»Gebt Salman Rushdie den Nobelpreis.« FAZ Nero Golden kommt aus einem Land, dessen Namen er nie wieder hören wollte, seit er mit seinen drei Söhnen vor ein paar Jahren nach New York gezogen ist. Der junge Filmemacher René ist fasziniert von der Familie und gerät in ihren Bann. Er hat Zugang zu der prächtigen Welt der Goldens – und wird Zeuge davon, wie das Reich des alten Golden zerfällt. Salman Rushdie erfasst den irritierenden Zeitgeist und zeichnet mit größter Erzähllust ein genaues Bild unserer heutigen Welt. Ungekürzt gelesen von Simon Jäger. (Laufzeit: ca. 14h 32)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Am Anfang von Salman Rushdies Roman kommt sich Rezensent Burkhard Müller vor wie in einem Fernsehkrimi, schon wegen all der unheilschwangeren Andeutungen, die der Autor seinen Ich-Erzähler machen lässt: Die von ihrer Vergangenheit flüchtenden Familie Golden, Vater Nero und seine drei Söhne, ziehen in die New Yorker Nachbarschaft des Filmemachers Rene ein, dieser erkennt in ihnen sofort das lang gesuchte Drehbuchmaterial für den Film, der ihm zum Durchbruch verhelfen soll. Zu Müllers Bedauern schafft Rushdie es jedoch nicht, die zu Beginn aufgebaute Spannung zu halten. Der spannendste Part des Romans gelingt Rushdie mit der Figur einer jungen Russin, mit der der Patriarch Nero ein Verhältnis hat, sie ist zerrissen zwischen dem Verlangen nach einem Leben in Wohlstand und der Amoralität der russischen Märchenhexe Baba Jaga. Die "ungeschickte Konstruktion und Langatmigkeit" verzeiht Müller am Ende nur wegen des Hochverrats, den der Erzähler am Schluss an den Goldens begeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2017Hier ist Wahnfried, das Purgatorium
Vielleicht ist der Spottumentarfilm die Kunstform unserer Zeit: Salman Rushdies großer, völlig überkandidelter Amerika-Roman "Golden House" treibt postmodernes Erzählen auf die Spitze.
Der Buchumschlag zur deutschen Ausgabe von Salman Rushdies neuem Roman "Golden House" zeigt eine New Yorker Straßenschlucht und hat die Anmutung eines billigen Thrillers. Aber das ist womöglich beabsichtigt, denn dem Erzähler des Romans, einem gewissen René Unterlinden, schwebt genau dies vor: "Mein imaginärer Film", sagt er einmal, "wäre ein Finanz- und Politthriller oder eine Serie solcher Thriller mit meinem Nachbarn als Hauptfigur." In einer Hinsicht ist Rushdies Roman dieser Thriller, der den Aufstieg und Fall eines Mafia-Paten zeigt, einer Art König von New York, den sowohl der Hauch "billigen, schweren Parfüms" als auch der von "krasser, despotischer Gefahr" umweht. Über diesen siebzigjährigen Mann mit ledrig dunkler Haut, diabolisch spitzem Haaransatz und einem vor Goldfüllungen blitzenden Lächeln heißt es: "Kinder und Hunde zuckten vor seiner Berührung zurück."
Aber die mit Genre-Klischees gespickte Kriminalgeschichte ist bei Rushdie natürlich noch nicht alles; gleich auf den ersten Seiten erfährt sie bereits eine gewisse Überdrehung: Denn der besagte Teufelskerl nennt sich selbst Nero Julius Golden und wird damit zum Superschurken stilisiert, der "seine Bösartigkeit vor unseren Nasen baumeln lässt". Noch ein paar Seiten weiter ist die Erzählform dann schon beim Märchen angelangt: "Es war einmal ein böser König, der seine drei Söhne zwang, ihr Zuhause zu verlassen, und sie in ein Haus aus Gold steckte", heißt es, und dann werden gleich vier Varianten des Märchens angeboten, die alle übel ausgehen.
Im realistischen Kern von Rushdies Roman steht eine amerikanische Einwanderergeschichte. Der Vater mit seinen drei Söhnen kommt, nachdem die Mutter bei dem Attentat islamistischer Terroristen in Mumbai Ende des Jahres 2008 getötet wurde, nach New York, um dort ein neues Leben zu beginnen - und zwar, vom Autor mit der Kühnheit der Hoffnung gesegnet, just am Tag der Amtseinführung von Präsident Barack Obama.
Zum amerikanischen Traum gehört zuallererst die Kreation einer neuen Identität, und während es den Vater "nach Herrscherwürde drängte", sind die Ambitionen der Söhne literarischer und mythologischer: Sie heißen fortan Petronius (genannt Petya), Lucius Apuleius (genannt Apu), und Dionysus (genannt D Golden). So extravagant, wie diese Namen wirken, verhalten sich dann auch ihre Träger: Petya, ein autistisch-genialischer Mensch und "stark trinkender Universalgelehrter", entwickelt Computerspiele ebenso wie einen Hang zu ausschweifenden Partys; Apu wird Maler und bildender Künstler, der "wie ein junger Whitman" die amerikanische Kultur umarmt: "die Underground-Szene, die Clubs, die Kraftwerke, die Gefängnisse, die Subkultur, die Katastrophen"; und für D Golden wird das Lebensthema seine eigene Gender-Identität, die immer stärker in Frage steht. Der Vater indessen vergnügt sich mit einer Frau im Alter seiner Söhne und macht sie mit Geld zu einer Göttin. Im Hintergrund steht dabei oft die Frage, ob alle diese Figuren nur ihre angeborene Identität ausleben oder ob vielmehr das verrückte Amerika diese erst hervorbringt. So, wie allerdings die Euphorie über die Wahl Obamas bald verflogen ist, enden auch die Höhenflüge der Goldens mit furchtbaren Abstürzen und schrecklichen Schicksalen.
Warum aber nun der Schleiertanz der Erzählformen? Der Witz an Rushdies Roman ist, dass er einen "Dichtererzähler" einsetzt, der einerseits Teil des Geschehens ist - eben der Nachbar der Familie Golden im New Yorker Greenwich Village, der das von ihm Beschriebene als Erlebtes verbürgt - und andererseits auch eine Art Zauberkünstler, der die Geschichte erst vor den Augen der Leser entstehen lässt.
Dieser Erzähler ist mit allen literarischen Wassern gewaschen und darüber hinaus ein Liebhaber des Kinos, was er in so manchem filmhistorischen Exkurs auch heraushängen lässt, ja, er sieht und erlebt die Geschichte der Goldens oft nur vermittelt durch Filmszenen, seien es solche aus "Der Pate" oder solche aus der Horror-Quatschserie "The Addams Family". Der Name dieses Erzählers scheint auch nur eine Fiktion zu sein ("Nennt mich René", sagt er einmal in Anspielung auf "Moby-Dick") - und der Verweis auf diesen urmodernen amerikanischen Roman ist doppelt interessant, weil auch schon Melville seinerzeit darin spielerisch verschiedene Erzählformen, auch szenische, ausprobierte.
Über den Thriller und das Märchen findet Rushdies Erzähler seine Idealform schließlich im Genre der mockumentary, also einer fiktionalen Dokumentation, für das die Übersetzerin Sabine Herting hier den schönen Begriff "Spottumentarfilm" gefunden hat. Zusammen mit dem auch im Titel alludierten Begriff der "goldenen Geschichte" aus der Antike, also einem unglaublichen, wilden Einfall, ist dem Roman damit deutlich als Leitthema die Fiktionalität der Wirklichkeit eingeschrieben, die auch in einigen Erkenntnissätzen und Dialogen über fake news und das Zeitalter des Postfaktischen verhandelt wird. Das alles ist der amerikanischen Literatur der Postmoderne nun wahrlich nicht neu, aber Rushdie treibt hier noch einmal lustvoll auf die Spitze, was dieses postmoderne Erzählen ausmacht: Wollte man alle seine Aspekte auf einem Buchcover zusammenbringen, so müsste es unweigerlich eine große Collage sein.
Wie Rushdie dann die Verquickung des Erzählers in die Golden-Geschichte ausspinnt (dieser zeugt nämlich mit Neros Frau ein Kind), wirkt durchaus wieder realistisch spannend. Aber leider droht der Roman an vielen anderen Stellen unter der Last der literarischen Anspielungen und des namedropping zusammenzubrechen. Keine Handlung kann offenbar geschildert werden ohne einen Verweis auf Dostojewski, Kafka, Thomas Mann, die geradezu überdeutlich instrumentierten antiken Romanautoren sowie Hunderte, teils wie manisch aufgezählte Momente der Filmgeschichte.
Mit der Idee, auf der völlig überfüllten Welttheaterbühne dieses Romans dann auch noch Donald Trump auftreten zu lassen, als groteske Figur des grünhaarigen "Jokers" aus den Batman-Comics, hat Rushdie sich keinen Gefallen getan. Sie wird dazu führen, dass er nun monatelang Interviews nur über Trump geben muss, die wenig Neues bringen, während die anderen Aspekte seines Romans in den Hintergrund treten. Und das sind wahrlich einige.
JAN WIELE
Salman Rushdie:
"Golden House". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Herting. C. Bertelsmann Verlag, München 2017. 512 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vielleicht ist der Spottumentarfilm die Kunstform unserer Zeit: Salman Rushdies großer, völlig überkandidelter Amerika-Roman "Golden House" treibt postmodernes Erzählen auf die Spitze.
Der Buchumschlag zur deutschen Ausgabe von Salman Rushdies neuem Roman "Golden House" zeigt eine New Yorker Straßenschlucht und hat die Anmutung eines billigen Thrillers. Aber das ist womöglich beabsichtigt, denn dem Erzähler des Romans, einem gewissen René Unterlinden, schwebt genau dies vor: "Mein imaginärer Film", sagt er einmal, "wäre ein Finanz- und Politthriller oder eine Serie solcher Thriller mit meinem Nachbarn als Hauptfigur." In einer Hinsicht ist Rushdies Roman dieser Thriller, der den Aufstieg und Fall eines Mafia-Paten zeigt, einer Art König von New York, den sowohl der Hauch "billigen, schweren Parfüms" als auch der von "krasser, despotischer Gefahr" umweht. Über diesen siebzigjährigen Mann mit ledrig dunkler Haut, diabolisch spitzem Haaransatz und einem vor Goldfüllungen blitzenden Lächeln heißt es: "Kinder und Hunde zuckten vor seiner Berührung zurück."
Aber die mit Genre-Klischees gespickte Kriminalgeschichte ist bei Rushdie natürlich noch nicht alles; gleich auf den ersten Seiten erfährt sie bereits eine gewisse Überdrehung: Denn der besagte Teufelskerl nennt sich selbst Nero Julius Golden und wird damit zum Superschurken stilisiert, der "seine Bösartigkeit vor unseren Nasen baumeln lässt". Noch ein paar Seiten weiter ist die Erzählform dann schon beim Märchen angelangt: "Es war einmal ein böser König, der seine drei Söhne zwang, ihr Zuhause zu verlassen, und sie in ein Haus aus Gold steckte", heißt es, und dann werden gleich vier Varianten des Märchens angeboten, die alle übel ausgehen.
Im realistischen Kern von Rushdies Roman steht eine amerikanische Einwanderergeschichte. Der Vater mit seinen drei Söhnen kommt, nachdem die Mutter bei dem Attentat islamistischer Terroristen in Mumbai Ende des Jahres 2008 getötet wurde, nach New York, um dort ein neues Leben zu beginnen - und zwar, vom Autor mit der Kühnheit der Hoffnung gesegnet, just am Tag der Amtseinführung von Präsident Barack Obama.
Zum amerikanischen Traum gehört zuallererst die Kreation einer neuen Identität, und während es den Vater "nach Herrscherwürde drängte", sind die Ambitionen der Söhne literarischer und mythologischer: Sie heißen fortan Petronius (genannt Petya), Lucius Apuleius (genannt Apu), und Dionysus (genannt D Golden). So extravagant, wie diese Namen wirken, verhalten sich dann auch ihre Träger: Petya, ein autistisch-genialischer Mensch und "stark trinkender Universalgelehrter", entwickelt Computerspiele ebenso wie einen Hang zu ausschweifenden Partys; Apu wird Maler und bildender Künstler, der "wie ein junger Whitman" die amerikanische Kultur umarmt: "die Underground-Szene, die Clubs, die Kraftwerke, die Gefängnisse, die Subkultur, die Katastrophen"; und für D Golden wird das Lebensthema seine eigene Gender-Identität, die immer stärker in Frage steht. Der Vater indessen vergnügt sich mit einer Frau im Alter seiner Söhne und macht sie mit Geld zu einer Göttin. Im Hintergrund steht dabei oft die Frage, ob alle diese Figuren nur ihre angeborene Identität ausleben oder ob vielmehr das verrückte Amerika diese erst hervorbringt. So, wie allerdings die Euphorie über die Wahl Obamas bald verflogen ist, enden auch die Höhenflüge der Goldens mit furchtbaren Abstürzen und schrecklichen Schicksalen.
Warum aber nun der Schleiertanz der Erzählformen? Der Witz an Rushdies Roman ist, dass er einen "Dichtererzähler" einsetzt, der einerseits Teil des Geschehens ist - eben der Nachbar der Familie Golden im New Yorker Greenwich Village, der das von ihm Beschriebene als Erlebtes verbürgt - und andererseits auch eine Art Zauberkünstler, der die Geschichte erst vor den Augen der Leser entstehen lässt.
Dieser Erzähler ist mit allen literarischen Wassern gewaschen und darüber hinaus ein Liebhaber des Kinos, was er in so manchem filmhistorischen Exkurs auch heraushängen lässt, ja, er sieht und erlebt die Geschichte der Goldens oft nur vermittelt durch Filmszenen, seien es solche aus "Der Pate" oder solche aus der Horror-Quatschserie "The Addams Family". Der Name dieses Erzählers scheint auch nur eine Fiktion zu sein ("Nennt mich René", sagt er einmal in Anspielung auf "Moby-Dick") - und der Verweis auf diesen urmodernen amerikanischen Roman ist doppelt interessant, weil auch schon Melville seinerzeit darin spielerisch verschiedene Erzählformen, auch szenische, ausprobierte.
Über den Thriller und das Märchen findet Rushdies Erzähler seine Idealform schließlich im Genre der mockumentary, also einer fiktionalen Dokumentation, für das die Übersetzerin Sabine Herting hier den schönen Begriff "Spottumentarfilm" gefunden hat. Zusammen mit dem auch im Titel alludierten Begriff der "goldenen Geschichte" aus der Antike, also einem unglaublichen, wilden Einfall, ist dem Roman damit deutlich als Leitthema die Fiktionalität der Wirklichkeit eingeschrieben, die auch in einigen Erkenntnissätzen und Dialogen über fake news und das Zeitalter des Postfaktischen verhandelt wird. Das alles ist der amerikanischen Literatur der Postmoderne nun wahrlich nicht neu, aber Rushdie treibt hier noch einmal lustvoll auf die Spitze, was dieses postmoderne Erzählen ausmacht: Wollte man alle seine Aspekte auf einem Buchcover zusammenbringen, so müsste es unweigerlich eine große Collage sein.
Wie Rushdie dann die Verquickung des Erzählers in die Golden-Geschichte ausspinnt (dieser zeugt nämlich mit Neros Frau ein Kind), wirkt durchaus wieder realistisch spannend. Aber leider droht der Roman an vielen anderen Stellen unter der Last der literarischen Anspielungen und des namedropping zusammenzubrechen. Keine Handlung kann offenbar geschildert werden ohne einen Verweis auf Dostojewski, Kafka, Thomas Mann, die geradezu überdeutlich instrumentierten antiken Romanautoren sowie Hunderte, teils wie manisch aufgezählte Momente der Filmgeschichte.
Mit der Idee, auf der völlig überfüllten Welttheaterbühne dieses Romans dann auch noch Donald Trump auftreten zu lassen, als groteske Figur des grünhaarigen "Jokers" aus den Batman-Comics, hat Rushdie sich keinen Gefallen getan. Sie wird dazu führen, dass er nun monatelang Interviews nur über Trump geben muss, die wenig Neues bringen, während die anderen Aspekte seines Romans in den Hintergrund treten. Und das sind wahrlich einige.
JAN WIELE
Salman Rushdie:
"Golden House". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Herting. C. Bertelsmann Verlag, München 2017. 512 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.09.2017Satyricon in Cinemascope
Würde Nero heutzutage Rom abfackeln? Nein, er wäre Bauunternehmer und ginge nach New York.
Und das ist nur der Anfang von Salman Rushdies Roman „Golden House“
VON BURKHARD MÜLLER
Manchmal schafft es ein erster Satz, sogleich und mit voller Wucht das gesamte Panorama eines vielhundertseitigen Buchs zu entwerfen. Mit einem solchen Satz startet Salman Rushdies neuer Roman, der am heutigen Dienstag in vielen Ländern gleichzeitig erscheint: „Am Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten, als wir Sorge hatten, er könnte, während er Hand in Hand mit seiner außergewöhnlichen Frau durch die jubelnde Menschenmasse ging, ermordet werden, als so viele von uns wegen der geplatzten Hypothekenblase kurz vor dem wirtschaftlichen Ruin standen und als Isis noch eine ägyptische Göttin war, traf ein ungekrönter etwa siebzigjähriger König mit seinen drei mutterlosen Söhnen aus einem fernen Land in New York City ein, um seinen Palast im Exil zu beziehen, dabei verhielt er sich, als gäbe es an dem Land oder an der Welt oder an seiner eigenen Geschichte nichts auszusetzen, und begann wie ein gütiger Herrscher, seine Nachbarschaft zu regieren – doch trotz seines charmanten Lächelns und der Fähigkeit, seine Guadagnini-Geige von 1745 zu spielen, trug er ein schweres, billiges Parfüm, den unverkennbaren Geruch von krasser, despotischer Gefahr, diese Art Duft, der uns warnt, hüte dich vor diesem Kerl, er könnte jeden Augenblick deine Hinrichtung anordnen, wenn du zum Beispiel ein T-Shirt anhast, das ihm nicht gefällt, oder wenn er mit deiner Frau schlafen will.“
Der Präsident ist natürlich Obama; beim ungekrönten König aber handelt es sich um Nero Golden, ein Name, den er sich selbst verliehen hat und der in seiner pompösen Unwahrscheinlichkeit die Anmaßung seines Trägers spiegelt. Er geruht, sich nach dem letzten Kaiser der julisch-claudischen Dynastie zu nennen, der die Leier geschlagen und dazu gesungen haben soll, als Rom brannte. Die Leier hat sich in die Geige verwandelt, und auch ein Brand wird noch seinen Auftritt haben. Auf dem Areal der eingeäscherten Stadt hatte sich Nero einen riesigen Palast bauen lassen, die Domus aurea. Nach ihr tauft Golden sein eigenes Domizil, das titelgebende Golden House. Auch die drei Söhne haben Namen aus derselben Epoche erhalten. Der älteste, Petronius, genannt Petya, heißt nach dem Verfasser des „Satyricon“, der zweite Apuleius, abgekürzt Apu, nach dem Autor des „Goldenen Esels“, der dritte Dionysus oder einfach D, nach dem Gott des Rauschs, dem er in seiner androgynen Schönheit zu gleichen scheint.
Sie alle führen, obwohl teils schon über vierzig, kein selbständiges Leben und treten aus dem Schatten des Patriarchen erst spät und dann zu ihrem Schaden hervor. Petya ist ein Autist mit herausragender Inselbegabung für Fakten aller Art, Apu ein Künstler und Playboy, der schüchterne D ringt um die geschlechtliche Orientierung. Mit allen dreien und schließlich auch mit dem Vater freundet sich der Erzähler René an, der, einer liberalen Professorenfamilie entstammend, im selben Block wohnt, der eine große gemeinsame Gartenanlage umschließt, in der die Bewohner sich zwanglos begegnen. (Die räumlichen und folglich die Klassenverhältnisse werden nie völlig klar.) Der noch junge, nach einem Autounfall seiner Eltern verwaiste René bemüht sich um den Kontakt nicht ohne Hintergedanken: Er fühlt sich als Schriftsteller und Regisseur großer Filme im Wartestand und sucht nach dem Stoff, der ihn packt. Als er den Clan der Goldens erblickt, weiß er sofort: Das ist er.
Denn es ist offensichtlich, dass dieser Clan ein Geheimnis hat. Autor und Erzähler sparen nicht mit vorausdeutenden Sätzen, die klingen wie die unheimlichen Akkorde im Fernsehkrimi, wenn gleich etwas passiert: „Hätten wir das gewusst, hätten wir begriffen, dass etwas sehr Großes verheimlicht wurde. Aber wir wussten es nicht.“ Und weiter: „Ein Streit unter den Brüdern, eine unerwartete Metamorphose, das Auftauchen einer schönen, entschlossenen jungen Frau im Leben des alten Mannes, ein Mord. (Mehr als ein Mord.) Und schließlich die gründliche Arbeit des Geheimdienstes in der Ferne, in dem Land, das keinen Namen hatte.“ Rushdie weiß, wie man den Leser anfüttert. Er verspricht ihm eine Lektüre, prall mit Charakteren und einem Plot, der ihm den Atem raubt und ihm dazu eine Kunst beschert, die all das in eine funkelnde Sprache und muskulöse Syntax gießt. Hätte er bloß nicht gar so viel verheißen! Denn der Roman bleibt nicht auf der Höhe dieses Anfangs.
Familie Golden bietet sich, trotz aller Dämonen im Hintergrund, lang als ein bloßes Tableau dar; die Charaktere, einmal exponiert, verharren in Untätigkeit, statt sich, wie es die Form des Romans erfordert, in ihren Handlungen zu entfalten und kundzugeben (was natürlich an der väterlichen Übermacht liegt, die sie nicht zu sich selbst kommen lässt). Was man über sie erfährt, glaubt man ihnen nicht recht. Petya ist ein begnadeter Erfinder von Computerspielen und hat damit Hunderte Millionen Dollar verdient. Keiner in seiner Umgebung hat etwas davon mitbekommen. Kann das sein? Apu ähnelt in seiner Kunst Salvador Dalí, nur ist er selbstverständlich besser. Aber das wird nicht gestaltet, sondern als Behauptung in den Raum gestellt.
Dazu wird am Fall von D die aktuelle Gender-Debatte etwas zäh traktiert. D zaudert zwischen männlich und weiblich; der Erzähler, der anerkennt, dass das überkommene System der Pronomina solches Zaudern nicht angemessen abbildet, findet die Lösung, die maskulinen Formen einzuklammern. Auf längere Textstrecken wirkt das öde und doktrinär.
René, darin besteht die Ausgangssituation des Romans, will gleichzeitig ein Buch und ein Drehbuch erstellen. Das Buch, das der Leser in Händen hält, ist folglich noch gar kein solches, sondern eine Art Making-of, ein anekdotenreicher Appendix für die Fans. Es ermächtigt Autor und Erzähler, hunderttausend Querbezüge auf andere, ältere Filme unterzubringen, wobei sie einen exquisiten Geschmack beweisen. Für den Leser hat das den Nachteil, dass er mit diesen Anspielungen oft nichts anfangen kann, es beschädigt zudem Spannung und Eigenständigkeit des Buchs, das teilweise wirkt, als wollte es lediglich berühmte Filmszenen nachstellen.
Rushdie ist ein gebildeter Mann; doch hat er seine Bildung nicht im Griff. Sobald er einen Gegenstand anschneidet, tendiert er zum Herunterrattern seiner diesbezüglichen Bestände. Wenn der Jungregisseur über einen passenden Namen für seinen Sohn nachdenkt, muss es unbedingt der eines erfolgreichen Kollegen sein. Aber welcher? „Er verdiente zumindest den Namen eines großen Meisters des Kinos, Luis oder Kenji oder Akira oder Sergej, Ingmar oder Andrzej oder Luchino oder Michelangelo, François oder Jean-Luc oder Jean oder Jacques. Oder Orson oder Stanley oder Billy oder sogar, nüchtern, Clint.“ Na, lieber Leser, heißt das, hast du auch alle identifiziert, nicht etwa bloß Eastwood und Truffaut? Hier ist ganz klar Rushdie selbst am Zug und nicht sein vorgeschobener René.
Es versteht sich von selbst, dass die feingeistigen Cineasten Rushdie und René beim großen amerikanischen Schisma auf der Seite Clintons und nicht Trumps stehen. Trump erscheint immer wieder am Rande, schrill verfremdet zu The Joker aus „Batman“, nur dass seine Frisur grün statt orange leuchtet. René und seine Freundin drehen kurze Filme, in denen er von Batwoman fertiggemacht wird, so richtig wie im Comic, mit Zack!, Bumm! und Bäng!, und für die sie viele Millionen Mal geliked werden. Sehr erleuchtet ist das alles nicht, vielmehr bewegt es sich ungefähr auf dem Niveau, das sie dem Feind unterstellen. Mit ihrer Karriere geht es steil bergauf.
Der Patriarch hingegen wird am Schluss seine drei Söhne verloren haben. Dafür gewinnt er unerwartet einen vierten. Die angekündigte Aufklärung des Geheimnisses hinter der Flucht allerdings verläuft enttäuschend. Bei der Stadt, deren Name nicht genannt werden darf, handelt es sich um Mumbai, wo Neros Stellung als Bauunternehmer, die immer zwischen legaler und illegaler Aktivität geschwankt hat, zum Schluss unhaltbar wurde. Hier fallen richtig schwere Hämmer vor. Aber sie kommen als solche nicht recht zur Geltung, weil eher ein Milieu als eine Handlung dargestellt wird, auch wenn die Mumbaier Gangster einander zu Dutzenden abschlachten. Nero Golden, von Alter und Schicksal gebeutelt, entscheidet sich zum großen Geständnis. Aber kann man ein Milieu gestehen?
Doch seien auch die Vorzüge des Buchs nicht verschwiegen. Etwa in der Mitte bekommt es einen plötzlichen Plot-Schub, durch Vasilisa, die junge Russin, die beschließt, sich den alten Patriarchen zu angeln, und die das auch schafft. Nichts wäre leichter, als diese Goldgräberin, wie solche Frauen in Amerika heißen, sarkastisch abzutun. Aber gerade bei ihr entfaltet das Buch eine Differenzierungskunst, die ihm sonst abgeht. In ihrer Brust ringen zwei Seelen, nämlich die der liebesbereiten jungen Frau, die es nur für fair hält, wenn sie im Austausch für Schönheit, Sex und Loyalität ein Leben im Wohlstand führt – und die der russischen Märchenhexe Baba Jaga. Sie macht René ein ebenso verblüffendes wie unmoralisches Angebot.
Der Erzähler, Verräter von Anbeginn, weil ihm seine Freunde insgeheim nichts als seinen Stoff bedeuten, begeht nunmehr echten Hochverrat. Und der Leser weiß sofort: Das wird womöglich klappen, aber gut gehen kann es nicht. Um dieses Handlungsstrangs willen hat man Rushdies Roman, der sich insgesamt durch ungeschickte Konstruktion und Langatmigkeit auszeichnet, am Ende dann doch gern gelesen.
Salman Rushdie: Golden House. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Herting. Bertelsmann-Verlag, München 2017. 512 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Manche vorausdeutenden Sätze
klingen wie die unheimlichen
Akkorde im Fernsehkrimi
Trump erscheint immer wieder
am Rande, schrill verfremdet
zu The Joker, mit grüner Frisur
Die Skyline von Manhattan, wie sie einem antiken Feuerteufel gefallen könnte, den es in die Moderne verschlagen hat.
Foto: AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Würde Nero heutzutage Rom abfackeln? Nein, er wäre Bauunternehmer und ginge nach New York.
Und das ist nur der Anfang von Salman Rushdies Roman „Golden House“
VON BURKHARD MÜLLER
Manchmal schafft es ein erster Satz, sogleich und mit voller Wucht das gesamte Panorama eines vielhundertseitigen Buchs zu entwerfen. Mit einem solchen Satz startet Salman Rushdies neuer Roman, der am heutigen Dienstag in vielen Ländern gleichzeitig erscheint: „Am Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten, als wir Sorge hatten, er könnte, während er Hand in Hand mit seiner außergewöhnlichen Frau durch die jubelnde Menschenmasse ging, ermordet werden, als so viele von uns wegen der geplatzten Hypothekenblase kurz vor dem wirtschaftlichen Ruin standen und als Isis noch eine ägyptische Göttin war, traf ein ungekrönter etwa siebzigjähriger König mit seinen drei mutterlosen Söhnen aus einem fernen Land in New York City ein, um seinen Palast im Exil zu beziehen, dabei verhielt er sich, als gäbe es an dem Land oder an der Welt oder an seiner eigenen Geschichte nichts auszusetzen, und begann wie ein gütiger Herrscher, seine Nachbarschaft zu regieren – doch trotz seines charmanten Lächelns und der Fähigkeit, seine Guadagnini-Geige von 1745 zu spielen, trug er ein schweres, billiges Parfüm, den unverkennbaren Geruch von krasser, despotischer Gefahr, diese Art Duft, der uns warnt, hüte dich vor diesem Kerl, er könnte jeden Augenblick deine Hinrichtung anordnen, wenn du zum Beispiel ein T-Shirt anhast, das ihm nicht gefällt, oder wenn er mit deiner Frau schlafen will.“
Der Präsident ist natürlich Obama; beim ungekrönten König aber handelt es sich um Nero Golden, ein Name, den er sich selbst verliehen hat und der in seiner pompösen Unwahrscheinlichkeit die Anmaßung seines Trägers spiegelt. Er geruht, sich nach dem letzten Kaiser der julisch-claudischen Dynastie zu nennen, der die Leier geschlagen und dazu gesungen haben soll, als Rom brannte. Die Leier hat sich in die Geige verwandelt, und auch ein Brand wird noch seinen Auftritt haben. Auf dem Areal der eingeäscherten Stadt hatte sich Nero einen riesigen Palast bauen lassen, die Domus aurea. Nach ihr tauft Golden sein eigenes Domizil, das titelgebende Golden House. Auch die drei Söhne haben Namen aus derselben Epoche erhalten. Der älteste, Petronius, genannt Petya, heißt nach dem Verfasser des „Satyricon“, der zweite Apuleius, abgekürzt Apu, nach dem Autor des „Goldenen Esels“, der dritte Dionysus oder einfach D, nach dem Gott des Rauschs, dem er in seiner androgynen Schönheit zu gleichen scheint.
Sie alle führen, obwohl teils schon über vierzig, kein selbständiges Leben und treten aus dem Schatten des Patriarchen erst spät und dann zu ihrem Schaden hervor. Petya ist ein Autist mit herausragender Inselbegabung für Fakten aller Art, Apu ein Künstler und Playboy, der schüchterne D ringt um die geschlechtliche Orientierung. Mit allen dreien und schließlich auch mit dem Vater freundet sich der Erzähler René an, der, einer liberalen Professorenfamilie entstammend, im selben Block wohnt, der eine große gemeinsame Gartenanlage umschließt, in der die Bewohner sich zwanglos begegnen. (Die räumlichen und folglich die Klassenverhältnisse werden nie völlig klar.) Der noch junge, nach einem Autounfall seiner Eltern verwaiste René bemüht sich um den Kontakt nicht ohne Hintergedanken: Er fühlt sich als Schriftsteller und Regisseur großer Filme im Wartestand und sucht nach dem Stoff, der ihn packt. Als er den Clan der Goldens erblickt, weiß er sofort: Das ist er.
Denn es ist offensichtlich, dass dieser Clan ein Geheimnis hat. Autor und Erzähler sparen nicht mit vorausdeutenden Sätzen, die klingen wie die unheimlichen Akkorde im Fernsehkrimi, wenn gleich etwas passiert: „Hätten wir das gewusst, hätten wir begriffen, dass etwas sehr Großes verheimlicht wurde. Aber wir wussten es nicht.“ Und weiter: „Ein Streit unter den Brüdern, eine unerwartete Metamorphose, das Auftauchen einer schönen, entschlossenen jungen Frau im Leben des alten Mannes, ein Mord. (Mehr als ein Mord.) Und schließlich die gründliche Arbeit des Geheimdienstes in der Ferne, in dem Land, das keinen Namen hatte.“ Rushdie weiß, wie man den Leser anfüttert. Er verspricht ihm eine Lektüre, prall mit Charakteren und einem Plot, der ihm den Atem raubt und ihm dazu eine Kunst beschert, die all das in eine funkelnde Sprache und muskulöse Syntax gießt. Hätte er bloß nicht gar so viel verheißen! Denn der Roman bleibt nicht auf der Höhe dieses Anfangs.
Familie Golden bietet sich, trotz aller Dämonen im Hintergrund, lang als ein bloßes Tableau dar; die Charaktere, einmal exponiert, verharren in Untätigkeit, statt sich, wie es die Form des Romans erfordert, in ihren Handlungen zu entfalten und kundzugeben (was natürlich an der väterlichen Übermacht liegt, die sie nicht zu sich selbst kommen lässt). Was man über sie erfährt, glaubt man ihnen nicht recht. Petya ist ein begnadeter Erfinder von Computerspielen und hat damit Hunderte Millionen Dollar verdient. Keiner in seiner Umgebung hat etwas davon mitbekommen. Kann das sein? Apu ähnelt in seiner Kunst Salvador Dalí, nur ist er selbstverständlich besser. Aber das wird nicht gestaltet, sondern als Behauptung in den Raum gestellt.
Dazu wird am Fall von D die aktuelle Gender-Debatte etwas zäh traktiert. D zaudert zwischen männlich und weiblich; der Erzähler, der anerkennt, dass das überkommene System der Pronomina solches Zaudern nicht angemessen abbildet, findet die Lösung, die maskulinen Formen einzuklammern. Auf längere Textstrecken wirkt das öde und doktrinär.
René, darin besteht die Ausgangssituation des Romans, will gleichzeitig ein Buch und ein Drehbuch erstellen. Das Buch, das der Leser in Händen hält, ist folglich noch gar kein solches, sondern eine Art Making-of, ein anekdotenreicher Appendix für die Fans. Es ermächtigt Autor und Erzähler, hunderttausend Querbezüge auf andere, ältere Filme unterzubringen, wobei sie einen exquisiten Geschmack beweisen. Für den Leser hat das den Nachteil, dass er mit diesen Anspielungen oft nichts anfangen kann, es beschädigt zudem Spannung und Eigenständigkeit des Buchs, das teilweise wirkt, als wollte es lediglich berühmte Filmszenen nachstellen.
Rushdie ist ein gebildeter Mann; doch hat er seine Bildung nicht im Griff. Sobald er einen Gegenstand anschneidet, tendiert er zum Herunterrattern seiner diesbezüglichen Bestände. Wenn der Jungregisseur über einen passenden Namen für seinen Sohn nachdenkt, muss es unbedingt der eines erfolgreichen Kollegen sein. Aber welcher? „Er verdiente zumindest den Namen eines großen Meisters des Kinos, Luis oder Kenji oder Akira oder Sergej, Ingmar oder Andrzej oder Luchino oder Michelangelo, François oder Jean-Luc oder Jean oder Jacques. Oder Orson oder Stanley oder Billy oder sogar, nüchtern, Clint.“ Na, lieber Leser, heißt das, hast du auch alle identifiziert, nicht etwa bloß Eastwood und Truffaut? Hier ist ganz klar Rushdie selbst am Zug und nicht sein vorgeschobener René.
Es versteht sich von selbst, dass die feingeistigen Cineasten Rushdie und René beim großen amerikanischen Schisma auf der Seite Clintons und nicht Trumps stehen. Trump erscheint immer wieder am Rande, schrill verfremdet zu The Joker aus „Batman“, nur dass seine Frisur grün statt orange leuchtet. René und seine Freundin drehen kurze Filme, in denen er von Batwoman fertiggemacht wird, so richtig wie im Comic, mit Zack!, Bumm! und Bäng!, und für die sie viele Millionen Mal geliked werden. Sehr erleuchtet ist das alles nicht, vielmehr bewegt es sich ungefähr auf dem Niveau, das sie dem Feind unterstellen. Mit ihrer Karriere geht es steil bergauf.
Der Patriarch hingegen wird am Schluss seine drei Söhne verloren haben. Dafür gewinnt er unerwartet einen vierten. Die angekündigte Aufklärung des Geheimnisses hinter der Flucht allerdings verläuft enttäuschend. Bei der Stadt, deren Name nicht genannt werden darf, handelt es sich um Mumbai, wo Neros Stellung als Bauunternehmer, die immer zwischen legaler und illegaler Aktivität geschwankt hat, zum Schluss unhaltbar wurde. Hier fallen richtig schwere Hämmer vor. Aber sie kommen als solche nicht recht zur Geltung, weil eher ein Milieu als eine Handlung dargestellt wird, auch wenn die Mumbaier Gangster einander zu Dutzenden abschlachten. Nero Golden, von Alter und Schicksal gebeutelt, entscheidet sich zum großen Geständnis. Aber kann man ein Milieu gestehen?
Doch seien auch die Vorzüge des Buchs nicht verschwiegen. Etwa in der Mitte bekommt es einen plötzlichen Plot-Schub, durch Vasilisa, die junge Russin, die beschließt, sich den alten Patriarchen zu angeln, und die das auch schafft. Nichts wäre leichter, als diese Goldgräberin, wie solche Frauen in Amerika heißen, sarkastisch abzutun. Aber gerade bei ihr entfaltet das Buch eine Differenzierungskunst, die ihm sonst abgeht. In ihrer Brust ringen zwei Seelen, nämlich die der liebesbereiten jungen Frau, die es nur für fair hält, wenn sie im Austausch für Schönheit, Sex und Loyalität ein Leben im Wohlstand führt – und die der russischen Märchenhexe Baba Jaga. Sie macht René ein ebenso verblüffendes wie unmoralisches Angebot.
Der Erzähler, Verräter von Anbeginn, weil ihm seine Freunde insgeheim nichts als seinen Stoff bedeuten, begeht nunmehr echten Hochverrat. Und der Leser weiß sofort: Das wird womöglich klappen, aber gut gehen kann es nicht. Um dieses Handlungsstrangs willen hat man Rushdies Roman, der sich insgesamt durch ungeschickte Konstruktion und Langatmigkeit auszeichnet, am Ende dann doch gern gelesen.
Salman Rushdie: Golden House. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Herting. Bertelsmann-Verlag, München 2017. 512 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Manche vorausdeutenden Sätze
klingen wie die unheimlichen
Akkorde im Fernsehkrimi
Trump erscheint immer wieder
am Rande, schrill verfremdet
zu The Joker, mit grüner Frisur
Die Skyline von Manhattan, wie sie einem antiken Feuerteufel gefallen könnte, den es in die Moderne verschlagen hat.
Foto: AFP
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»'Golden House' ist ein Roman über die großen Fragen des Menschseins, über Liebe, Hass und Tod, Zweifel und Verzweiflung. Salman Rushdie verteidigt die Menschlichkeit und ihre Schwächen gegen die Kräfte der Finsternis. Ein zeitloser Roman über die Zeit, in der wir leben.« Johannes Hano im ZDF »heute-journal«