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Über den Verlust unserer Gewissheiten in chaotischen Zeiten China, Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine christliche Aufstandsbewegung überzieht das Kaiserreich mit Terror und Zerstörung. Ein junger deutscher Missionar, der bei der Modernisierung des riesigen Reiches helfen will, reist voller Idealismus nach Nanking, um sich ein Bild von der Rebellion zu machen. Dabei gerät er zwischen die Fronten eines Krieges, in dem er am Ende alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist. An den Brennpunkten des Konflikts – in Hongkong, Shanghai, Peking – begegnen wir einem Ensemble so zerrissener wie…mehr

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Produktbeschreibung
Über den Verlust unserer Gewissheiten in chaotischen Zeiten China, Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine christliche Aufstandsbewegung überzieht das Kaiserreich mit Terror und Zerstörung. Ein junger deutscher Missionar, der bei der Modernisierung des riesigen Reiches helfen will, reist voller Idealismus nach Nanking, um sich ein Bild von der Rebellion zu machen. Dabei gerät er zwischen die Fronten eines Krieges, in dem er am Ende alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist. An den Brennpunkten des Konflikts – in Hongkong, Shanghai, Peking – begegnen wir einem Ensemble so zerrissener wie faszinierender Persönlichkeiten: darunter der britische Sonderbotschafter, der seine inneren Abgründe erst erkennt, als er ihnen nicht mehr entgehen kann, und der zum Kriegsherrn berufene chinesische Gelehrte, der so mächtig wird, dass selbst der Kaiser ihn fürchten muss. In seinem packenden neuen Buch erzählt Stephan Thome eine Vorgeschichte unserer krisengeschüttelten Gegenwart. Angeführt von einem christlichen Konvertiten, der sich für Gottes zweiten Sohn hält, errichten Rebellen in China einen Gottesstaat, der in verstörender Weise auf die Terrorbewegungen unserer Zeit vorausdeutet. Ein großer und weitblickender Roman über religiösen Fanatismus, über unsere Verführbarkeit und den Verlust an Orientierung in einer sich radikal verändernden Welt.

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Autorenporträt
Stephan Thome wurde am 23. Juli 1972 in Biedenkopf, Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. 2005 erschien unter dem Titel Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken seine Dissertationsschrift. Zur selben Zeit begann er als DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica zu arbeiten, wo er über konfuzianische Philosophie des 20. Jahrhunderts forschte. Bis 2011 betätigte er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Taipeh und übersetzte unter anderem Chun-chieh Huangs Werk Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung ins Deutsche. Sein Roman Grenzgang gewann 2009 den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres und stand - wie auch sein zweiter Roman Fliehkräfte - auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2014 wurde Thome von der Akademie der Künste Berlin mit dem Kunstpreis Literatur ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt die Verfilmung des Romans Grenzgang den Grimme-Preis. Seit 2011 lebt und arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller; derzeit lebt er in Taipeh.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2018

Ein fragiles Konstrukt
Stephan Thomes Roman aus dem alten China: "Gott der Barbaren"

Ein Schriftsteller kann sich kein größeres Thema wünschen als die Taiping-Rebellion und die Opiumkriege. Ein Volksaufstand, der fünfzehn Jahre dauert und zwanzig bis dreißig Millionen Tote kostet; eine Kette von Schlachten, Belagerungen, Verträgen, die bis heute Chinas Verhältnis zum Westen prägt. Es ist ein Stoff von "Krieg und Frieden"-Dimensionen, ein epischer Brocken, und wer ihn anpackt, muss vorher tief Luft holen.

Also hat sich Stephan Thome einen Plan gemacht. Vier Hauptfiguren, zwei davon als Ich-Erzähler, zwei weitere in allwissender Er-Prosa von oben und innen beleuchtet, das ist seine Strategie in "Gott der Barbaren". Das erste Ich gehört dem deutschen Missionar Philipp Neukamp, genannt Fei Lipu, der aus der gescheiterten Revolution von 1848 nach Hongkong geflohen ist; durch seine Missionsarbeit hat er einen der Köpfe der Taiping-Rebellen kennengelernt, dem er bald quer durch Südchina nach Nanking folgt, ins Zentrum des Aufstands. Die zweite Ich-Stimme ist das Mädchen Huang Shuhua, das durch den Bürgerkrieg obdachlos geworden und bei einem reichen Gönner untergekommen ist; auch sie will sich nach Nanking durchschlagen, wo ihre Familie lebt und ihr Vater eine Druckerei betreibt.

Zwei Opfer also, zwei Getriebene, die versuchen, im Chaos den Kopf über Wasser zu halten. Daneben zwei Stimmen von der anderen Seite, zwei Mächtige, ein General und ein Diplomat: Zeng Guofan, der Anführer der Hunan-Armee, einer privaten Söldnertruppe, auf die der Kaiserhof in Peking nach der Niederlage seiner eigenen Heere seine Hoffnungen auf Niederschlagung des Aufstands setzt; und James Bruce, der achte Earl of Elgin, der die britisch-französischen Expeditionen der Jahre 1858 und 1860 anführt und so zu einer Zentralfigur der Kolonialgeschichte Chinas und Europas wird. Dazu kommen, über fünfundzwanzig Kapitel des Buches verstreut, weitere Zeitzeugen und -zeugnisse: Briefe, Zeitungsberichte, Parlamentsprotokolle, zwei Schnappschüsse der verwirrten Seele des Hong Xiuquan, eines christlich inspirierten Sektierers, der sich für den Bruder Jesu hält und als "Himmlischer König" die Aufständischen in Nanking anführt. Aus all den Puzzleteilen - und den Leerstellen dazwischen - entsteht ein Panorama der Jahre um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als das China der Qing-Dynastie kurz vor dem Zusammenbruch stand und das Invasionsheer des Westens wie eine Klinge in seinen geschwächten Körper eindrang.

Aber es bleibt ein Puzzlespiel. Der Ton, der Schauplatz, die Perspektive, die Kostümierung des Geschehens wechseln von einer Buchseite zur nächsten. Es ist wie bei einer der Fantasy- und History-Serien von Netflix oder HBO, wo man höllisch aufpassen muss, um den Faden der Ereignisse nicht zu verlieren: hier die militärische Lage vor der Festung Anqing, dort eine Audienz beim Qing-Kaiser; hier eine Sektentaufe, ein Liebesritual, ein diplomatisches Duell, dort eine Flussfahrt auf dem Jangtsekiang. Ein Buch zum Verschlingen also, zum binge reading, zum atemlosen Konsum. Nur dass es für diese Art des Lesens zugleich seltsam ungeeignet ist, seltsam gelehrt, vergrübelt - und stellenweise, allen äußeren Höhepunkten zum Trotz, seltsam flach. Ein großer Stilist war Stephan Thome schon in seinen früheren, zu Recht gelobten Romanen "Grenzgang", "Fliehkräfte" und "Gegenspiel" nicht, eher ein kluger Zeichner von Seelen und Situationen. Hier, in "Gott der Barbaren", handhabt er den Pinsel der Sprache, als wäre es ein Schablonenstempel. Eine Stadt, die Neukamp auf seiner Reise durchquert, besteht aus "soliden" Häusern an "lauschigen" Kanälen, ihre Gärten haben "schmucke" Pavillons, ringsum erheben sich "grüne Hügel", und der Himmelskönig Hong stammt aus der Augsburger Puppenkiste: "Der sandfarbene Bart fiel ihm bis auf die Brust, die Augen saßen tief in den Höhlen und funkelten wie feuchte Kohlenstücke." Bei solcher Beschreibungsdichte muss man sich über plötzliche Blackouts nicht wundern: "Hier bin ich, dachte er und spürte die Zäsur, die genau darin lag: dass er hier war." Kann man so eine Zäsur auch als Wellness-Zutat buchen?

Ein Vorzug des Romans ist, dass er sich an keinem Ort festbeißt. Die Umwälzungen, die er schildert, reißen seine Figuren mit sich fort, nach Kanton, Tianjin, Peking oder Schanghai, quer über die Landkarten, die in der vorderen und hinteren Umschlagklappe zu sehen sind. Dabei übt sich der Erzähler in der Kunst des Auslassens: Eine Schlacht wird beschrieben, eine andere übersprungen, ein Massaker ausgemalt, das andere in einer Rückblende versteckt. Die wichtigste Episode des Zweiten Opiumkriegs, die Zerstörung des kaiserlichen Sommerpalasts bei Peking, dessen Ruinen heute als Mahnmal der nationalen Schande gepflegt werden, erledigt Thome in einem Nebensatz. Umso ausführlicher beschwört er die Palastkulisse vor dem Untergang: "Mit den Augen folgte Lord Elgin den Linien der gestutzten Hecken bis zur Mitte, wo in einem Pavillon mit Kuppeldach ein leerer Thron stand. Dort musste der Kaiser gesessen haben. In den Gängen lagen zerbrochene Fächer und Flakons herum, vollgepisste Schals und seidene Schuhe . . . Staub geriet ihm in den Hals, er spuckte aus und war völlig außer Atem, als er sein Ziel erreichte. Ein Thron aus Rosenholz. ,Rule, Britannia!' hatte ein tapferer Engländer in die Sitzfläche geritzt."

Es ist eine Vision, ein Moment, den es nie gegeben hat, genauso wie die andere zentrale Szene des Buchs, in der Elgin in seiner Schiffskajüte über eine namenlose Chinesin herfällt, um ihren "goldenen Lotus", ihren Schnürfuß, zu sehen. ",Mein Lotusengel', keuchte er und zog an ihrem Schuh." Da bricht die Erzählung ab. Drei Jahre später, auf dem Totenbett, kann Elgin sich nicht mehr erinnern, was wirklich geschah. Vielleicht ist es das Beste, was man über diesen 700-Seiten-Roman sagen kann: dass er um eine Leerstelle kreist, dass er nicht so tut, als könnte er das Geheimnis der chinesischen Seele wirklich enthüllen.

Aber diese Zurückhaltung hat ihren Preis. Er besteht darin, dass Stephan Thome eben keinen schmissigen, serientauglichen Großroman abgeliefert hat, sondern ein heikleres, fragileres Konstrukt. Den Lesefutterknechten wie Ken Follett, dessen Romanmanufaktur immer neue Riesenschwarten produziert, wollte Thome nicht nacheifern, aber eine historische Skizze war ihm auch nicht genug. So hat er ein Zwischending gewählt: ein Patchwork aus Episoden, durch die man wie durch ein Fenstergitter in einen Hexenkessel blickt. Man sieht darin so einiges. Aber man bleibt draußen.

ANDREAS KILB

Stephan Thome: "Gott der Barbaren". Roman. Suhrkamp, 719 Seiten, 25 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2018

Milchzähne und Massaker
Die christliche Religion als Brandbeschleuniger: Stephan Thome schildert in seinem Roman „Gott der Barbaren“ den Taiping-Aufstand,
den größten Gewaltexzess im China des 19. Jahrhunderts. Werden westliche Erzählformen einem solchen Ereignis gerecht?
VON BURKHARD MÜLLER
Auf dem Weg Jesu verbreitet sich die Kälte“ – das steht doch so bestimmt nicht in der Bibel? Aber ja!, behauptet Hong Jin, der den Titel des Schildkönigs führt. Er hat seine Bibel dabei und legt den Finger auf die Stelle, wo es heißt: Ye lu san leng. Und da dämmert es dem deutschen Missionar Philipp Neukamp, genannt Fei Lipu, der sich im Gewahrsam seines früheren Zöglings und jetzigen Meisters Hon in der Himmlischen Hauptstadt Nanking befindet: Die Umschrift des für Chinesen wenig besagenden Ortsnamens Jerusalem liest sich tatsächlich wie „Auf dem Weg Jesu verbreitet sich die Kälte.“
Missverständnissen solcher und schlimmerer Art ist die christliche Lehre ausgesetzt, wenn sie ins China des 19. Jahrhunderts eingeführt wird. Sie fällt auf überaus fruchtbaren Boden, begierig greifen die verelendeten chinesischen Massen sie auf und verwandeln sie mit einem Eifer, der in Europa und Nordamerika lang erloschen ist, in den Glutkern einer Rebellion, die das Reich der Mitte in seinen Grundfesten erschüttert. Hong Xinquan, Oberhaupt der Rebellen, erklärt sich zum jüngeren Bruder Jesu Christi, verbietet bei Todesstrafe Alkohol und Sex (obwohl er sich selbst einen Harem hält) und setzt, in China unerhört, die Gleichberechtigung der Frauen durch.
„Gott der Barbaren“ ist ein Titel voll ironischen Doppelsinns: Barbaren sind in Chinas Augen die christlichen Ausländer, die ins Land drängen, wie umgekehrt aus der Sicht der Europäer die Chinesen Barbaren sind, die ein verhunztes christliches Dogma als Vorwand zu Gewaltexzessen missbrauchen. 30 Millionen Tote soll der Taiping-Aufstand gekostet haben, der ein großer Bürgerkrieg war, nach dem Zweiten Weltkrieg der verlustreichste Konflikt der Menschheitsgeschichte. Dennoch wissen außerhalb von China nur wenige etwas von dieser historischen Großkatastrophe.
Stephan Thome, der 1972 im hessischen Biedenkopf geboren wurde, wohnhaft in Taipeh, Autor und Sinologe, hat sich vorgenommen, das zu ändern. Er geht an diesen gewaltigen Brocken mit der Form des Romans heran. Das ist eine gewagte Entscheidung: Denn bei Stoffen dieser Art ist der Roman fast immer im Hintertreffen gegenüber seiner Rivalin, der historischen Monografie. Diese lässt, vor allem wenn die Quellen reichlich fließen, die Akteure so zu Wort kommen, wie sie es in ihrer Zeit getan haben; und so zweifelhaft die Resultate sein mögen, zu denen sie gelangt: Der Standpunkt, von dem aus sie ihr Material organisiert, der Feldherrnhügel der Wissenschaft, wird ihr niemals fraglich. Demgegenüber kann der Romancier noch so sorgsam recherchieren – er muss seinen Figuren dann doch Reden in den Mund legen, die sie so garantiert nie geführt haben und die eine prekäre Mitte zwischen heute und damals halten. Und als Erzähler schwebt er nicht über den Dingen, sondern ist sozusagen zu Fuß im Pulverdampf unterwegs, was perspektivische Probleme verursacht.
Thome hat es mit diesem Roman wie schon mit seinen Vorläufern „Grenzgang“ (2009) und „Fliehkräfte“ (2012) auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft. Er ist sicher weit besser gerüstet als die meisten Westler, zumal die deutschsprachigen, um auch der chinesischen Seite Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Doch verkompliziert sich die Lage dadurch, dass es zwei sehr verschiedene chinesische Seiten gibt, die der herrschenden Mandschu-Dynastie und die der Rebellen. In noch höherem Grad als gewöhnlich gilt hier, dass der Sieger die Geschichte schreibt; und Sieger sind noch einmal die alten Kräfte, während die Besiegten mit einer Radikalität ausgemerzt werden, die sie fast völlig zum Verstummen bringt.
Die Europäer, hauptsächlich Briten, die gleichzeitig gegen den Kaiser in Peking den sogenannten Zweiten Opiumkrieg führen, sind dabei eigentlich nur Zaungäste. Doch die innere Notwendigkeit des Romans bedingt es, dass die Ereignisse sich vor allem aus ihrem Blickwinkel entfalten. Der Missionar Philipp Johann Neukamp schreibt Tagebuch und füllt viele Seiten mit seiner abenteuerlichen Reise nach Nanking. Lord Elgin, britischer Sonderemissär (sein Vater hatte den Parthenonfries nach London geholt), hält lange philosophische Monologe vorbei an den Ohren seines Sekretärs Maddox und einer namenlosen chinesischen Konkubine, die keine Silbe versteht; selbst sein Familienleben in Schottland (das nun wirklich nichts zur chinesischen Sache tut) erfährt breite Würdigung. Eingestreut sind englische Zeitungsartikel, Briefe und Vorträge von Missionaren und so weiter.
Unter den Chinesen ist Zeng Guofan, Kommandeur der Hunan-Armee, die den Kampf gegen die Rebellen führt, die herausragende Figur, und die interessanteste im Buch überhaupt. Hier vor allem kommt die eminente Sachkenntnis Thomes zum Zug. Als Gelehrter, der wider Willen zum Soldaten wurde, legt der General Wert auf die konfuzianischen Tugenden Mitleid und Familiensinn. Seinen jüngeren Bruder, ebenfalls Heerführer, für dessen Erziehung er sich verantwortlich fühlt, tadelt er nicht etwa deswegen, weil er 8000 Rebellen, die sich bereits ergeben hatten, zu köpfen befiehlt, sondern weil er dabei nicht persönlich zugegen war. Denn wie kann er den Soldaten Vorbild sein, wenn er sie die Drecksarbeit alleine machen lässt? Zengs Mitleid aber äußert sich darin, dass er anordnet, bei der Eroberung einer Stadt alles am Leben zu lassen, was noch Milchzähne hat. Das Zugeständnis verrät mehr über die Härte des Konflikts als alle Schilderungen der Gräuel.
Doch ins Innere der Rebellion und damit ins Zentrum des Stoffs gelangt auch Thome nicht. Zwar erlebt man die Anführer im Gespräch mit dem deutschen Missionar Neukamp, der Chinesisch kann; aber man spürt, dass der westlich-realistische Dialog, in den ihre Rede eingespannt wird, dem, was sie sind und wollen, nicht entspricht. Auch die Briefe, die Hon Jin an die Europäer richtet und deren Text sich offenbar eng an historische Quellen anlehnt, wirken eher grotesk, als dass sie für Klarheit sorgten. Der Absender fragt, wie hoch die einzelnen Stockwerke des Himmels seien, ob Gott einen Bart habe und ob er manchmal auch weine.
Und wie steht es mit dem einfachen Volk, das von allen drei Parteien abgeschlachtet wird? Analphabeten sind es, die keine Stimme haben. Der Autor denkt sich das Mädchen Huang Shuhua aus, das von den Missionaren im Schreiben und Lesen unterwiesen worden ist und im belagerten Nanking ein Journal führt. Den letzten Eintrag macht sie mit eigenem Blut neben den massakrierten Leichen ihrer Familie, dann erhängt sie sich. Die makabre Kolportage lässt erkennen, an welche absolute Grenze der historische Roman mit seinen Möglichkeiten hier stößt. Im Übrigen bleibt Huang so marginal, dass sie nicht einmal ins umfangreiche Personenregister aufgenommen wird.
Das Buch schließt mit einer Pressemeldung über eine christlich inspirierte Bewegung im fernen Qinghai, die von der gegenwärtigen Regierung in Peking rigoros unterdrückt wird. Das soll heißen: Wer die chinesische Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht kennt, begreift nicht, was in Staat und Gesellschaft des heutigen China passiert, das um jeden Preis einen neuen Taiping-Aufstand vermeiden will. Was einmal war, kann wiederkehren.
Dass es solche Aufklärung leistet, ist nicht das kleinste Verdienst von Thomes Buch. Darüber hinaus sollte man es, will man es mit Nutzen lesen, nicht allzu eindringlich befragen, ob es gelungen wäre. Eigentlich gelingen konnte es als Roman nicht. Es fesselt nicht dort am meisten, wo es in konventionellem Sinn spannende und anrührende Episoden erzählt, sondern dort, wo es an seinem dunklen, übergroßen Stoff scheitert. Die Ratlosigkeit der westlichen Zivilisation vor ihrem östlichen Gegenstück spiegelt es auf zwei Ebenen wider: Auf der einen, ihm bewussten, indem es den Diskurs der Europäer im 19. Jahrhundert in all seiner ahnungslosen Arroganz darstellt; auf der anderen, indem es durch seine Form seinen Gegenstand letztlich verfehlt. Es ist ein Buch, das mehr Aufschluss gewährt, als es selber weiß.
Thome hat es mit diesem
Roman auf die Shortlist zum
Deutschen Buchpreis geschafft
Zeng Guofan, Kommandeur
der Hunan-Armee, ist die
interessanteste Figur im Roman
Das Buch fesselt dort am meisten,
wo es an seinem dunklen,
übergroßen Stoff scheitert
Ein „Himmlisches Reich des Großen Friedens“ hatten die Rebellen ausgerufen, ihr Anführer Hong Xinquan erklärte sich zum jüngeren Bruder Jesu Christi. Das um 1860 entstandene Gemälde zeigt die Unterdrückung des Taiping-Aufstandes durch die chinesische Regierung.
Foto: mauritius images
Stephan Thome: Gott der Barbaren. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
719 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Stephan Thomes Roman erzählt gekonnt die turbulente und hochkomplexe Geschichte Chinas aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure. ... Aufgrund seiner exzellenten China-Kenntnisse gelingt es dem in Taipeh beheimateten Sinologen ... , ein Kapitel der chinesischen Geschichte erlebbar zu machen, dessen Beschreibung auch für Historiker eine enorme Herausforderung darstellt.« Alexis Schwarzenbach NZZ am Sonntag 20181209