»Die wichtigste literarische Stimme der Generation Y.« THE INDEPENDENT Die Poetry-Slammerinnen Frances und Bobbi, Studentinnen in Dublin, lernen das gut zehn Jahre ältere Ehepaar Melissa und Nick kennen. Während Bobbi von Melissa fasziniert ist, beginnt Frances mit dem attraktiven Nick eine Affäre. Doch je ernster es zwischen den beiden wird, desto mehr bröckelt die Freundschaft zu Bobbi. Ein intensiver Roman über Intimität, Untreue und die Möglichkeit der Liebe – eine hinreißend kluge Antwort auf die Frage, wie es ist, heute jung und weiblich zu sein. Gelesen von Dagmar Bittner. (Laufzeit: 9h 53)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2019Gnadenlos intelligent
Eine Begegnung mit der jungen irischen Autorin Sally Rooney, von der gerade alle reden
Sally Rooney sitzt in einem Konferenzraum des Verlags Faber & Faber, hält die deutsche Ausgabe ihres Debüts in der Hand, ein dickes Hardcover, und lacht: "Mein Gott, ich sehe aus wie David Foster Wallace!" Rooney ist nur für ein paar Tage in London, dann fährt sie in die Bretagne zurück, weiterschreiben. "Arbeitsurlaub", sagt sie dazu. "Wenn ich von etwas wirklich begeistert bin, kann ich zehn, zwölf Stunden am Tag arbeiten. Und wenn ich nicht schreibe, nehme ich mir einfach frei."
Ihr Debüt "Conversations with Friends" ist schon vor zwei Jahren erschienen, machte sie mit einem Schlag bekannt und wurde jetzt von Zoë Beck endlich auch ins Deutsche übersetzt: "Gespräche mit Freunden". Es ist eine Liebesgeschichte. Eine Ménage-à-quatre in Irland und Frankreich, in der, das macht sie besonders, die Figuren die Formen und Bedingungen ihres eigenen Begehrens und das der anderen reflektieren und den Versuch machen, sich diesen Prägungen zu entziehen. Es beginnt mit zwei jungen Frauen, Anfang zwanzig, Studentinnen in Dublin, Bobbi und Frances, an einem Abend im Mai. Die eine sagt gern dramatische Monologe auf und singt Antikriegsballaden, diskutiert gnadenlos intelligent, schreibt "Scheiß aufs Patriarchat" an die Wand ihrer Klosterschule, spottet über "Lohngefälle-Feminismus" ("Weißt du, ich finde, es gibt zu wenig Waffenhändlerinnen") und liebt Frauen. Die andere erzählt: "Bobbi und ich."
Gemeinsam werden sie gebeten, den Supermarkt zu verlassen, in dem sie laut sinnlose Passagen aus Männerzeitschriften rezitieren. Sie lachen über das Wortmonstrum "außereheliche Affäre" und fragen einander, liebenswert und ein bisschen unbeholfen, mit einem Verstand, der dem Empfinden vorauseilt: "Ist es möglich, dass wir ein Alternativmodell entwickeln, wie wir einander lieben?" An diesem Abend treten sie zusammen in einer Bar auf, lernen Melissa kennen, die, etwa fünfzehn Jahre älter, Fotos von ihnen macht ("wie gut sehen wir bitte aus"). Fahren auf einen Drink mit zu ihr und bleiben über Nacht. Melissas Ehemann Nick ist an diesem Anfang nur eine Stimme im Haus.
"Mich interessierte die Idee von Monogamie und die Frage: Was sind Alternativen zu dieser verbindlichen sozialen Form?", sagt Rooney an diesem Morgen in London. Sie spricht mit fester Stimme, zügig und klar. Ihrem Debüt steht als Motto eine Gedichtzeile voran: "In Zeiten der Krise muss sich jeder von uns immer und immer wieder entscheiden, wen er liebt." Rooney schrieb zu dieser Zeile fast vierhundert Seiten neuen Kontext: "Ich liebe Frank O'Hara, die New York School - und mir fiel auf, dass das, was O'Hara beschreibt, eine Alternative sein könnte: sich spontan entscheiden, immer und immer wieder. An jedem neuen Tag entscheiden, wie wir unsere Leben verbringen möchten. Und wenn das immer mit der gleichen Person ist, ist das auch in Ordnung."
Zwei ihrer Figuren halten einmal Händchen: "Es war eine Beziehung, und es war zugleich keine Beziehung. Jede unserer Gesten war spontan, und wenn wir von außen wie ein Paar wirkten, war das für uns ein interessanter Zufall. Daraus entspann sich ein Witz zwischen uns, der für alle, auch für uns, bedeutungslos war: ,Was ist eine Freundin?', sagten wir dann heiter." Eine Freundin, meine Freundin, Ehemann, Ehefrau sind für Sally Rooney "soziale Kategorien, die nicht unterbringen können, was eigentlich vor sich geht - und denen wir uns gleichzeitig so tief verbunden fühlen. Wir haben sie so weit verinnerlicht, dass es uns normalen Menschen nicht möglich ist, sie ganz aufzugeben, selbst wenn wir es alle wollten."
"Wir", "normale Menschen", "wir alle", sagt Rooney oft. Ihr zweiter Roman, mit dem sie 2018 den Man Booker Prize gewann, heißt auch so: "Normal People". Das Cover zeigt ein Liebespaar, das in einer Sardinenbüchse liegt. "Ich schreibe nicht so viel über Erfahrungen, die ein grundlegender Bruch mit dem sind, was wir ,normal' nennen. Vorgehaltene Waffen oder so etwas, die meisten Menschen erleben das nicht. Aber Dinge wie ein bisschen verknallt sein, mit Freunden streiten, das erlebt jeder. Mich interessiert die alltägliche Textur unseres Lebens und wie wichtig sie sich für uns anfühlt, während wir sie leben, obwohl sie es natürlich nicht ist, sie ist eigentlich überhaupt nicht wichtig - aber das ist das Leben, und am Ende stirbst du." Am Ende eines Kapitels in "Gespräche mit Freunden" steht einfach nur: "Things went on."
Und, sagt Rooney, dann interessiere sie natürlich auch der reale Druck des Normalen, der Wunsch, normal sein zu wollen oder gerade nicht. Was ihr mit diesem Blick gelingt, ist, Einzelschicksale nicht zu überhöhen, sie aber auch nicht zu entwerten. Schnörkellos und mondän ist die Sprache ihres Realismus, atemberaubend sind ihre Dialoge, die hin und her springen, sich aneinander hoch- und wieder herunterschrauben. Genau sind ihre Körperempfindungsbilder von Kopfschmerzen ("aus dem Himmel direkt in mein Gehirn"), Blicken ("als tränke ich kaltes Wasser") oder von der Busfahrt am Morgen danach: "Ich saß hinten, neben dem Fenster, und die Sonne bohrte sich in mein Gesicht, und der Stoff des Sitzes fühlte sich großartig an auf meiner nackten Haut".
Und dann ist da noch ihr Witz: Einmal wacht Frances nachts von starken Regelschmerzen auf: "Die Ernsthaftigkeit meines Schmerzes versetzte mich in Aufregung, als würde er mein Leben vielleicht auf ungeahnte Weise verändern." Ein anderes Mal liegt sie, die ein anrührendes, unaufgeregtes Martyrium durchläuft, auf dem Bett, ",Kritik der postkolonialen Vernunft' halb geöffnet auf dem Kissen neben mir. Gelegentlich hob ich einen Finger zum Umblättern und ließ die schwere, verwirrende Syntax durch meine Augen in mein Gehirn fließen. Ich werde mich weiterbilden, dachte ich. Ich werde irgendwann so klug sein, dass mich niemand mehr versteht." Und Frances liest das Neue Testament: "Die Bibel erschloss sich mir sehr viel mehr, eigentlich fast vollständig, wenn ich mir Bobbi als Jesus vorstellte. Sie sagte seinen Text nicht ganz unverfälscht auf; oft betonte sie ihn sarkastisch oder mit einem seltsam distanzierten Ausdruck. Der Teil über Ehemänner und Ehefrauen war satirisch, während sie die Passage mit Liebet eure Feinde ganz ernst spielte."
In den Kulissen von Rooneys Welten ist Klasse dabei immer anwesend: Mini-Jobs, unbezahlte Praktika, vierzehn Euro auf dem Konto, sich ein paar Wochen mit den Kühlschrankresten der Mitbewohnerin durchsnacken. Bobbi stöhnt: "Reiche Leute machen mich krank", und Frances sagt einmal wie fürs Protokoll, "dass mein Desinteresse an Reichtum ideologisch gesund war. Ich hatte nachgesehen, wie hoch das durchschnittliche Jahreseinkommen wäre, wenn das Weltbruttosozialprodukt gerecht auf alle verteilt würde, und laut Wikipedia läge es bei 16 100 Dollar. Ich sah keinen Grund, weder politisch noch finanziell, warum ich je mehr als diese Summe verdienen sollte." Und in einem Chat-Verlauf, den Frances auf der Suche nach dem Wort "Liebe" durchschaut, monologisiert Bobbi in Kleinbuchstaben: "wenn man liebe nicht nur als zwischenmenschliches phänomen betrachtet / und versucht, sie als soziales wertesystem zu verstehen / dann ist sie sowohl antithetisch zum kapitalismus, indem sie das axiom der selbstsucht herausfordert / welches die gesamte logik der ungleichheit diktiert / sie ist aber auch unterwürfig und vermittelnd / das heißt, mütter ziehen selbstlos ihre kinder ohne gewinnmotiv groß / was den ansprüchen des marktes auf einer ebene entgegensteht / und doch eigentlich nur dazu dient, kostenlose arbeitskräfte zu liefern".
Das alles schreibt Rooney und sagt: "Ich habe keine Agenda. In meinem Roman bin ich nicht daran interessiert, über die Dinge zu urteilen - auch nicht über Dinge, die mir sehr am Herzen liegen wie Sexismus, Kapitalismus, Strukturen der Unterdrückung. Ich bin nur daran interessiert, es zu beobachten, und wenn ich es sehe, werde ich darüber schreiben." Von dem Rooney-Fieber, das einsetzte, sobald ihr Debüt von der englischsprachigen Lesewelt, von Preis-Jurys, einem Unterwäschemodel auf Instagram oder Zadie Smith gleichermaßen euphorisch empfangen wurde, ist sie, sagt sie, selbst überrascht, und wirkt dabei herrlich unkorrumpiert. Ihren Twitter-Account hat sie kommentarlos gelöscht.
Was kann Literatur, Sally Rooney? "Literatur kann einige Fragen stellen, die nicht gestellt werden - oder die nicht richtig gestellt werden. Die dominanten Diskurse über ,das menschliche Leben' in Frage stellen, was es zum Beispiel bedeutet, ein Mensch in Beziehung zu anderen Menschen sein. Und dann, wahrscheinlich, auf irgendeine Weise: den Mächtigen die Wahrheit sagen. Es ist schwierig zu sagen, wie genau ein Roman das tun kann, im Gegensatz zum investigativen Journalismus und all diesen anderen sehr wichtige Weisen, die wir haben, um die Mächtigen mit dem zu konfrontieren, was ist. Als Sozialistin, als Feministin stelle ich mir diese Frage: Was ist das Verhältnis des Romans zum sozialen Wandel? Ich denke, es gibt nicht notwendigerweise eine direkte Beziehung - aber es gibt eine. Und dann hat Literatur auch eine allgemeine Funktion des Trostes. Es gibt viele Menschen, die sehr niedergeschlagen sind. Literatur kann ihnen den Wunsch geben, mit dem Leben weiterzumachen."
Am Ende sagt sie noch und lacht wieder: "Es ist nicht so, dass ich schreibe, die Leute sollen einander betrügen. Es ist nur so, dass ich nicht daran interessiert bin, moralische Urteile zu fällen. Ich frage: Wie ist das Leben wirklich? Die Art und Weise, wie wir über Beziehungen sprechen, ist nicht die Art und Weise, wie wir sie führen. Unsere Kategorien beschreiben die gelebte Realität unserer Leben nicht. Wenn wir uns von den Diskursen entfernen, nach denen wir am ehesten greifen, wenn wir über unsere Beziehungen sprechen, dann können wir beobachten, was wirklich vor sich geht."
Was kann Literatur sein? Eine Erinnerung daran, dass man zumindest den Versuch machen kann, anders zu leben als ein Wort, das zwischen zwei Anführungszeichen passt. Sally Rooneys Romane sind so eine Literatur, die Leben verändern will und kann.
DIBA SHOKRI
Sally Rooney: "Gespräche mit Freunden". Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck. Luchterhand, 384 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Begegnung mit der jungen irischen Autorin Sally Rooney, von der gerade alle reden
Sally Rooney sitzt in einem Konferenzraum des Verlags Faber & Faber, hält die deutsche Ausgabe ihres Debüts in der Hand, ein dickes Hardcover, und lacht: "Mein Gott, ich sehe aus wie David Foster Wallace!" Rooney ist nur für ein paar Tage in London, dann fährt sie in die Bretagne zurück, weiterschreiben. "Arbeitsurlaub", sagt sie dazu. "Wenn ich von etwas wirklich begeistert bin, kann ich zehn, zwölf Stunden am Tag arbeiten. Und wenn ich nicht schreibe, nehme ich mir einfach frei."
Ihr Debüt "Conversations with Friends" ist schon vor zwei Jahren erschienen, machte sie mit einem Schlag bekannt und wurde jetzt von Zoë Beck endlich auch ins Deutsche übersetzt: "Gespräche mit Freunden". Es ist eine Liebesgeschichte. Eine Ménage-à-quatre in Irland und Frankreich, in der, das macht sie besonders, die Figuren die Formen und Bedingungen ihres eigenen Begehrens und das der anderen reflektieren und den Versuch machen, sich diesen Prägungen zu entziehen. Es beginnt mit zwei jungen Frauen, Anfang zwanzig, Studentinnen in Dublin, Bobbi und Frances, an einem Abend im Mai. Die eine sagt gern dramatische Monologe auf und singt Antikriegsballaden, diskutiert gnadenlos intelligent, schreibt "Scheiß aufs Patriarchat" an die Wand ihrer Klosterschule, spottet über "Lohngefälle-Feminismus" ("Weißt du, ich finde, es gibt zu wenig Waffenhändlerinnen") und liebt Frauen. Die andere erzählt: "Bobbi und ich."
Gemeinsam werden sie gebeten, den Supermarkt zu verlassen, in dem sie laut sinnlose Passagen aus Männerzeitschriften rezitieren. Sie lachen über das Wortmonstrum "außereheliche Affäre" und fragen einander, liebenswert und ein bisschen unbeholfen, mit einem Verstand, der dem Empfinden vorauseilt: "Ist es möglich, dass wir ein Alternativmodell entwickeln, wie wir einander lieben?" An diesem Abend treten sie zusammen in einer Bar auf, lernen Melissa kennen, die, etwa fünfzehn Jahre älter, Fotos von ihnen macht ("wie gut sehen wir bitte aus"). Fahren auf einen Drink mit zu ihr und bleiben über Nacht. Melissas Ehemann Nick ist an diesem Anfang nur eine Stimme im Haus.
"Mich interessierte die Idee von Monogamie und die Frage: Was sind Alternativen zu dieser verbindlichen sozialen Form?", sagt Rooney an diesem Morgen in London. Sie spricht mit fester Stimme, zügig und klar. Ihrem Debüt steht als Motto eine Gedichtzeile voran: "In Zeiten der Krise muss sich jeder von uns immer und immer wieder entscheiden, wen er liebt." Rooney schrieb zu dieser Zeile fast vierhundert Seiten neuen Kontext: "Ich liebe Frank O'Hara, die New York School - und mir fiel auf, dass das, was O'Hara beschreibt, eine Alternative sein könnte: sich spontan entscheiden, immer und immer wieder. An jedem neuen Tag entscheiden, wie wir unsere Leben verbringen möchten. Und wenn das immer mit der gleichen Person ist, ist das auch in Ordnung."
Zwei ihrer Figuren halten einmal Händchen: "Es war eine Beziehung, und es war zugleich keine Beziehung. Jede unserer Gesten war spontan, und wenn wir von außen wie ein Paar wirkten, war das für uns ein interessanter Zufall. Daraus entspann sich ein Witz zwischen uns, der für alle, auch für uns, bedeutungslos war: ,Was ist eine Freundin?', sagten wir dann heiter." Eine Freundin, meine Freundin, Ehemann, Ehefrau sind für Sally Rooney "soziale Kategorien, die nicht unterbringen können, was eigentlich vor sich geht - und denen wir uns gleichzeitig so tief verbunden fühlen. Wir haben sie so weit verinnerlicht, dass es uns normalen Menschen nicht möglich ist, sie ganz aufzugeben, selbst wenn wir es alle wollten."
"Wir", "normale Menschen", "wir alle", sagt Rooney oft. Ihr zweiter Roman, mit dem sie 2018 den Man Booker Prize gewann, heißt auch so: "Normal People". Das Cover zeigt ein Liebespaar, das in einer Sardinenbüchse liegt. "Ich schreibe nicht so viel über Erfahrungen, die ein grundlegender Bruch mit dem sind, was wir ,normal' nennen. Vorgehaltene Waffen oder so etwas, die meisten Menschen erleben das nicht. Aber Dinge wie ein bisschen verknallt sein, mit Freunden streiten, das erlebt jeder. Mich interessiert die alltägliche Textur unseres Lebens und wie wichtig sie sich für uns anfühlt, während wir sie leben, obwohl sie es natürlich nicht ist, sie ist eigentlich überhaupt nicht wichtig - aber das ist das Leben, und am Ende stirbst du." Am Ende eines Kapitels in "Gespräche mit Freunden" steht einfach nur: "Things went on."
Und, sagt Rooney, dann interessiere sie natürlich auch der reale Druck des Normalen, der Wunsch, normal sein zu wollen oder gerade nicht. Was ihr mit diesem Blick gelingt, ist, Einzelschicksale nicht zu überhöhen, sie aber auch nicht zu entwerten. Schnörkellos und mondän ist die Sprache ihres Realismus, atemberaubend sind ihre Dialoge, die hin und her springen, sich aneinander hoch- und wieder herunterschrauben. Genau sind ihre Körperempfindungsbilder von Kopfschmerzen ("aus dem Himmel direkt in mein Gehirn"), Blicken ("als tränke ich kaltes Wasser") oder von der Busfahrt am Morgen danach: "Ich saß hinten, neben dem Fenster, und die Sonne bohrte sich in mein Gesicht, und der Stoff des Sitzes fühlte sich großartig an auf meiner nackten Haut".
Und dann ist da noch ihr Witz: Einmal wacht Frances nachts von starken Regelschmerzen auf: "Die Ernsthaftigkeit meines Schmerzes versetzte mich in Aufregung, als würde er mein Leben vielleicht auf ungeahnte Weise verändern." Ein anderes Mal liegt sie, die ein anrührendes, unaufgeregtes Martyrium durchläuft, auf dem Bett, ",Kritik der postkolonialen Vernunft' halb geöffnet auf dem Kissen neben mir. Gelegentlich hob ich einen Finger zum Umblättern und ließ die schwere, verwirrende Syntax durch meine Augen in mein Gehirn fließen. Ich werde mich weiterbilden, dachte ich. Ich werde irgendwann so klug sein, dass mich niemand mehr versteht." Und Frances liest das Neue Testament: "Die Bibel erschloss sich mir sehr viel mehr, eigentlich fast vollständig, wenn ich mir Bobbi als Jesus vorstellte. Sie sagte seinen Text nicht ganz unverfälscht auf; oft betonte sie ihn sarkastisch oder mit einem seltsam distanzierten Ausdruck. Der Teil über Ehemänner und Ehefrauen war satirisch, während sie die Passage mit Liebet eure Feinde ganz ernst spielte."
In den Kulissen von Rooneys Welten ist Klasse dabei immer anwesend: Mini-Jobs, unbezahlte Praktika, vierzehn Euro auf dem Konto, sich ein paar Wochen mit den Kühlschrankresten der Mitbewohnerin durchsnacken. Bobbi stöhnt: "Reiche Leute machen mich krank", und Frances sagt einmal wie fürs Protokoll, "dass mein Desinteresse an Reichtum ideologisch gesund war. Ich hatte nachgesehen, wie hoch das durchschnittliche Jahreseinkommen wäre, wenn das Weltbruttosozialprodukt gerecht auf alle verteilt würde, und laut Wikipedia läge es bei 16 100 Dollar. Ich sah keinen Grund, weder politisch noch finanziell, warum ich je mehr als diese Summe verdienen sollte." Und in einem Chat-Verlauf, den Frances auf der Suche nach dem Wort "Liebe" durchschaut, monologisiert Bobbi in Kleinbuchstaben: "wenn man liebe nicht nur als zwischenmenschliches phänomen betrachtet / und versucht, sie als soziales wertesystem zu verstehen / dann ist sie sowohl antithetisch zum kapitalismus, indem sie das axiom der selbstsucht herausfordert / welches die gesamte logik der ungleichheit diktiert / sie ist aber auch unterwürfig und vermittelnd / das heißt, mütter ziehen selbstlos ihre kinder ohne gewinnmotiv groß / was den ansprüchen des marktes auf einer ebene entgegensteht / und doch eigentlich nur dazu dient, kostenlose arbeitskräfte zu liefern".
Das alles schreibt Rooney und sagt: "Ich habe keine Agenda. In meinem Roman bin ich nicht daran interessiert, über die Dinge zu urteilen - auch nicht über Dinge, die mir sehr am Herzen liegen wie Sexismus, Kapitalismus, Strukturen der Unterdrückung. Ich bin nur daran interessiert, es zu beobachten, und wenn ich es sehe, werde ich darüber schreiben." Von dem Rooney-Fieber, das einsetzte, sobald ihr Debüt von der englischsprachigen Lesewelt, von Preis-Jurys, einem Unterwäschemodel auf Instagram oder Zadie Smith gleichermaßen euphorisch empfangen wurde, ist sie, sagt sie, selbst überrascht, und wirkt dabei herrlich unkorrumpiert. Ihren Twitter-Account hat sie kommentarlos gelöscht.
Was kann Literatur, Sally Rooney? "Literatur kann einige Fragen stellen, die nicht gestellt werden - oder die nicht richtig gestellt werden. Die dominanten Diskurse über ,das menschliche Leben' in Frage stellen, was es zum Beispiel bedeutet, ein Mensch in Beziehung zu anderen Menschen sein. Und dann, wahrscheinlich, auf irgendeine Weise: den Mächtigen die Wahrheit sagen. Es ist schwierig zu sagen, wie genau ein Roman das tun kann, im Gegensatz zum investigativen Journalismus und all diesen anderen sehr wichtige Weisen, die wir haben, um die Mächtigen mit dem zu konfrontieren, was ist. Als Sozialistin, als Feministin stelle ich mir diese Frage: Was ist das Verhältnis des Romans zum sozialen Wandel? Ich denke, es gibt nicht notwendigerweise eine direkte Beziehung - aber es gibt eine. Und dann hat Literatur auch eine allgemeine Funktion des Trostes. Es gibt viele Menschen, die sehr niedergeschlagen sind. Literatur kann ihnen den Wunsch geben, mit dem Leben weiterzumachen."
Am Ende sagt sie noch und lacht wieder: "Es ist nicht so, dass ich schreibe, die Leute sollen einander betrügen. Es ist nur so, dass ich nicht daran interessiert bin, moralische Urteile zu fällen. Ich frage: Wie ist das Leben wirklich? Die Art und Weise, wie wir über Beziehungen sprechen, ist nicht die Art und Weise, wie wir sie führen. Unsere Kategorien beschreiben die gelebte Realität unserer Leben nicht. Wenn wir uns von den Diskursen entfernen, nach denen wir am ehesten greifen, wenn wir über unsere Beziehungen sprechen, dann können wir beobachten, was wirklich vor sich geht."
Was kann Literatur sein? Eine Erinnerung daran, dass man zumindest den Versuch machen kann, anders zu leben als ein Wort, das zwischen zwei Anführungszeichen passt. Sally Rooneys Romane sind so eine Literatur, die Leben verändern will und kann.
DIBA SHOKRI
Sally Rooney: "Gespräche mit Freunden". Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck. Luchterhand, 384 Seiten, 20 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Nach der Lektüre von Sally Rooneys Debütroman weiß Rezensentin Anne Kohlick, weshalb die junge irische Autorin derzeit von aller Welt gefeiert wird. Auch in der deutschen Übersetzung ist "Gespräche mit Freunden" ein absoluter Lesegenuss, so die begeisterte Rezensentin. Rooney erzählt darin von Frances und ihrer besten Freundin Bobbi, die gemeinsam Literatur studieren und auf Poetry Nights auftreten, wo sie eines Abends eine ältere Schriftstellerin und später deren Ehemann Nick kennenlernen. Zwischen den vier Figuren entwickelt sich bald ein komplexes Geflecht von Beziehungen und Emotionen, von dem die Ich-Erzählerin in einer klaren und minimalistischen Sprache erzählt, mit sehr viel Witz und Ironie. Literarisch kann sie dabei immer wieder mit originellen Vergleichen und wenigen aber dafür umso präziser beschriebenen Details glänzen, so Kohlick. Frances' Erzählhaltung und Ton in diesem dialoglastigen Text passen zu ihrem verzweifelten Bemühen cool, selbstbewusst und unabhängig zu wirken und ihre Gefühle zu unterdrücken, obwohl sie sich bewusst ist, welche emotionalen Auswirkungen ihr Verhalten auf sie selbst und andere hat. Somit ist Rooneys Roman auch ein ehrlicher und warmherziger Entwicklungsroman und natürlich ein "riesiges Lesevergnügen", so die überschwängliche Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ihre Bücher stolpern nie. Sie sind so scharfsinnig und elegant komponiert, dass man ihnen schon auf der ersten Seite verfällt.« Carolin Würfel / DIE ZEIT