"Auch der Mutigste von uns hat nur selten den Mut zu dem, was er eigentlich weiß ..."(Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung)Eine heitere Psychologie bedarf des unverstellten Blickes, der "fröhlichen Wissenschaft", der offenen phänomenologischen Schau. Auch wenn man bei einigem in diesem Buch, wie z.B. den Ausführungen über das Bild des Sokrates, zurückschrecken mag, die Einforderung Nietzsches des unbedingt freien Blicks steht - bis heute - spannungsvoll im Raum."Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." (Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.1999Ein solcher freigewordener Geist steht mit Fatalismus mitten im All
Ein Zwischenfall mit Folgen: Im Bündnis mit Goethe fürchtete Friedrich Nietzsche die "Moralapostel der Gleichheit" nicht
Als Zitatenlieferant läßt Nietzsche hierzulande alle Philosophen hinter sich, seitdem das Kirchenväterduo Marx/Engels weggefallen ist. Auch zu Goethe finden sich bei Nietzsche für den Schmuck jeder Jubiläumsrede Textstellen genug. Und selbst dem Unbehagen an Goethe-Spektakeln aller Art kann Nietzsche zu deutlichem Ausdruck verhelfen: "Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen."
So häufig man, auch in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, Nietzsches geschliffenen Aperçus über Goethe begegnet, so selten trifft man auf Überlegungen, wohin sie, spiegelnden Bruchflächen gleich, im Ganzen gehören. Wenn Widersprüche zwischen gelegentlichen Momenten der Reserve und der dominierenden Goethe-Apotheose überhaupt bemerkt werden, liegt der neutralisierende Hinweis nahe, Nietzsches Denken bewege sich ohnehin stets in Gegensätzen. Weiter führt die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen: der historisch-faktischen und der philosophischen. Hier eine Trennung zu versuchen ist immer geboten, wenn ein großer Name der politischen oder geistigen Sphäre von Nietzsche ins Spiel gebracht wird; auch und gerade, weil Nietzsche selbst die Ebenen selten zu trennen scheint. Und oftmals gilt es zu berücksichtigen, welchem aktuellen Anlaß und welcher lebensgeschichtlichen Situation sich ein Aphorismus verdankt.
Bereits ein Blick in die älteren wie neueren Register von Nietzsches Werken und Briefen verrät, daß "Goethe" eines jener Stichworte ist, deren Anzahl allein schon das Gewicht ahnen läßt, was sich für Nietzsche in jenem einzigartigen Phänomen verbirgt und sich uns in seinen Texten als "sein" Goethe präsentiert. Es hat nur wenig mit dem zu tun, was uns für gewöhnlich in Monographien oder gar Biographien begegnet. Ohnehin steht Goethes Werk bei Nietzsche, trotz der vielen teils rühmenden, teils kritisch-distanzierten und jedenfalls häufig einseitig herausgetriebenen Beobachtungen und Urteile, nicht im Zentrum. Doch darf man, was Nietzsche stärker faszinierte als das Werk, nicht einfach mit der Persönlichkeit des universalen Genies gleichsetzen. Selbst ein Begriff wie Gestalt, in dem die individuelle Person ins Symbolische erhöht erscheint, trifft die Eigenart von Nietzsches Goethe nur bedingt.
Ernst Bertram hat in seinem "Nietzsche - Versuch einer Mythologie" von 1918, dem eindrucksvollsten, von Thomas Mann mit Grund ein Leben lang hochgeschätzten Nietzsche-Beitrag der Literaturwissenschaft, mit einem der Lieblingsbegriffe Nietzsches, der Maske, operiert und auch Goethe als Maske Nietzsches gedeutet. Doch war das aus der Perspektive eines Interpreten gesehen, dem die eigentlich philosophische Dimension verschlossen blieb. Mit ihr im Blick, wird man den abstrakteren Begriff der Chiffre für tauglicher halten als den der Maske.
Zwischen dem Todesjahr des Dichters, 1832, und dem Geburtsjahr des Philosophen, 1844, lagen nur zwölf Jahre. Nietzsche wuchs also heran und schrieb seine Bücher und die Texte des Nachlasses, während der postume Goethe-Kult des neunzehnten Jahrhunderts zugleich mit und gelegentlich auch gegen die beginnende Goethe-Philologie sich entwickelte; wobei auf seiten der mythologisierenden Verehrer wie der strengeren Diener des Wortes dem Zeitgeist reichlich Tribut gezollt wurde.
Natürlich liest schon der leidenschaftlich der Musik und der Dichtung zugewandte Student der klassischen Philologie wie zuvor der Gymnasiast: Goethe. Als er im Herbst 1865 von der Bonner an die Leipziger Universität wechselt, ruft er einem Freund in Erinnerung: "Heute vor hundert Jahren wurde der Student Wolfgang Goethe immatrikuliert." Und er fügt hinzu: "Wir haben die bescheidene Hoffnung, daß man nach wieder hundert Jahren auch unsrer Immatrikulation gedenkt." Hier bereits verrät sich etwas von jener oft ironisch drapierten Koketterie, die schließlich, nach über zwei Jahrzehnten, so euphorisch-groteske wie tragische Züge annahm, als kurz vor dem Zusammenbruch die echte Größe und der Wahnsinn sich ineinander zu verschlingen begannen.
Goethe also, von Jugend an. Aber zum zentralen geistigen, ja existentiellen und damit prägenden Erlebnis wurde nicht er, sondern Richard Wagner. Das hatte die nachhaltigsten Folgen auch für den weiteren Umgang mit Goethe. Nietzsches spätere Umwertung von Wagners philosophischem Zwillingsheros Schopenhauer verlief weniger exzessiv als die mit tiefer Selbstverletzung einhergehende Trennung von Wagner. Das hing vor allem mit der so schwer zu lösenden persönlichen Bindung an Richard und Cosima Wagner zusammen, während es natürlich zu keiner privaten Beziehung mit dem schon 1860 verstorbenen Schopenhauer gekommen war. Doch trug zu der milderen Verwerfung Schopenhauers auch ein wenig bei, daß dieser immerhin zur vergangenen Sphäre von Weimar gehörte. Sie verklärte sich um so mehr, als die Distanz zu Bayreuth und der von Wagner beherrschten Gegenwart immer schärfere Formen annahm.
Solange Nietzsches Glaube an Wagners Sendung noch ungebrochen war, sah er in Goethe einen Wegbereiter der Wiedergeburt der Kultur aus dem Geiste der Antike. Das alles vertrug sich zunächst mit der von Wagner inspirierten Überzeugung, daß mit der neuen Kultur der wahre deutsche Geist zu seiner höheren Bestimmung finden werde: dieser reformatorische Geist, dessen Inbild einst Dürer mit seinem Ritter zwischen Tod und Teufel geschaffen hatte. Nietzsches Glaube an den deutschen Geist und die mit ihm begonnene und nun zu vollendende Kultur sah sich auch noch nicht widerlegt, sondern gerade bestätigt durch das, was er nach dem Sieg über Frankreich und die Reichsgründung von 1871 - nun immerhin schon im Abstand zu Wagner als dem Komponisten eines Kaiser-Marsches - als ein Verhängnis betrachtete: die Verwandlung des militärischen Sieges "in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,deutschen Reiches'".
Wie eng Nietzsche noch um diese Zeit Wagner im Verein mit Goethe sah, verrät etwa sein Brief vom 21. Mai 1870, in dem er dem als "Mystagog in den Geheimlehren der Kunst und des Lebens" gefeierten Meister zum Geburtstag gratuliert. Redet er ihn doch als "Pater Seraphice" an und schließt auch mit Berufung auf das Ende von "Faust II", indem er unterschreibt: "Einer ,der seligen Knaben'".
Je mehr die Seligkeit dem Zweifel wich, desto stärker verwandelte sich Goethe zum Gegenbild von Wagner und rückte so an die Seite Napoleons. Die nicht- oder überdeutschen, ja antideutschen Züge Goethes wurden dabei immer schärfer herausgetrieben. Denn die Unbedenklichkeit, mit der Goethe nun im Kaiserreich zur Inkarnation deutscher Kunst und deutschen Wesens stilisiert wurde, gab Nietzsches Empörung gegen solche Usurpation stets neue Nahrung. Der eingangs zitierte Satz über Goethe als folgenlosen Zwischenfall war ja vor allem im Hinblick auf das neue Deutschland gemeint.
Diese Bemerkung fällt im zweiten, 1880 erschienenen Band von "Menschliches, Allzumenschliches". Der Aphorismus wird mit der Frage eröffnet, ob es "deutsche Klassiker" gebe, und er schließt mit der These, die klarmacht, daß die Frage rhetorisch gemeint sei und die Antwort schon in den Gänsefüßchen stecke, also mit Nein zu beantworten sei. Offenkundig hält Nietzsche die Verbindung von klassisch und deutsch für einen Widerspruch in sich selbst. Denn Klassiker, das sind für ihn nicht Anpflanzer von intellektuellen und literarischen Tugenden. Als solche läßt er Klopstock, Herder, Wieland oder Lessing, auch Schiller gelten, nicht aber als Klassiker. Denn das sind "Vollender und höchste Lichtspitzen . . . , welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zugrunde gehen". Zu den Bleibenden zählt Goethe, und über ihn schweift Nietzsches Blick in die weiteste Ferne: "Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt; in den Klassikern."
Über die dreißig Autoren oder gar Titel hüllt Nietzsche sich da in Schweigen. Man zögert deshalb, Eckermanns Gespräche mit Goethe einzusetzen, obwohl Nietzsche diesem Werk den Ehrentitel des "besten deutschen Buches, das es gibt", verliehen hat.
Der Widerspruch gegen all jene, die Goethe fürs Deutsche reklamierten, bestimmt auch viele der späteren Notate. Wenn gar zum Nationalen das Antisemitische sich gesellt und folgerichtig Goethe dazu herhalten muß, Heine herabzusetzen, hält Nietzsche es für unerläßlich, den Bewohnern von "Europas Flachland" im Fortissimo der "Götzen-Dämmerung" zu verkünden, sie kämen "in der Hauptsache - und das bleibt die Kultur -" nicht mehr in Betracht.
All dies spielt sich auf jener Ebene ab, die zu erforschen noch immer die Sache der historisch orientierten Philologie ist, einer Wissenschaft also, die ihr wertvolles Erbe nicht für ein Linsengericht hingeben darf. Für sie bleiben auch im Falle Nietzsches noch viele Details zu klären. Wohl kaum aber dürften neue Entdeckungen oder Quellenfunde Nietzsches Goethe-Bild verändern, wie es sich im Zusammenhang seiner Philosophie darstellt. Denn über sein Chiffre-System, innerhalb dessen Goethe eine überragende Rolle zukommt, hat er sich so klar geäußert, daß es keines Mystagogen bedarf, um zu erkennen, wie er geschichtliche und auch mythologische Gestalten für seine Philosophie einsetzt.
In "Ecce homo" sagt er über die beiden letzten, Schopenhauer und Wagner gewidmeten "Unzeitgemässen Betrachtungen", er habe "zwei berühmte und ganz und gar noch unfestgestellte Typen beim Schopf" genommen, "um etwas auszusprechen, um ein paar Formeln, Zeichen, Sprachmittel mehr in der Hand zu haben . . . Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik für Plato". Was bedeutet demzufolge Goethe als semiotische Figur - das Wort "semiotisch" im Sinne Nietzsches, nicht in dem der heutigen Semiotik-Theorien verstanden?
Da Nietzsche auch im Fall Goethes nicht säuberlich trennt zwischen dem, was er der Historie entnimmt, und dem, wofür es ihm dient, gehen Vorderund Hintergrund oft ineinander über, und es bleibt dem Betrachter überlassen, die Verwandlung des Namens und der Fakten in die semiotische Figur nachzuvollziehen. Besonders in den Spätschriften, wo sich die markantesten Stellen finden, ist die Lesekunst gefordert, weil gerade hier das Neben-, Aus- und Ineinander von historischen, psychologischen und philosophischen Aspekten zur Regel wird. Die wichtigsten Texte, in denen die semiotische Figur "Goethe" sich modellhaft aus der gerade noch erkennbaren historischen entwickelt, stehen in der "Götzen-Dämmerung". In einem Unterkapitel, dessen Überschrift auf die eigenen Frühschriften zurückverweist - "Streifzüge eines Unzeitgemässen" -, sind Aphorismen gereiht, die zielgerichtet auf die letzten, Goethe gewidmeten, zulaufen. Dieses Finale beginnt mit einem furiosen Angriff auf Rousseau. Dessen vermeintliche Rückkehr zur Natur ist das Gegenteil von dem, was Nietzsche mit derselben Formel umschreibt, obwohl er darunter "eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen" versteht, "hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf".
Zunächst wird nicht Goethe gegen Rousseau ins Feld geführt, sondern Napoleon, und erkennbar als semiotische Figur: "Um es im Gleichnis zu sagen: Napoleon war ein Stück ,Rückkehr zur Natur', so wie ich sie verstehe." Um die historischen Gegebenheiten, also etwa um Napoleons Verhältnis zur Revolution, schert Nietzsche sich nicht. Rousseau wird kurzerhand als Moralapostel der Gleichheit angeprangert. Nicht eigentlich die Idee der Gleichheit, diese als giftigstes Gift denunzierte "moderne Idee", habe dann die edelsten Geister verführt, vielmehr die Revolution "als Schauspiel", das sich bot, als diese Idee mit einer "Art Glorie und Feuerschein" inszeniert wurde. Daß gerade die gröbsten Beispiele von Goethes Ablehnung der Revolution eher ohnmächtige Reaktion einer in die Tiefen seiner Existenz reichenden Erschütterung und Verunsicherung sind, hätte Nietzsche, der als Psychologe mancherlei von Freud vorweggenommen hat, sehr wohl zu erkennen vermocht, hätte seine Götzen-Dämmerung-Strategie nicht gerade das Gegenteil solcher Erkenntnis verlangt, nämlich: "Ich sehe nur Einen, der sie (die Revolution) empfand, wie sie empfunden werden muß, mit Ekel - Goethe . . .".
Der habe "kein größeres Erlebnis" gehabt "als jenes ens realissimum, genannt Napoleon". Aus dieser Zweiheit der Vorläufer wird dann das trinitarische Sternbild mit Nietzsche als Drittem. Goethe nämlich ist, als europäisches Ereignis, "ein großartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts". Womit Goethe für das achtzehnte Jahrhundert die Rolle zugeteilt wird, die Nietzsche für sich im Hinblick auf das von Wagner dominierte neunzehnte in Anspruch nimmt und dann in "Ecce homo" als die Selbstüberwindung der décadence verkündet: "Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz." Die Schilderung dieses Gegenstücks von einem décadent, die Nietzsche ausdrücklich eine Selbstbeschreibung nennt, deckt sich mit jener, in der er Goethe als sich selbst schaffende Totalität preist, in der sich das achtzehnte Jahrhundert überwunden hat. Sie gipfelt in der Apotheose: "Ein solcher freigewordener Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben . . . , daß im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht . . . . Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft."
Daß Goethe, der Zeitgenosse Winckelmanns - also der historische Goethe -, die Griechen nicht verstanden habe, weil seine Vorstellung vom Griechischen "unverträglich mit jenem Element", dem Orgiastischen, gewesen sei, aus dem die "dionysische Kunst" wächst, konstatiert Nietzsche zwar am Ende der "Götzen-Dämmerung". Doch sieht er darin offenbar keinen Widerspruch zu dem in seinem Goethe inkarnierten dionysischen Glauben. Denn in diesem Glauben - auch er ist immer noch ein Glaube - schließen sich die semiotischen Figuren, unter denen Goethe einen so hohen Rang einnimmt, im Ganzen von Nietzsches philosophischem Entwurf zusammen. Den Zeitgenossen mußte ein Urteil wie das folgende als provozierende Anmaßung erscheinen: "Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe." Wir lesen das heute anders - im Hinblick nicht nur auf Nietzsche selbst,sondern auch auf Goethe.
ECKHARD HEFTRICH
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Ein Zwischenfall mit Folgen: Im Bündnis mit Goethe fürchtete Friedrich Nietzsche die "Moralapostel der Gleichheit" nicht
Als Zitatenlieferant läßt Nietzsche hierzulande alle Philosophen hinter sich, seitdem das Kirchenväterduo Marx/Engels weggefallen ist. Auch zu Goethe finden sich bei Nietzsche für den Schmuck jeder Jubiläumsrede Textstellen genug. Und selbst dem Unbehagen an Goethe-Spektakeln aller Art kann Nietzsche zu deutlichem Ausdruck verhelfen: "Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen."
So häufig man, auch in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, Nietzsches geschliffenen Aperçus über Goethe begegnet, so selten trifft man auf Überlegungen, wohin sie, spiegelnden Bruchflächen gleich, im Ganzen gehören. Wenn Widersprüche zwischen gelegentlichen Momenten der Reserve und der dominierenden Goethe-Apotheose überhaupt bemerkt werden, liegt der neutralisierende Hinweis nahe, Nietzsches Denken bewege sich ohnehin stets in Gegensätzen. Weiter führt die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen: der historisch-faktischen und der philosophischen. Hier eine Trennung zu versuchen ist immer geboten, wenn ein großer Name der politischen oder geistigen Sphäre von Nietzsche ins Spiel gebracht wird; auch und gerade, weil Nietzsche selbst die Ebenen selten zu trennen scheint. Und oftmals gilt es zu berücksichtigen, welchem aktuellen Anlaß und welcher lebensgeschichtlichen Situation sich ein Aphorismus verdankt.
Bereits ein Blick in die älteren wie neueren Register von Nietzsches Werken und Briefen verrät, daß "Goethe" eines jener Stichworte ist, deren Anzahl allein schon das Gewicht ahnen läßt, was sich für Nietzsche in jenem einzigartigen Phänomen verbirgt und sich uns in seinen Texten als "sein" Goethe präsentiert. Es hat nur wenig mit dem zu tun, was uns für gewöhnlich in Monographien oder gar Biographien begegnet. Ohnehin steht Goethes Werk bei Nietzsche, trotz der vielen teils rühmenden, teils kritisch-distanzierten und jedenfalls häufig einseitig herausgetriebenen Beobachtungen und Urteile, nicht im Zentrum. Doch darf man, was Nietzsche stärker faszinierte als das Werk, nicht einfach mit der Persönlichkeit des universalen Genies gleichsetzen. Selbst ein Begriff wie Gestalt, in dem die individuelle Person ins Symbolische erhöht erscheint, trifft die Eigenart von Nietzsches Goethe nur bedingt.
Ernst Bertram hat in seinem "Nietzsche - Versuch einer Mythologie" von 1918, dem eindrucksvollsten, von Thomas Mann mit Grund ein Leben lang hochgeschätzten Nietzsche-Beitrag der Literaturwissenschaft, mit einem der Lieblingsbegriffe Nietzsches, der Maske, operiert und auch Goethe als Maske Nietzsches gedeutet. Doch war das aus der Perspektive eines Interpreten gesehen, dem die eigentlich philosophische Dimension verschlossen blieb. Mit ihr im Blick, wird man den abstrakteren Begriff der Chiffre für tauglicher halten als den der Maske.
Zwischen dem Todesjahr des Dichters, 1832, und dem Geburtsjahr des Philosophen, 1844, lagen nur zwölf Jahre. Nietzsche wuchs also heran und schrieb seine Bücher und die Texte des Nachlasses, während der postume Goethe-Kult des neunzehnten Jahrhunderts zugleich mit und gelegentlich auch gegen die beginnende Goethe-Philologie sich entwickelte; wobei auf seiten der mythologisierenden Verehrer wie der strengeren Diener des Wortes dem Zeitgeist reichlich Tribut gezollt wurde.
Natürlich liest schon der leidenschaftlich der Musik und der Dichtung zugewandte Student der klassischen Philologie wie zuvor der Gymnasiast: Goethe. Als er im Herbst 1865 von der Bonner an die Leipziger Universität wechselt, ruft er einem Freund in Erinnerung: "Heute vor hundert Jahren wurde der Student Wolfgang Goethe immatrikuliert." Und er fügt hinzu: "Wir haben die bescheidene Hoffnung, daß man nach wieder hundert Jahren auch unsrer Immatrikulation gedenkt." Hier bereits verrät sich etwas von jener oft ironisch drapierten Koketterie, die schließlich, nach über zwei Jahrzehnten, so euphorisch-groteske wie tragische Züge annahm, als kurz vor dem Zusammenbruch die echte Größe und der Wahnsinn sich ineinander zu verschlingen begannen.
Goethe also, von Jugend an. Aber zum zentralen geistigen, ja existentiellen und damit prägenden Erlebnis wurde nicht er, sondern Richard Wagner. Das hatte die nachhaltigsten Folgen auch für den weiteren Umgang mit Goethe. Nietzsches spätere Umwertung von Wagners philosophischem Zwillingsheros Schopenhauer verlief weniger exzessiv als die mit tiefer Selbstverletzung einhergehende Trennung von Wagner. Das hing vor allem mit der so schwer zu lösenden persönlichen Bindung an Richard und Cosima Wagner zusammen, während es natürlich zu keiner privaten Beziehung mit dem schon 1860 verstorbenen Schopenhauer gekommen war. Doch trug zu der milderen Verwerfung Schopenhauers auch ein wenig bei, daß dieser immerhin zur vergangenen Sphäre von Weimar gehörte. Sie verklärte sich um so mehr, als die Distanz zu Bayreuth und der von Wagner beherrschten Gegenwart immer schärfere Formen annahm.
Solange Nietzsches Glaube an Wagners Sendung noch ungebrochen war, sah er in Goethe einen Wegbereiter der Wiedergeburt der Kultur aus dem Geiste der Antike. Das alles vertrug sich zunächst mit der von Wagner inspirierten Überzeugung, daß mit der neuen Kultur der wahre deutsche Geist zu seiner höheren Bestimmung finden werde: dieser reformatorische Geist, dessen Inbild einst Dürer mit seinem Ritter zwischen Tod und Teufel geschaffen hatte. Nietzsches Glaube an den deutschen Geist und die mit ihm begonnene und nun zu vollendende Kultur sah sich auch noch nicht widerlegt, sondern gerade bestätigt durch das, was er nach dem Sieg über Frankreich und die Reichsgründung von 1871 - nun immerhin schon im Abstand zu Wagner als dem Komponisten eines Kaiser-Marsches - als ein Verhängnis betrachtete: die Verwandlung des militärischen Sieges "in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,deutschen Reiches'".
Wie eng Nietzsche noch um diese Zeit Wagner im Verein mit Goethe sah, verrät etwa sein Brief vom 21. Mai 1870, in dem er dem als "Mystagog in den Geheimlehren der Kunst und des Lebens" gefeierten Meister zum Geburtstag gratuliert. Redet er ihn doch als "Pater Seraphice" an und schließt auch mit Berufung auf das Ende von "Faust II", indem er unterschreibt: "Einer ,der seligen Knaben'".
Je mehr die Seligkeit dem Zweifel wich, desto stärker verwandelte sich Goethe zum Gegenbild von Wagner und rückte so an die Seite Napoleons. Die nicht- oder überdeutschen, ja antideutschen Züge Goethes wurden dabei immer schärfer herausgetrieben. Denn die Unbedenklichkeit, mit der Goethe nun im Kaiserreich zur Inkarnation deutscher Kunst und deutschen Wesens stilisiert wurde, gab Nietzsches Empörung gegen solche Usurpation stets neue Nahrung. Der eingangs zitierte Satz über Goethe als folgenlosen Zwischenfall war ja vor allem im Hinblick auf das neue Deutschland gemeint.
Diese Bemerkung fällt im zweiten, 1880 erschienenen Band von "Menschliches, Allzumenschliches". Der Aphorismus wird mit der Frage eröffnet, ob es "deutsche Klassiker" gebe, und er schließt mit der These, die klarmacht, daß die Frage rhetorisch gemeint sei und die Antwort schon in den Gänsefüßchen stecke, also mit Nein zu beantworten sei. Offenkundig hält Nietzsche die Verbindung von klassisch und deutsch für einen Widerspruch in sich selbst. Denn Klassiker, das sind für ihn nicht Anpflanzer von intellektuellen und literarischen Tugenden. Als solche läßt er Klopstock, Herder, Wieland oder Lessing, auch Schiller gelten, nicht aber als Klassiker. Denn das sind "Vollender und höchste Lichtspitzen . . . , welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zugrunde gehen". Zu den Bleibenden zählt Goethe, und über ihn schweift Nietzsches Blick in die weiteste Ferne: "Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt; in den Klassikern."
Über die dreißig Autoren oder gar Titel hüllt Nietzsche sich da in Schweigen. Man zögert deshalb, Eckermanns Gespräche mit Goethe einzusetzen, obwohl Nietzsche diesem Werk den Ehrentitel des "besten deutschen Buches, das es gibt", verliehen hat.
Der Widerspruch gegen all jene, die Goethe fürs Deutsche reklamierten, bestimmt auch viele der späteren Notate. Wenn gar zum Nationalen das Antisemitische sich gesellt und folgerichtig Goethe dazu herhalten muß, Heine herabzusetzen, hält Nietzsche es für unerläßlich, den Bewohnern von "Europas Flachland" im Fortissimo der "Götzen-Dämmerung" zu verkünden, sie kämen "in der Hauptsache - und das bleibt die Kultur -" nicht mehr in Betracht.
All dies spielt sich auf jener Ebene ab, die zu erforschen noch immer die Sache der historisch orientierten Philologie ist, einer Wissenschaft also, die ihr wertvolles Erbe nicht für ein Linsengericht hingeben darf. Für sie bleiben auch im Falle Nietzsches noch viele Details zu klären. Wohl kaum aber dürften neue Entdeckungen oder Quellenfunde Nietzsches Goethe-Bild verändern, wie es sich im Zusammenhang seiner Philosophie darstellt. Denn über sein Chiffre-System, innerhalb dessen Goethe eine überragende Rolle zukommt, hat er sich so klar geäußert, daß es keines Mystagogen bedarf, um zu erkennen, wie er geschichtliche und auch mythologische Gestalten für seine Philosophie einsetzt.
In "Ecce homo" sagt er über die beiden letzten, Schopenhauer und Wagner gewidmeten "Unzeitgemässen Betrachtungen", er habe "zwei berühmte und ganz und gar noch unfestgestellte Typen beim Schopf" genommen, "um etwas auszusprechen, um ein paar Formeln, Zeichen, Sprachmittel mehr in der Hand zu haben . . . Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik für Plato". Was bedeutet demzufolge Goethe als semiotische Figur - das Wort "semiotisch" im Sinne Nietzsches, nicht in dem der heutigen Semiotik-Theorien verstanden?
Da Nietzsche auch im Fall Goethes nicht säuberlich trennt zwischen dem, was er der Historie entnimmt, und dem, wofür es ihm dient, gehen Vorderund Hintergrund oft ineinander über, und es bleibt dem Betrachter überlassen, die Verwandlung des Namens und der Fakten in die semiotische Figur nachzuvollziehen. Besonders in den Spätschriften, wo sich die markantesten Stellen finden, ist die Lesekunst gefordert, weil gerade hier das Neben-, Aus- und Ineinander von historischen, psychologischen und philosophischen Aspekten zur Regel wird. Die wichtigsten Texte, in denen die semiotische Figur "Goethe" sich modellhaft aus der gerade noch erkennbaren historischen entwickelt, stehen in der "Götzen-Dämmerung". In einem Unterkapitel, dessen Überschrift auf die eigenen Frühschriften zurückverweist - "Streifzüge eines Unzeitgemässen" -, sind Aphorismen gereiht, die zielgerichtet auf die letzten, Goethe gewidmeten, zulaufen. Dieses Finale beginnt mit einem furiosen Angriff auf Rousseau. Dessen vermeintliche Rückkehr zur Natur ist das Gegenteil von dem, was Nietzsche mit derselben Formel umschreibt, obwohl er darunter "eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen" versteht, "hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf".
Zunächst wird nicht Goethe gegen Rousseau ins Feld geführt, sondern Napoleon, und erkennbar als semiotische Figur: "Um es im Gleichnis zu sagen: Napoleon war ein Stück ,Rückkehr zur Natur', so wie ich sie verstehe." Um die historischen Gegebenheiten, also etwa um Napoleons Verhältnis zur Revolution, schert Nietzsche sich nicht. Rousseau wird kurzerhand als Moralapostel der Gleichheit angeprangert. Nicht eigentlich die Idee der Gleichheit, diese als giftigstes Gift denunzierte "moderne Idee", habe dann die edelsten Geister verführt, vielmehr die Revolution "als Schauspiel", das sich bot, als diese Idee mit einer "Art Glorie und Feuerschein" inszeniert wurde. Daß gerade die gröbsten Beispiele von Goethes Ablehnung der Revolution eher ohnmächtige Reaktion einer in die Tiefen seiner Existenz reichenden Erschütterung und Verunsicherung sind, hätte Nietzsche, der als Psychologe mancherlei von Freud vorweggenommen hat, sehr wohl zu erkennen vermocht, hätte seine Götzen-Dämmerung-Strategie nicht gerade das Gegenteil solcher Erkenntnis verlangt, nämlich: "Ich sehe nur Einen, der sie (die Revolution) empfand, wie sie empfunden werden muß, mit Ekel - Goethe . . .".
Der habe "kein größeres Erlebnis" gehabt "als jenes ens realissimum, genannt Napoleon". Aus dieser Zweiheit der Vorläufer wird dann das trinitarische Sternbild mit Nietzsche als Drittem. Goethe nämlich ist, als europäisches Ereignis, "ein großartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts". Womit Goethe für das achtzehnte Jahrhundert die Rolle zugeteilt wird, die Nietzsche für sich im Hinblick auf das von Wagner dominierte neunzehnte in Anspruch nimmt und dann in "Ecce homo" als die Selbstüberwindung der décadence verkündet: "Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz." Die Schilderung dieses Gegenstücks von einem décadent, die Nietzsche ausdrücklich eine Selbstbeschreibung nennt, deckt sich mit jener, in der er Goethe als sich selbst schaffende Totalität preist, in der sich das achtzehnte Jahrhundert überwunden hat. Sie gipfelt in der Apotheose: "Ein solcher freigewordener Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben . . . , daß im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht . . . . Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft."
Daß Goethe, der Zeitgenosse Winckelmanns - also der historische Goethe -, die Griechen nicht verstanden habe, weil seine Vorstellung vom Griechischen "unverträglich mit jenem Element", dem Orgiastischen, gewesen sei, aus dem die "dionysische Kunst" wächst, konstatiert Nietzsche zwar am Ende der "Götzen-Dämmerung". Doch sieht er darin offenbar keinen Widerspruch zu dem in seinem Goethe inkarnierten dionysischen Glauben. Denn in diesem Glauben - auch er ist immer noch ein Glaube - schließen sich die semiotischen Figuren, unter denen Goethe einen so hohen Rang einnimmt, im Ganzen von Nietzsches philosophischem Entwurf zusammen. Den Zeitgenossen mußte ein Urteil wie das folgende als provozierende Anmaßung erscheinen: "Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe." Wir lesen das heute anders - im Hinblick nicht nur auf Nietzsche selbst,sondern auch auf Goethe.
ECKHARD HEFTRICH
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