Während seines langen Lebens erlebte Fritz Stern, wie sich Deutschland veränderte: Von der Weimarer Republik zum "Dritte Reich", dann Bundesrepublik und DDR und schließlich das wiedervereinigte Deutschland nach 1989. Als einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts verbindet er gekonnt die eigene Erinnerung als jüdischer Emigrant mit der Geschichtsschreibung, wobei immer die "deutsche Frage" im Fokus bleibt. Das Hörbuch wird ergänzt durch Interviews mit und Reden von dem Autoren, die im NDR erschienen sind.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2007Die Ironie der Gegenwart
Der große amerikanische Historiker Fritz Stern vereint in seiner Autobiographie "Fünf Deutschland und ein Leben" Erinnerung und Geschichte
Als er zwölf Jahre alt und mit der Familie gerade von Breslau nach New York geflohen war, neu in einer fremden Umgebung, mit noch unbeholfenem Englisch, kümmerte sich Fritz Stern als "Chef des Familienbudgets" zu Hause um den Haushalt. Er hatte eine Schreibmaschine, mit der er Briefe nach Europa schrieb. In der beengten Wohnung saß er und tippte; versuchte, stellvertretend für Eltern und Schwester, die schnell Arbeit gefunden hatten, Kontakt zu halten mit den Freunden und Verwandten in der europäischen Heimat. Das war 1938. Ein Jahr später wandte er sich an den New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia, den er bat, erneut zu kandidieren. Er dankte Erika Mann für ihr Buch "School for Barbarians" und für das, was sie für "uns Flüchtlinge" getan habe. Ein kleiner ernster Junge, dem das Briefeschreiben ein innerer Antrieb war: "Ich nahm ein Doppelleben an: die deutsche Vergangenheit, stets präsent, stets unheilvoll, und die amerikanische Gegenwart, unmittelbar, unsicher, aber stets verheißungsvoll. Ich lebte - zwangsläufig und aus innerer Neigung - in beiden Welten."
Heute wundert sich Stern vor allem darüber, dass er die Kopien dieser frühen Briefe aufbewahrt hat. "Das hat sicher damit zu tun, dass es mir schwerfällt, Dinge wegzuwerfen", meint er. "Es verblüfft mich trotzdem. Wie so vieles in meinem Leben, war das unbewusst. Den Kontakt aufrechtzuerhalten, mit Freunden und Familie in Europa, kam mir damals selbstverständlich vor. Rückblickend kann ich sagen, dass der Junge, der ich war, sich doch hätte völlig auf Amerika konzentrieren sollen. Was fiel mir ein, Zeit zu verschwenden, indem ich Briefe schrieb?"
Der Historiker Fritz Stern allerdings wäre ohne diesen Drang, Verbindungen zu halten und zugleich teilzuhaben am politischen Leben, heute ganz sicher nicht der, der er ist. Vor allem hätte er sein neues Buch nie schreiben können: "Fünf Deutschland und ein Leben", das in weiten Teilen auf privaten Briefquellen beruht. Es ist Sterns eindrucksvolle Autobiographie, die er als Geschichte eines aus der Distanz wahrgenommenen Landes erzählt: Jeder Historiker, sagt er, müsse auch ein Schriftsteller sein. Und so ist das Buch als Versuch zu verstehen, Erinnerung und Geschichte programmatisch miteinander zu verschmelzen. Er wisse natürlich, dass die Erinnerung fehlbar sei und unter den uns allen vertrauten Verzerrungen leide, die einem schmeichelhaften Selbstbild dienen. Er wisse auch, dass es so etwas wie ein ehrliches (und gesundes) Vergessen gebe. Bei allen Mängeln und Verzerrungen aber rufe die Erinnerung das Drama der Vergangenheit wach. Sie verweist zumindest auf einige der Gefühle, mit denen die Fakten verbunden waren.
Stern beginnt sein Buch mit einer persönlichen Erzählung, die er für seine Kinder geschrieben hat: "Heimkehr 1979". Gemeinsam mit seiner Ehefrau reist er zum ersten Mal wieder in seine Geburtsstadt Breslau, jetzt Wroclaw in Polen. Die Stadt trägt noch immer Spuren der Kriegszerstörungen und zugleich die des tristen sozialistischen Wiederaufbaus. Er erkennt nichts wieder - bis sie ins Stadtzentrum kommen, wo er sich augenblicklich am Backsteinbau des Polizeipräsidiums orientieren kann: In diesem Gebäude hatten SA-Männer Anfang 1933 Ernst Eckstein, einen Freund und Patienten seines Vaters, ermordet; und genau dorthin hatten 1938 seine Mutter und er um acht Uhr morgens den Vater zu "einem Gespräch" begleitet, das der Vorbereitung ihrer Auswanderung diente. Sie finden das Haus seiner Großmutter. Stern macht so viele Fotos, wie er kann; isst im Garten Unmengen von Stachelbeeren.
In Breslau feierten die Sterns Weihnachten mit Baum, Kringeln und Äpfeln. Sie waren zum Christentum konvertierte Juden. Der Vater, ein anerkannter Arzt, hatte sich mit dem Chemiker Fritz Haber angefreundet, den er zum Taufpaten seines Sohnes machte. Von ihm hat Fritz Stern seinen Vornamen - und überhaupt spielt er in Sterns Werk eine nicht unwesentliche Rolle. Haber war in vielem beispielhaft für seine Zeit: der deutsche Jude, der aus dem Gefühl des Deutschseins heraus zum Protestantismus übertrat; der Wissenschaftler, der im Ersten Weltkrieg sein Wissen und seine Führungsqualitäten dem Dienst am Lande widmete und dabei die fatale neue Giftgas-Waffe erfand; der Patriot, der wie Millionen Deutsche alle Anstrengungen auf den erhofften Sieg richtete und nach der unerwarteten Niederlage sein Leben ändern musste. Sein Leben war so sehr mit Deutschland identifiziert, dass er nach 1933 ein gebrochener Mann war. "Ich war in meinem Leben nie so jüdisch wie jetzt!", schrieb er damals in einem Brief an Einstein. Er starb 1934 im Exil. Für Fritz Stern beschreibt er einen Aspekt der Tragödie des konvertierten deutschen Judentums.
Stern selbst nennt sich in seinem Buch einen säkularen Prozionisten. Er sei, erzählt er, in den Vereinigten Staaten auf versteckten Antisemitismus gestoßen, der so versteckt im Grunde allerdings nicht gewesen sei: "Er war natürlich in keiner Weise zu vergleichen mit dem Nationalsozialismus, überhaupt nicht. Zum Beispiel aber gab es in den Zeitungen Anzeigen von Hotels mit dem Vermerk ,churches nearby' - was nichts anderes heißt, als dass man an jüdischen Gästen weniger interessiert war. Es gab einen Antisemitismus, dem ich nicht ausgesetzt war, an den Universitäten, bis nach dem Zweiten Weltkrieg: Für Juden war es in Amerika mindestens so schwer, ein Ordinariat zu bekommen, wie in Deutschland vor 1914."
Was ihn persönlich viel mehr verletzte, war allerdings etwas anderes: wenn amerikanische Juden darüber spotteten, dass er in eine konvertierte Familie hineingeboren worden war. Es gab da ein Abendessen mit einem bekannten amerikanischen Literaturhistoriker und seiner Frau, erinnert er sich. "Sie hatten mich eingeladen, und während des Essens kam der ganze historische Unwille des osteuropäischen Judentums gegenüber dem deutschen Judentum, der in der Geschichte nicht unwichtig ist, zur Sprache. In Israel hat sich das in der Haltung zum ,Jecke' ausgedrückt. Noch vor der Gründung des Staates Israel in Palästina wurden deutsche Juden ,Jeckes' genannt. Niemand weiß ganz genau, woher das Wort stammt. Stammt es daher, dass die deutschen Juden Jacken trugen? Wer weiß. In jedem Fall ist es eine Abstempelung in negativem Sinne."
Eben das sei es gewesen, was er gespürt habe bei diesem Essen, und es sei ihm in die Knochen gegangen. "Erst Jahrzehnte später habe ich begriffen, dass diese Vorurteile innerhalb Amerikas gegen die deutschen Juden, die schon im neunzehnten Jahrhundert eingewandert waren, reich geworden waren und versucht hatten, sich zu assimilieren - mehr zu assimilieren als die osteuropäischen Juden; dass diese Vorurteile schon lange vorhanden waren und es eine tiefe Kluft gab. Ich könnte mir sogar vorstellen", sagt er, "dass diese Kluft bei der Entstehung des ,Neoconservatism' in Amerika, der ja hauptsächlich von Juden betrieben worden ist, und zwar hauptsächlich von ursprünglich aus Osteuropa stammenden Juden, eine Rolle gespielt hat."
"Fünf Deutschland und ein Leben" erzählt, von Amerika aus, wo Stern an der Columbia University als Professor lehrte, ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte. Die Kanzler, denen er sich verbunden fühlt, sind Willy Brandt und vor allem Helmut Schmidt. Er war eng mit Marion Dönhoff befreundet; als "engagierter Beobachter", der die Werte des amerikanischen Liberalismus vertritt, in Deutschland immer ein willkommener Gast. Sterns Leben ist ein Gelehrtenleben mit den manchmal spröden Konsequenzen: ein Leben von Vortrag zu Vortrag, von Begegnung zu Begegnung. Doch ist er dabei immer für einen Witz zu haben, er liebt Witze, konnte sie sich immer gut merken, und so rettet die feine Ironie das Buch vor zu viel schwergewichtiger Gelehrsamkeit.
Die Ära Gerhard Schröder oder jetzt die große Koalition kommentiert er auffälligerweise nicht. "Es gab Mitte der neunziger Jahre diese Hexenjagd auf Bill Clinton wegen Monica Lewinsky. Nicht, dass er unschuldig war; aber sie kam aus einer ganz bestimmten Richtung. Als diese Richtung mehr Einfluss bekam und Bush gewählt wurde, habe ich mich mehr mit der amerikanischen Politik beschäftigt als mit der deutschen. Das muss ich zugeben. Die Situation in Amerika erschien mir seither brenzliger und gefährlicher zu sein als in Deutschland."
So erzählt das Buch auch, wie der deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern zum Amerikaner wurde. Angela Merkel sei Kohls größtes Geschenk an Deutschland, sagt er zum Schluss noch lakonisch. Und da ist sie dann wieder, die Ironie.
JULIA ENCKE
Fritz Stern: "Fünf Leben und ein Deutschland". Erinnerungen. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. C.-H.-Beck-Verlag, 674 Seiten, 29,90 Euro
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Der große amerikanische Historiker Fritz Stern vereint in seiner Autobiographie "Fünf Deutschland und ein Leben" Erinnerung und Geschichte
Als er zwölf Jahre alt und mit der Familie gerade von Breslau nach New York geflohen war, neu in einer fremden Umgebung, mit noch unbeholfenem Englisch, kümmerte sich Fritz Stern als "Chef des Familienbudgets" zu Hause um den Haushalt. Er hatte eine Schreibmaschine, mit der er Briefe nach Europa schrieb. In der beengten Wohnung saß er und tippte; versuchte, stellvertretend für Eltern und Schwester, die schnell Arbeit gefunden hatten, Kontakt zu halten mit den Freunden und Verwandten in der europäischen Heimat. Das war 1938. Ein Jahr später wandte er sich an den New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia, den er bat, erneut zu kandidieren. Er dankte Erika Mann für ihr Buch "School for Barbarians" und für das, was sie für "uns Flüchtlinge" getan habe. Ein kleiner ernster Junge, dem das Briefeschreiben ein innerer Antrieb war: "Ich nahm ein Doppelleben an: die deutsche Vergangenheit, stets präsent, stets unheilvoll, und die amerikanische Gegenwart, unmittelbar, unsicher, aber stets verheißungsvoll. Ich lebte - zwangsläufig und aus innerer Neigung - in beiden Welten."
Heute wundert sich Stern vor allem darüber, dass er die Kopien dieser frühen Briefe aufbewahrt hat. "Das hat sicher damit zu tun, dass es mir schwerfällt, Dinge wegzuwerfen", meint er. "Es verblüfft mich trotzdem. Wie so vieles in meinem Leben, war das unbewusst. Den Kontakt aufrechtzuerhalten, mit Freunden und Familie in Europa, kam mir damals selbstverständlich vor. Rückblickend kann ich sagen, dass der Junge, der ich war, sich doch hätte völlig auf Amerika konzentrieren sollen. Was fiel mir ein, Zeit zu verschwenden, indem ich Briefe schrieb?"
Der Historiker Fritz Stern allerdings wäre ohne diesen Drang, Verbindungen zu halten und zugleich teilzuhaben am politischen Leben, heute ganz sicher nicht der, der er ist. Vor allem hätte er sein neues Buch nie schreiben können: "Fünf Deutschland und ein Leben", das in weiten Teilen auf privaten Briefquellen beruht. Es ist Sterns eindrucksvolle Autobiographie, die er als Geschichte eines aus der Distanz wahrgenommenen Landes erzählt: Jeder Historiker, sagt er, müsse auch ein Schriftsteller sein. Und so ist das Buch als Versuch zu verstehen, Erinnerung und Geschichte programmatisch miteinander zu verschmelzen. Er wisse natürlich, dass die Erinnerung fehlbar sei und unter den uns allen vertrauten Verzerrungen leide, die einem schmeichelhaften Selbstbild dienen. Er wisse auch, dass es so etwas wie ein ehrliches (und gesundes) Vergessen gebe. Bei allen Mängeln und Verzerrungen aber rufe die Erinnerung das Drama der Vergangenheit wach. Sie verweist zumindest auf einige der Gefühle, mit denen die Fakten verbunden waren.
Stern beginnt sein Buch mit einer persönlichen Erzählung, die er für seine Kinder geschrieben hat: "Heimkehr 1979". Gemeinsam mit seiner Ehefrau reist er zum ersten Mal wieder in seine Geburtsstadt Breslau, jetzt Wroclaw in Polen. Die Stadt trägt noch immer Spuren der Kriegszerstörungen und zugleich die des tristen sozialistischen Wiederaufbaus. Er erkennt nichts wieder - bis sie ins Stadtzentrum kommen, wo er sich augenblicklich am Backsteinbau des Polizeipräsidiums orientieren kann: In diesem Gebäude hatten SA-Männer Anfang 1933 Ernst Eckstein, einen Freund und Patienten seines Vaters, ermordet; und genau dorthin hatten 1938 seine Mutter und er um acht Uhr morgens den Vater zu "einem Gespräch" begleitet, das der Vorbereitung ihrer Auswanderung diente. Sie finden das Haus seiner Großmutter. Stern macht so viele Fotos, wie er kann; isst im Garten Unmengen von Stachelbeeren.
In Breslau feierten die Sterns Weihnachten mit Baum, Kringeln und Äpfeln. Sie waren zum Christentum konvertierte Juden. Der Vater, ein anerkannter Arzt, hatte sich mit dem Chemiker Fritz Haber angefreundet, den er zum Taufpaten seines Sohnes machte. Von ihm hat Fritz Stern seinen Vornamen - und überhaupt spielt er in Sterns Werk eine nicht unwesentliche Rolle. Haber war in vielem beispielhaft für seine Zeit: der deutsche Jude, der aus dem Gefühl des Deutschseins heraus zum Protestantismus übertrat; der Wissenschaftler, der im Ersten Weltkrieg sein Wissen und seine Führungsqualitäten dem Dienst am Lande widmete und dabei die fatale neue Giftgas-Waffe erfand; der Patriot, der wie Millionen Deutsche alle Anstrengungen auf den erhofften Sieg richtete und nach der unerwarteten Niederlage sein Leben ändern musste. Sein Leben war so sehr mit Deutschland identifiziert, dass er nach 1933 ein gebrochener Mann war. "Ich war in meinem Leben nie so jüdisch wie jetzt!", schrieb er damals in einem Brief an Einstein. Er starb 1934 im Exil. Für Fritz Stern beschreibt er einen Aspekt der Tragödie des konvertierten deutschen Judentums.
Stern selbst nennt sich in seinem Buch einen säkularen Prozionisten. Er sei, erzählt er, in den Vereinigten Staaten auf versteckten Antisemitismus gestoßen, der so versteckt im Grunde allerdings nicht gewesen sei: "Er war natürlich in keiner Weise zu vergleichen mit dem Nationalsozialismus, überhaupt nicht. Zum Beispiel aber gab es in den Zeitungen Anzeigen von Hotels mit dem Vermerk ,churches nearby' - was nichts anderes heißt, als dass man an jüdischen Gästen weniger interessiert war. Es gab einen Antisemitismus, dem ich nicht ausgesetzt war, an den Universitäten, bis nach dem Zweiten Weltkrieg: Für Juden war es in Amerika mindestens so schwer, ein Ordinariat zu bekommen, wie in Deutschland vor 1914."
Was ihn persönlich viel mehr verletzte, war allerdings etwas anderes: wenn amerikanische Juden darüber spotteten, dass er in eine konvertierte Familie hineingeboren worden war. Es gab da ein Abendessen mit einem bekannten amerikanischen Literaturhistoriker und seiner Frau, erinnert er sich. "Sie hatten mich eingeladen, und während des Essens kam der ganze historische Unwille des osteuropäischen Judentums gegenüber dem deutschen Judentum, der in der Geschichte nicht unwichtig ist, zur Sprache. In Israel hat sich das in der Haltung zum ,Jecke' ausgedrückt. Noch vor der Gründung des Staates Israel in Palästina wurden deutsche Juden ,Jeckes' genannt. Niemand weiß ganz genau, woher das Wort stammt. Stammt es daher, dass die deutschen Juden Jacken trugen? Wer weiß. In jedem Fall ist es eine Abstempelung in negativem Sinne."
Eben das sei es gewesen, was er gespürt habe bei diesem Essen, und es sei ihm in die Knochen gegangen. "Erst Jahrzehnte später habe ich begriffen, dass diese Vorurteile innerhalb Amerikas gegen die deutschen Juden, die schon im neunzehnten Jahrhundert eingewandert waren, reich geworden waren und versucht hatten, sich zu assimilieren - mehr zu assimilieren als die osteuropäischen Juden; dass diese Vorurteile schon lange vorhanden waren und es eine tiefe Kluft gab. Ich könnte mir sogar vorstellen", sagt er, "dass diese Kluft bei der Entstehung des ,Neoconservatism' in Amerika, der ja hauptsächlich von Juden betrieben worden ist, und zwar hauptsächlich von ursprünglich aus Osteuropa stammenden Juden, eine Rolle gespielt hat."
"Fünf Deutschland und ein Leben" erzählt, von Amerika aus, wo Stern an der Columbia University als Professor lehrte, ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte. Die Kanzler, denen er sich verbunden fühlt, sind Willy Brandt und vor allem Helmut Schmidt. Er war eng mit Marion Dönhoff befreundet; als "engagierter Beobachter", der die Werte des amerikanischen Liberalismus vertritt, in Deutschland immer ein willkommener Gast. Sterns Leben ist ein Gelehrtenleben mit den manchmal spröden Konsequenzen: ein Leben von Vortrag zu Vortrag, von Begegnung zu Begegnung. Doch ist er dabei immer für einen Witz zu haben, er liebt Witze, konnte sie sich immer gut merken, und so rettet die feine Ironie das Buch vor zu viel schwergewichtiger Gelehrsamkeit.
Die Ära Gerhard Schröder oder jetzt die große Koalition kommentiert er auffälligerweise nicht. "Es gab Mitte der neunziger Jahre diese Hexenjagd auf Bill Clinton wegen Monica Lewinsky. Nicht, dass er unschuldig war; aber sie kam aus einer ganz bestimmten Richtung. Als diese Richtung mehr Einfluss bekam und Bush gewählt wurde, habe ich mich mehr mit der amerikanischen Politik beschäftigt als mit der deutschen. Das muss ich zugeben. Die Situation in Amerika erschien mir seither brenzliger und gefährlicher zu sein als in Deutschland."
So erzählt das Buch auch, wie der deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern zum Amerikaner wurde. Angela Merkel sei Kohls größtes Geschenk an Deutschland, sagt er zum Schluss noch lakonisch. Und da ist sie dann wieder, die Ironie.
JULIA ENCKE
Fritz Stern: "Fünf Leben und ein Deutschland". Erinnerungen. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. C.-H.-Beck-Verlag, 674 Seiten, 29,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Franziska Augstein schreibt ihre Rezension im unterkühlten Ton leisen Spotts, der sich möglicherweise nicht ganz an die Oberfläche traut. Dabei will sie Sterns Buch keineswegs die Qualitäten absprechen: Besonders bis ins Jahr 1938 überzeugen sie Sterns Memoiren voll und ganz. Mit Interesse begleitetet sie den Autor in die versunkene Welt des jüdisch-deutschen Bürgertums in Breslau und darüber hinaus von der Kaiserzeit bis in die Nazizeit. Was ihr aber ganz und gar nicht behagt, ist eine etwas festrednerhafte Koketterie, mit der Stern in ihren Augen die Nachkriegszeit abhandelt. Sie ist nicht so interessiert an seinen Begegnungen mit den Großen dieser Welt, an seinen Gefühlslagen bei den großen Preisreden und überhaupt: an dem hier ihrem Eindruck nach abgespulten Terminkalender eines großen Historikers. Auch seine Ausführungen zur DDR scheinen ihr nicht überzeugend. Das Buch bietet einen "präzisen Einblick in das Arbeitsleben eines bekannten Historikers des 20. Jahrhunderts", lautet Augsteins leicht vergiftetes Schlusskompliment.
© Perlentaucher Medien GmbH
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