Christopher Brownings Buch über die Beteiligung "normaler" Polizisten an der Endlösung ist inzwischen ein Klassiker der Holocaust-Literatur.
Sommer 1942: Ein Bataillon der Hamburger Polizeireserve, etwa 500 Männer, die zu alt zum Dienst in der Wehrmacht waren, werden nach Polen zu einem Sonderauftrag gebracht. Sie sollen die jüdische Bevölkerung in Dörfern aufspüren, die noch arbeitsfähigen Männer aussondern, die übrigen – Alte, Kranke, Frauen und Kinder – auf der Stelle erschießen. Vor ihrem Einsatz macht der Kommandant den Leuten das Angebot, wer sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und würde dann zu einer anderen Aufgabe eingesetzt. Nur etwa 12 Männer von fast 500 treten vor.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2020In den Gruben
Eine Änderung sticht dem Betrachter bei der um siebzig Seiten erweiterten und nun ins Deutsche übersetztenNeuausgabe von Christopher R. Brownings 1992 erstmals erschienenem Standardwerk sofort ins Auge: das neue Titelbild, auf dem ein Gruppenporträt von Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 zu sehen ist. Das Bataillon steht im Mittelpunkt von Brownings Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie aus deutschen Polizisten die Massenmörder der "Endlösung" werden konnten.
Auf dem alten Titelbild waren, wie sich später herausstellte, ausschließlich Wehrmachtsangehörige zu sehen. Mit dem Bildwechsel reagieren Verlag und Autor auf den Bedeutungszuwachs der "Visual History" in den letzten drei Jahrzehnten, die Fotografien nicht länger als Illustrationen abtut, sondern als Quellen für die historische Wissenschaft ernst nimmt. Browning reflektiert diese Forschungsentwicklung ausführlich in seinem Nachwort, anhand zahlreicher weiterer Fotografien, die das Polizeibataillon 101 im besetzten Polen zeigen. Zudem diskutiert er neue Erkenntnisse in Bezug auf andere Bataillone der Ordnungspolizei, die Motive der Mörder - allerdings ohne sich mit den Thesen des Soziologen Stefan Kühl aus dessen Studie "Ganz normale Organisationen" auseinanderzusetzen - und die Rolle einiger Luxemburger Polizisten unter den überwiegend deutschen Tätern. Browning referiert ausführlich die Untersuchungen seiner Kollegen, bleibt aber bei seiner schon in der Erstausgabe formulierten Hauptthese, wonach weniger ideologische Motive, sondern vor allem situative Gründe dazu führten, dass "ganz normale Männer" in den Erschießungsgruben im besetzten Osteuropa "funktionierten".
Seinerzeit öffnete Browning einer deutschen Öffentlichkeit die Augen dafür, dass es auch möglich war, sich dem Morden zu verweigern: Zwölf von fünfhundert Bataillonsangehörigen traten vor, als der Kommandant es ihnen freistellte, an den Erschießungen nicht teilzunehmen.
RENÉ SCHLOTT.
Christopher Browning: "Ganz normale Männer". Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen.
Aus dem Englischen von J. P. Krause u. a. Rowohlt Verlag, Reinbek 2020. 416 S., Abb., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Änderung sticht dem Betrachter bei der um siebzig Seiten erweiterten und nun ins Deutsche übersetztenNeuausgabe von Christopher R. Brownings 1992 erstmals erschienenem Standardwerk sofort ins Auge: das neue Titelbild, auf dem ein Gruppenporträt von Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 zu sehen ist. Das Bataillon steht im Mittelpunkt von Brownings Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie aus deutschen Polizisten die Massenmörder der "Endlösung" werden konnten.
Auf dem alten Titelbild waren, wie sich später herausstellte, ausschließlich Wehrmachtsangehörige zu sehen. Mit dem Bildwechsel reagieren Verlag und Autor auf den Bedeutungszuwachs der "Visual History" in den letzten drei Jahrzehnten, die Fotografien nicht länger als Illustrationen abtut, sondern als Quellen für die historische Wissenschaft ernst nimmt. Browning reflektiert diese Forschungsentwicklung ausführlich in seinem Nachwort, anhand zahlreicher weiterer Fotografien, die das Polizeibataillon 101 im besetzten Polen zeigen. Zudem diskutiert er neue Erkenntnisse in Bezug auf andere Bataillone der Ordnungspolizei, die Motive der Mörder - allerdings ohne sich mit den Thesen des Soziologen Stefan Kühl aus dessen Studie "Ganz normale Organisationen" auseinanderzusetzen - und die Rolle einiger Luxemburger Polizisten unter den überwiegend deutschen Tätern. Browning referiert ausführlich die Untersuchungen seiner Kollegen, bleibt aber bei seiner schon in der Erstausgabe formulierten Hauptthese, wonach weniger ideologische Motive, sondern vor allem situative Gründe dazu führten, dass "ganz normale Männer" in den Erschießungsgruben im besetzten Osteuropa "funktionierten".
Seinerzeit öffnete Browning einer deutschen Öffentlichkeit die Augen dafür, dass es auch möglich war, sich dem Morden zu verweigern: Zwölf von fünfhundert Bataillonsangehörigen traten vor, als der Kommandant es ihnen freistellte, an den Erschießungen nicht teilzunehmen.
RENÉ SCHLOTT.
Christopher Browning: "Ganz normale Männer". Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen.
Aus dem Englischen von J. P. Krause u. a. Rowohlt Verlag, Reinbek 2020. 416 S., Abb., br., 12,- [Euro].
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