, hat er Standardwerke zur Geschichte der DDR und des Kommunismus vorgelegt, aber auch zur Revolution von 1989 und den Folgen der "Übernahme" der DDR durch die Bundesrepublik. Kowalczuk will die Ostdeutschen aus ihrer Opferrolle herausholen. Der Westen mag sich seinen Osten "erfunden" haben. Doch auch der Osten erfand und erfindet sich seinen Westen. In der DDR war der Westen für viele ein Sehnsuchtsort, doch auch die antiwestliche Propaganda der SED hatte weit zurück reichende Wurzeln. Sie wurden durch die Frustrationen des Vereinigungsprozesses verstärkt. Und sie hindern jetzt viele Ostdeutsche daran, sich die liberale Demokratie der Bundesrepublik zueigen zu machen.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Schlüssig findet Rezensent Marko Martin Ilko-Sascha Kowalczuks Argumentation in diesem Buch, das das Erbe der DDR-Diktatur in der deutschen Gegenwart behandelt. Dezidiert gegen ostalgische Bestseller von Dirk Oschmann und Katja Hoyer argumentierend, zeichne der Autor nach, wie die Repression durch den SED-Staat kleingeredet und die gesamtdeutschen Probleme nach 1989 lediglich dem Westen angerechnet worden seien - Argumentationsmuster, die auch auch AfD und BSW bedienen, erinnere Kowalczuk. Es geht ihm dabei nicht um moralische Kritik, sondern darum, die Bewusstseinslagen von Menschen zu verstehen, die materiell inzwischen oft gut gestellt sind, aber trotzdem gegen Eliten und Fremde polemisieren, stellt Martin klar. Essayistisch arbeite sich Kowalczuk von der Zeit vor 1989 über die Wiedervereinigung bis in die Gegenwart vor, sichtbar wird dem Kritiker dabei eine Tradition des Autoritarismus, die noch weitaus weiter zurück reiche, bis in Wilhelminische Zeiten. Abschließend weist Martin mit Kowalczuk darauf hin, dass es nicht um ein ostdeutsches Regionalproblem geht, sondern dass die beschriebenen Bewusstseinslagen auch auf Westdeutschland übergreifen könnten. Insbesondere im Ukrainekrieg sieht der Autor einen möglichen Wendepunkt, heißt es zum Schluss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2024Wut der Verzweiflung
Die Ostdeutschen verstehen die Demokratie nicht und sind selbstmitleidig:
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat ein zorniges Buch geschrieben.
In zwei Wochen sieht die Bundesrepublik vielleicht ganz anders aus. Wenn die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen und danach in Brandenburg ausfallen wie zuletzt vorhergesagt, dann erreicht ein lange schwelender Konflikt das politische System des Gesamtstaats. Es drohen dysfunktionale Parteienbündnisse und lokale Verfassungskrisen, die bis in die Bundespolitik ausstrahlen.
Schon dass das Bündnis Sahra Wagenknecht, für Regierungsbildungen in den Ostländern vielleicht bald unentbehrlich, seine Mitwirkung an eine außenpolitische Frage knüpft – keine Waffenlieferungen an die Ukraine –, zeigt das gesamtdeutsche Potenzial der bevorstehenden Verschiebungen. Die Balancen zwischen Bund und Ländern mit ihrem Geben und Nehmen, die Rundfunkstaatsverträge, gemeinsam getragene Kulturinstitutionen, eine Migrationspolitik, die auf lokale Kooperation angewiesen ist – all das kann in Gefahr kommen.
Den voraneilenden Bewusstseinsschock lieferte, wie so oft, die Literatur. Es geht um den Bruch von 1990, das Ende und Nachleben der DDR, die vom Westen dominierte Vereinigung, um wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Kahlschlag. Eine neue Generation von Erzählerinnen hat jugendliche Erfahrungen von Gesetzlosigkeit, Autoritätsverlust und Gewalt nach 1990 schon längst für ein gesamtdeutsches Publikum plastisch gemacht. Dabei wird auch in die Familiengeschichten vor 1989 geleuchtet. Die Vergangenheitsbewältigung, die unmittelbar nach dem Ende der DDR einsetzte, geht in eine neue, schmerzhafte Runde.
Steffen Mau, dessen äußerst konzentrierter Essay „Ungleich vereint“ soziologische Befunde zur Diagnose einer Verstetigung der Ost-West-Unterschiede – in einem Wortspiel als „Ossifizierung“ (in Anlehnung an Ossifikation, Verknöcherung) – bündelt, hat dabei auf eine wichtige Bedingung der Aufarbeitung seit 1990 hingewiesen: Diese findet nicht in einem Gespräch „unter sich“/„unter uns“ der Ostdeutschen statt, sondern vor dem immer anwesenden Publikum der Westdeutschen. Diese folgten den Auseinandersetzungen oft mit Gefühlen der Überlegenheit, mit herablassendem Verständnis oder selbstgerechter Unbetroffenheit. Oder gar nicht, aus Desinteresse.
Aber mit der lässigen Distanz des Westens ist es jetzt vorbei, nicht nur wegen der Heftigkeit der Vorwürfe, die ihn erreichen, sondern mehr noch wegen des sich abzeichnenden Schadens am politischen System des Gesamtstaats, der aus dem Osten droht. Dabei, so Mau, hat der Westen von Haus aus gar keine „Identität“, so wie sie der Osten im Epochenbruch neu ausbildete. Sprechchöre in Fußballstadien mit „West-West-Westdeutschland“ bleiben vorerst unwahrscheinlich.
In dieser Lage muss man bei jeder markanten Diagnose fragen, an wen genau sie sich wendet. Dirk Oschmanns wütende Brandschrift von der „Erfindung des Ostens“ hat eine doppelte Zielrichtung: nach Westen als Vorwurf, in den Osten hinein als Selbstverständigung. Der Westen habe den Osten übernommen, kolonisiert, entwertet und exotisiert. Aber der Westen fällt als Adressat mangels Engagiertheit und Geschlossenheit eben aus, was die Kränkung womöglich steigert. Dabei ist an Oschmanns Vorwürfen natürlich einiges dran, wie Steffen Mau in viel kühlerer, überparteilicher Diktion festhält. Vor allem das Kapitel „Ausgebremste Demokratisierung“ seines Essays zeigt die Kosten der administrativen Sofortübernahme nach 1990.
Dabei werden auch für westliche Leser plausible Kontrollfragen gestellt: Wenn heute ein paar protestierende Bauerntraktoren unmittelbaren politischen Effekt machen können, warum blieben dann wochenlange Hungerstreiks von Kalikumpeln in Bischofferode 1993 ohne Wirkung? Stimmt es wirklich, dass es im Osten kein geeignetes Führungspersonal gab? Die anderen Länder Osteuropas mussten schließlich auch ohne personellen Westimport auskommen.
In diesen Tagen erscheint eine neue Bestandsaufnahme, nicht abgeklärt wie bei Mau, sondern wütend wie Oschmann, aber in entgegengesetzter Stoßrichtung. Das Buch „Freiheitsschock“ des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuks ist ein Anti-Oschmann, die Gegenrechnung, eine wilde und anschauliche, streckenweise allerdings auch grobmotorische und ungerechte Mischung aus Geschichtsschreibung, autobiografischem Memoir, bitterer Polemik und politischem Bekenntnis.
Oschmann, Mau, Kowalczuk sind gleichaltrig (1967 und 1968 geboren), alle drei kommen aus der DDR, sie waren beim Fall der Mauer also schon junge Erwachsene. Und es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich man auf die gleiche Generationenlage reagieren kann. Wenn man von Wessi zu Wessi einen Hinweis geben darf: Lest sie alle drei.
Jetzt also Kowalczuk. Er ist ein schier grenzenlos produktiver Historiker, dessen zweibändige Ulbricht-Biografie kaum noch überholt werden kann. Nebenbei ist er ein manischer Poster auf Facebook und X, dessen streitlustige Anmerkungen sich vielfach als Vorarbeiten seines neuen Buchs entpuppen. Nun wendet er sich erst einmal nach innen, in den Osten, nicht nach Westen. Westliches Ossi-Verstehertum wird sogar mit einem kurzen Medley geläufiger Phrasen satirisch weggebellt. Rücken wir die Stühle also etwas weiter weg und versuchen trotzdem zu verstehen, wie er’s meint. Kowalczuks Thema sind die Erblasten der Diktatur und die daraus folgenden Selbsttäuschungen danach. Hier sein Grundriss: Die DDR war ein Mitläuferstaat, in dem nur eine winzige Minderheit wirklich oppositionell war, nicht zuletzt weil sie die aktiven Unzufriedenen konstant an den Westen verlor. Sie war ganz Staat (und kaum Gesellschaft), der als Arbeitgeber, Lebensplaner und Rundumversorger auch Garant des sozialen Netzes war, das ganz an die Arbeit geknüpft war. Ihre „antifaschistische“ Ideologie war vor allem antiliberal, antikapitalistisch, antidemokratisch. Darunter florierten ungebrochen düstere Affekte von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Bequemlichkeit und Ressentiment, das ist das giftige Erbe der Diktatur im Osten.
Die sogenannte Friedenserziehung war in Wahrheit militaristisch. Behinderte und Kranke – Kowalczuk hatte einen behinderten Bruder – wurden an den Rand gedrängt, ja gemobbt. Die Revolution von 1989 war eine Sache von Wenigen, während die meisten hinter der Gardine abwarteten und vor allem auf Zutritt zum westlichen Konsumparadies hofften. Die befremdliche Russenliebe entstand erst in der Gorbatschow-Zeit, seit 1985, als Widerspruch zur Verknöcherung der späten Honecker-Jahre. Und immer verglich man sich mit dem Westen, schon vor 1989, um dann umso enttäuschter von ihm zu sein.
Der wichtigste Befund: Kaum jemand im Osten habe, so Kowalczuk, die repräsentative, liberale Demokratie verstanden, die Mühsal der Kompromissfindung, die anstrengende Forderung nach eigener Beteiligung im Klein-Klein des politischen Alltags. Das Verhältnis zu Staat und Politik blieb unreif, infantil und paternalistisch, faul, fordernd und dauerenttäuscht zugleich. Man hübscht sich die Vergangenheit mit Geschichtslügen auf, spricht von Solidarität, wo es keine gab, ergeht sich in Gekränktheit, Selbstmitleid und Ostalgie. Es geht also eher um einen Kulturkampf als um soziale Schieflagen, so Kowalczuks Tenor.
Fürs Aufhübschen nennt er Katja Hoyer, fürs Relativieren, sehr ungerecht, Christina Morina, er höhnt über Jenny Erpenbeck und Sandra Hüller – gerade erfolgreiche Ostfrauen erscheinen als Ikonen des Antiliberalismus. Aber was kann Erpenbeck für ihre Herkunft aus dem kommunistischen Adel? Sie hat diesen Umstand für unschätzbare Innensichten genutzt, die beispielsweise den Roman „Kairos“ als zeithistorische Information interessanter machen denn als Liebesroman.
Auch sind Kowalczuks Befunde schon oft formuliert worden. Er selbst zitiert einen Essay von Uwe Johnson aus dem fernen Jahr 1970 über seine Erfahrungen als Bürger der DDR: „So reden Kinder von ihren Eltern. So reden Erwachsene von jemand, der einst an ihnen Vaterstelle vertrat. (…) Sie fordern den ehemaligen Vormund in der Rolle des Partners, noch im Zorn verlangen sie das Gespräch mit ihm.“ Doch belebt Kowalczuk alte Diagnosen mit seiner Autobiografie, er unterfüttert sie mit Zahlenmaterial aus Umfragen und Wahlergebnissen. Da Kowalczuk beim Fremdeln mit der repräsentativen Demokratie kaum Unterschiede zwischen der AfD und der Wagenknecht-Truppe erkennt, kommt er auf eine starke Hälfte antiwestlicher, antidemokratischer Einstellungen. Am sachhaltigsten sind eher nüchterne Befunde, die sich nicht in Schuldzuweisungen übersetzen lassen. Dass zum Beispiel mit dem Wegfall der Arbeit in der Transformation nach 1990 auch die sonstigen Beziehungsnetze verschwanden. Keine Zivilgesellschaft, nirgends. Die Schwäche der Parteienorganisationen (mit Ausnahme von SED/PDS und CDU), das mangelnde Verständnis für Parteiendemokratie überhaupt – nebenbei eine Lücke, in die die spätere Vergesellschaftung übers Internet stoßen konnte, von der AfD, Pegida und Querdenker profitierten.
So bleibt von Kowalczuks Buch vor allem die Anklage, der Furor, der Appell. Es mündet in ein leidenschaftliches Bekenntnis zum klassischen Liberalismus nach Art Karl Poppers und Ralf Dahrendorfs – im Westen eher vergessene Bezüge. Gäbe es in Deutschland noch einen Liberalismus, der über Schuldenbremse, Schnitzel und Auto hinausginge – voilà, hier hätte er seinen Rhetor. Kowalczuk, der bei allem gelegentlichen polemischen Überziehen ein guter Kerl ist, hat eine Botschaft: Bürger, verhaltet euch als Erwachsene. Vielleicht braucht es wirklich einen Autor aus dem Osten, um die liberale Demokratie als etwas Seltenes, Kostbares, Schützenswertes bewusst zu machen – für alle im Land.
GUSTAV SEIBT
Bürger,
verhaltet euch
als Erwachsene
Kowalczuks Thema sind die Erblasten der Diktatur: Wahlkampf in Thüringen.
Foto: Hannes Albert / dpa
Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. C. H. Beck, München 2024. 240 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Ostdeutschen verstehen die Demokratie nicht und sind selbstmitleidig:
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat ein zorniges Buch geschrieben.
In zwei Wochen sieht die Bundesrepublik vielleicht ganz anders aus. Wenn die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen und danach in Brandenburg ausfallen wie zuletzt vorhergesagt, dann erreicht ein lange schwelender Konflikt das politische System des Gesamtstaats. Es drohen dysfunktionale Parteienbündnisse und lokale Verfassungskrisen, die bis in die Bundespolitik ausstrahlen.
Schon dass das Bündnis Sahra Wagenknecht, für Regierungsbildungen in den Ostländern vielleicht bald unentbehrlich, seine Mitwirkung an eine außenpolitische Frage knüpft – keine Waffenlieferungen an die Ukraine –, zeigt das gesamtdeutsche Potenzial der bevorstehenden Verschiebungen. Die Balancen zwischen Bund und Ländern mit ihrem Geben und Nehmen, die Rundfunkstaatsverträge, gemeinsam getragene Kulturinstitutionen, eine Migrationspolitik, die auf lokale Kooperation angewiesen ist – all das kann in Gefahr kommen.
Den voraneilenden Bewusstseinsschock lieferte, wie so oft, die Literatur. Es geht um den Bruch von 1990, das Ende und Nachleben der DDR, die vom Westen dominierte Vereinigung, um wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Kahlschlag. Eine neue Generation von Erzählerinnen hat jugendliche Erfahrungen von Gesetzlosigkeit, Autoritätsverlust und Gewalt nach 1990 schon längst für ein gesamtdeutsches Publikum plastisch gemacht. Dabei wird auch in die Familiengeschichten vor 1989 geleuchtet. Die Vergangenheitsbewältigung, die unmittelbar nach dem Ende der DDR einsetzte, geht in eine neue, schmerzhafte Runde.
Steffen Mau, dessen äußerst konzentrierter Essay „Ungleich vereint“ soziologische Befunde zur Diagnose einer Verstetigung der Ost-West-Unterschiede – in einem Wortspiel als „Ossifizierung“ (in Anlehnung an Ossifikation, Verknöcherung) – bündelt, hat dabei auf eine wichtige Bedingung der Aufarbeitung seit 1990 hingewiesen: Diese findet nicht in einem Gespräch „unter sich“/„unter uns“ der Ostdeutschen statt, sondern vor dem immer anwesenden Publikum der Westdeutschen. Diese folgten den Auseinandersetzungen oft mit Gefühlen der Überlegenheit, mit herablassendem Verständnis oder selbstgerechter Unbetroffenheit. Oder gar nicht, aus Desinteresse.
Aber mit der lässigen Distanz des Westens ist es jetzt vorbei, nicht nur wegen der Heftigkeit der Vorwürfe, die ihn erreichen, sondern mehr noch wegen des sich abzeichnenden Schadens am politischen System des Gesamtstaats, der aus dem Osten droht. Dabei, so Mau, hat der Westen von Haus aus gar keine „Identität“, so wie sie der Osten im Epochenbruch neu ausbildete. Sprechchöre in Fußballstadien mit „West-West-Westdeutschland“ bleiben vorerst unwahrscheinlich.
In dieser Lage muss man bei jeder markanten Diagnose fragen, an wen genau sie sich wendet. Dirk Oschmanns wütende Brandschrift von der „Erfindung des Ostens“ hat eine doppelte Zielrichtung: nach Westen als Vorwurf, in den Osten hinein als Selbstverständigung. Der Westen habe den Osten übernommen, kolonisiert, entwertet und exotisiert. Aber der Westen fällt als Adressat mangels Engagiertheit und Geschlossenheit eben aus, was die Kränkung womöglich steigert. Dabei ist an Oschmanns Vorwürfen natürlich einiges dran, wie Steffen Mau in viel kühlerer, überparteilicher Diktion festhält. Vor allem das Kapitel „Ausgebremste Demokratisierung“ seines Essays zeigt die Kosten der administrativen Sofortübernahme nach 1990.
Dabei werden auch für westliche Leser plausible Kontrollfragen gestellt: Wenn heute ein paar protestierende Bauerntraktoren unmittelbaren politischen Effekt machen können, warum blieben dann wochenlange Hungerstreiks von Kalikumpeln in Bischofferode 1993 ohne Wirkung? Stimmt es wirklich, dass es im Osten kein geeignetes Führungspersonal gab? Die anderen Länder Osteuropas mussten schließlich auch ohne personellen Westimport auskommen.
In diesen Tagen erscheint eine neue Bestandsaufnahme, nicht abgeklärt wie bei Mau, sondern wütend wie Oschmann, aber in entgegengesetzter Stoßrichtung. Das Buch „Freiheitsschock“ des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuks ist ein Anti-Oschmann, die Gegenrechnung, eine wilde und anschauliche, streckenweise allerdings auch grobmotorische und ungerechte Mischung aus Geschichtsschreibung, autobiografischem Memoir, bitterer Polemik und politischem Bekenntnis.
Oschmann, Mau, Kowalczuk sind gleichaltrig (1967 und 1968 geboren), alle drei kommen aus der DDR, sie waren beim Fall der Mauer also schon junge Erwachsene. Und es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich man auf die gleiche Generationenlage reagieren kann. Wenn man von Wessi zu Wessi einen Hinweis geben darf: Lest sie alle drei.
Jetzt also Kowalczuk. Er ist ein schier grenzenlos produktiver Historiker, dessen zweibändige Ulbricht-Biografie kaum noch überholt werden kann. Nebenbei ist er ein manischer Poster auf Facebook und X, dessen streitlustige Anmerkungen sich vielfach als Vorarbeiten seines neuen Buchs entpuppen. Nun wendet er sich erst einmal nach innen, in den Osten, nicht nach Westen. Westliches Ossi-Verstehertum wird sogar mit einem kurzen Medley geläufiger Phrasen satirisch weggebellt. Rücken wir die Stühle also etwas weiter weg und versuchen trotzdem zu verstehen, wie er’s meint. Kowalczuks Thema sind die Erblasten der Diktatur und die daraus folgenden Selbsttäuschungen danach. Hier sein Grundriss: Die DDR war ein Mitläuferstaat, in dem nur eine winzige Minderheit wirklich oppositionell war, nicht zuletzt weil sie die aktiven Unzufriedenen konstant an den Westen verlor. Sie war ganz Staat (und kaum Gesellschaft), der als Arbeitgeber, Lebensplaner und Rundumversorger auch Garant des sozialen Netzes war, das ganz an die Arbeit geknüpft war. Ihre „antifaschistische“ Ideologie war vor allem antiliberal, antikapitalistisch, antidemokratisch. Darunter florierten ungebrochen düstere Affekte von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Bequemlichkeit und Ressentiment, das ist das giftige Erbe der Diktatur im Osten.
Die sogenannte Friedenserziehung war in Wahrheit militaristisch. Behinderte und Kranke – Kowalczuk hatte einen behinderten Bruder – wurden an den Rand gedrängt, ja gemobbt. Die Revolution von 1989 war eine Sache von Wenigen, während die meisten hinter der Gardine abwarteten und vor allem auf Zutritt zum westlichen Konsumparadies hofften. Die befremdliche Russenliebe entstand erst in der Gorbatschow-Zeit, seit 1985, als Widerspruch zur Verknöcherung der späten Honecker-Jahre. Und immer verglich man sich mit dem Westen, schon vor 1989, um dann umso enttäuschter von ihm zu sein.
Der wichtigste Befund: Kaum jemand im Osten habe, so Kowalczuk, die repräsentative, liberale Demokratie verstanden, die Mühsal der Kompromissfindung, die anstrengende Forderung nach eigener Beteiligung im Klein-Klein des politischen Alltags. Das Verhältnis zu Staat und Politik blieb unreif, infantil und paternalistisch, faul, fordernd und dauerenttäuscht zugleich. Man hübscht sich die Vergangenheit mit Geschichtslügen auf, spricht von Solidarität, wo es keine gab, ergeht sich in Gekränktheit, Selbstmitleid und Ostalgie. Es geht also eher um einen Kulturkampf als um soziale Schieflagen, so Kowalczuks Tenor.
Fürs Aufhübschen nennt er Katja Hoyer, fürs Relativieren, sehr ungerecht, Christina Morina, er höhnt über Jenny Erpenbeck und Sandra Hüller – gerade erfolgreiche Ostfrauen erscheinen als Ikonen des Antiliberalismus. Aber was kann Erpenbeck für ihre Herkunft aus dem kommunistischen Adel? Sie hat diesen Umstand für unschätzbare Innensichten genutzt, die beispielsweise den Roman „Kairos“ als zeithistorische Information interessanter machen denn als Liebesroman.
Auch sind Kowalczuks Befunde schon oft formuliert worden. Er selbst zitiert einen Essay von Uwe Johnson aus dem fernen Jahr 1970 über seine Erfahrungen als Bürger der DDR: „So reden Kinder von ihren Eltern. So reden Erwachsene von jemand, der einst an ihnen Vaterstelle vertrat. (…) Sie fordern den ehemaligen Vormund in der Rolle des Partners, noch im Zorn verlangen sie das Gespräch mit ihm.“ Doch belebt Kowalczuk alte Diagnosen mit seiner Autobiografie, er unterfüttert sie mit Zahlenmaterial aus Umfragen und Wahlergebnissen. Da Kowalczuk beim Fremdeln mit der repräsentativen Demokratie kaum Unterschiede zwischen der AfD und der Wagenknecht-Truppe erkennt, kommt er auf eine starke Hälfte antiwestlicher, antidemokratischer Einstellungen. Am sachhaltigsten sind eher nüchterne Befunde, die sich nicht in Schuldzuweisungen übersetzen lassen. Dass zum Beispiel mit dem Wegfall der Arbeit in der Transformation nach 1990 auch die sonstigen Beziehungsnetze verschwanden. Keine Zivilgesellschaft, nirgends. Die Schwäche der Parteienorganisationen (mit Ausnahme von SED/PDS und CDU), das mangelnde Verständnis für Parteiendemokratie überhaupt – nebenbei eine Lücke, in die die spätere Vergesellschaftung übers Internet stoßen konnte, von der AfD, Pegida und Querdenker profitierten.
So bleibt von Kowalczuks Buch vor allem die Anklage, der Furor, der Appell. Es mündet in ein leidenschaftliches Bekenntnis zum klassischen Liberalismus nach Art Karl Poppers und Ralf Dahrendorfs – im Westen eher vergessene Bezüge. Gäbe es in Deutschland noch einen Liberalismus, der über Schuldenbremse, Schnitzel und Auto hinausginge – voilà, hier hätte er seinen Rhetor. Kowalczuk, der bei allem gelegentlichen polemischen Überziehen ein guter Kerl ist, hat eine Botschaft: Bürger, verhaltet euch als Erwachsene. Vielleicht braucht es wirklich einen Autor aus dem Osten, um die liberale Demokratie als etwas Seltenes, Kostbares, Schützenswertes bewusst zu machen – für alle im Land.
GUSTAV SEIBT
Bürger,
verhaltet euch
als Erwachsene
Kowalczuks Thema sind die Erblasten der Diktatur: Wahlkampf in Thüringen.
Foto: Hannes Albert / dpa
Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. C. H. Beck, München 2024. 240 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ilko-Sascha Kowalczuk ist der Punk unter den deutschen Historikern, akademischer Rebell und intellektueller Nonkonformist. Doch hängt er keinen destruktiven No-Future-Parolen an. Vielmehr zeigt er sich mit seiner zwischen Analyse und Anklage changierenden "anderen Geschichte Ostdeutschlands" als Verteidiger von Demokratie und Freiheit"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Jacqueline Boysen
"Ein feuriges Plädoyer für Liberalismus."
Bestenliste Oktober von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur
"Kowalczuk, der sich durch seine fundierten Analysen und kritischen Werke zur DDR-Geschichte und der deutschen Wiedervereinigung einen Namen gemacht hat, wirft einen scharfsinnigen Blick auf das, was nach der Euphorie des Mauerfalls folgte."
NDR extra3, Christian Ehring
"Beschreibt die Wendejahre aus einer komplett neuen Perspektive."
hr2 Kultur
"Beleuchtet das zunehmende Fremdeln mit der Demokratie."
mdr artour, Jens-Uwe Korsowsky
"Ein brennend wichtiges, schmerzhaftes Buch, das den Homogenitätsfetisch der DDR in einen großen historischen Zusammenhang stellt und seine Nachwirkungen bis heute erklärt ... eine grundsätzliche Intervention, an der niemand vorbeikommt, der die deutsch-deutschen Verhältnisse verstehen möchte."
rbb Radio3, Natascha Freundel
"Ein Plädoyer für Freiheit und Demokratie. Ein Plädoyer die Werte der Revolution von '89 nicht zu verraten."
MDR, Stefan Nölke
"Freiheitsschock" ist nicht nur ein Wutbuch, sondern vielmehr eine Erkundungsreise zum Ursprung eines Phänomens, bei dem der Autor den Osten nur vornweg traben sieht."
Mitteldeutsche Zeitung, Steffen Könau
"Kowalczuks Buch ist einerseits historische Analyse der vergangenen 35 Jahre, andererseits ein persönlich argumentierender Essay, stets ausgehend von eigenen Erfahrungen."
Deutschlandfunk, Niels Beintker
"Eine messerscharfe und unbequeme Bilanz der letzten 35 Jahre, die aber unbedingt nötig ist, um die Gegenwart besser zu verstehen."
MDR, Bettina Baltschev
"Kowalczuk plädiert für mehr aktive Eigenverantwortung und die Abkehr von der eigenen Opferrolle."
SWR Kultur Lesenswert, Michael Kuhlmann
Platz 2 der Sachbuch-Bestenliste von der literarischen WELT, NZZ, RBB Kultur und Radio Österreich 1 im Oktober 2024: "Sind die Ostdeutschen für autoritäre Strukturen besonders empfänglich? Der Historiker Kowalczuk erklärt die ostdeutschen Befindlichkeiten und das Wahlverhalten mit den divergierenden Vorstellungen von Freiheit und Demokratie."
"Das Buch trifft offensichtlich einen Nerv"
Deutschlandfunk, Henry Bernhard
"Eindrucksvoll schildert er, wie schwer es ist, sich von den Zumutungen und Verformungen der Diktatur zu befreien."
Spiegel, Anna Rabe
"Ein kluges Buch."
WELT, Elmar Krekeler
"Eine gut und hart argumentierte Gegenanalyse zu aktuellen Ostalgie-Bestsellern. Kowalczuk unterlegt seine Thesen mit jahrzehntelanger Forschungserfahrung und seiner zuweilen rotzigen Berliner Schnauze."
Tagesspiegel, Robert Ide
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Jacqueline Boysen
"Ein feuriges Plädoyer für Liberalismus."
Bestenliste Oktober von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur
"Kowalczuk, der sich durch seine fundierten Analysen und kritischen Werke zur DDR-Geschichte und der deutschen Wiedervereinigung einen Namen gemacht hat, wirft einen scharfsinnigen Blick auf das, was nach der Euphorie des Mauerfalls folgte."
NDR extra3, Christian Ehring
"Beschreibt die Wendejahre aus einer komplett neuen Perspektive."
hr2 Kultur
"Beleuchtet das zunehmende Fremdeln mit der Demokratie."
mdr artour, Jens-Uwe Korsowsky
"Ein brennend wichtiges, schmerzhaftes Buch, das den Homogenitätsfetisch der DDR in einen großen historischen Zusammenhang stellt und seine Nachwirkungen bis heute erklärt ... eine grundsätzliche Intervention, an der niemand vorbeikommt, der die deutsch-deutschen Verhältnisse verstehen möchte."
rbb Radio3, Natascha Freundel
"Ein Plädoyer für Freiheit und Demokratie. Ein Plädoyer die Werte der Revolution von '89 nicht zu verraten."
MDR, Stefan Nölke
"Freiheitsschock" ist nicht nur ein Wutbuch, sondern vielmehr eine Erkundungsreise zum Ursprung eines Phänomens, bei dem der Autor den Osten nur vornweg traben sieht."
Mitteldeutsche Zeitung, Steffen Könau
"Kowalczuks Buch ist einerseits historische Analyse der vergangenen 35 Jahre, andererseits ein persönlich argumentierender Essay, stets ausgehend von eigenen Erfahrungen."
Deutschlandfunk, Niels Beintker
"Eine messerscharfe und unbequeme Bilanz der letzten 35 Jahre, die aber unbedingt nötig ist, um die Gegenwart besser zu verstehen."
MDR, Bettina Baltschev
"Kowalczuk plädiert für mehr aktive Eigenverantwortung und die Abkehr von der eigenen Opferrolle."
SWR Kultur Lesenswert, Michael Kuhlmann
Platz 2 der Sachbuch-Bestenliste von der literarischen WELT, NZZ, RBB Kultur und Radio Österreich 1 im Oktober 2024: "Sind die Ostdeutschen für autoritäre Strukturen besonders empfänglich? Der Historiker Kowalczuk erklärt die ostdeutschen Befindlichkeiten und das Wahlverhalten mit den divergierenden Vorstellungen von Freiheit und Demokratie."
"Das Buch trifft offensichtlich einen Nerv"
Deutschlandfunk, Henry Bernhard
"Eindrucksvoll schildert er, wie schwer es ist, sich von den Zumutungen und Verformungen der Diktatur zu befreien."
Spiegel, Anna Rabe
"Ein kluges Buch."
WELT, Elmar Krekeler
"Eine gut und hart argumentierte Gegenanalyse zu aktuellen Ostalgie-Bestsellern. Kowalczuk unterlegt seine Thesen mit jahrzehntelanger Forschungserfahrung und seiner zuweilen rotzigen Berliner Schnauze."
Tagesspiegel, Robert Ide