Eine bitterbös-humorvolle Familiensaga: Um sich bei der Erzählung über die eigenen Familienverhältnisse nicht in Lügen zu verstricken, lässt Irene Dische lieber ihre resolute Großmutter Elisabeth Rother, genannt "Mops", zu Wort kommen. Und schnell wird klar, dass Großmama Elisabeth, für die ihr jüdischer Mann zum Katholizismus konvertierte, kein Blatt vor den Mund nimmt. Eine komplexe Saga über eine deutsch-amerikanische, jüdisch-katholische Familie und ihre eigenwilligen Familienmitglieder. -
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2005Großmama packt aus
Irene Disches neuer Roman als Vorabdruck in der F.A.Z.
Romananfänge sind bekanntlich eine Kunst für sich. Dieser beginnt mit einem Paukenschlag: "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen." Die hier zu sprechen anhebt, ebenso unverblümt wie respektlos, trotz ihres Jahrgangs 1891 ganz und gar nicht etepetete und doch mit einer verbrämten Keuschheit, die sie viel, viel später im Leben zu reuen kommt, ist Elisabeth Rother, geborene Gierlich, Tochter aus anständigem Hause, gute Katholikin, rheinische Frohnatur und unangefochtenes Oberhaupt eines chaotischen, weitverzweigten, ungewöhnlichen und liebenswerten Familienclans. Als Mutter von Renate und Großmutter von Irene hat sie alle Hände voll zu tun, deren in jeder Hinsicht unorthodoxes Verhalten zu begutachten und zu kommentieren. Die Hoffnung, daß die rebellische Tochter und die aufsässige Enkelin mehr ihrem vernünftigen Wesen nachschlagen würden, hat sie frühzeitig aufgeben müssen. "Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, daß die Familie ihr Niveau hält", hat Elisabeth beschlossen, und danach richtet sie sich ihr Leben lang, auch wenn es ihr niemand dankt und Tochter und Enkelin ihr dabei gerne in die Parade fahren.
"Großmama packt aus" heißt der Roman von Irene Dische, den wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, und selten hielt ein Werk so sehr, was sein Titel verheißt. Die ganze Familiengeschichte wird von ihr aufs Tapet gebracht, ohne Rücksicht auf Verluste, aber auch ohne Beschwerden oder gar Bitterkeit. Diese Großmutter lehnt jeden Gemütszustand außer resoluter Munterkeit ab und ist verärgert, wenn ihre Familienmitglieder diesbezüglich schwächeln. Enkelin Irene, die schon als Kind "vor lauter Stolz fast an der eigenen Zunge" erstickte, macht dieser unsentimentalen Lebenseinstellung nun alle Ehre.
Denn hinter den stattlichen Umrissen von Großmutter Elisabeth, von Tochter Renate ebenso zärtlich wie respektlos "Mops" genannt, lugt Irene Disches Autobiographie hervor, die mit der Hochzeit ihrer Großmutter mit dem jüdischen Arzt Carl Rother beginnt. Es ist die dramatische Geschichte einer Liebe, einer Flucht und eines Neuanfangs fern der Heimat, wie sie Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert oft erzwungen hat. Doch so exemplarisch das Schicksal des Ehepaares Rother und seiner Verwandtschaft anmuten mag, so einzigartig ist es auch. Charakter, besagt dieses Schicksal, hat man oder hat man nicht: Mildernde Umstände läßt Großmutter auch bei sich selbst nicht gelten.
"Politik interessierte mich nicht", bekennt sie freimütig. Aber wenn der Staat ihren Mann "belästigt", versteht Frau Professor Doktor keinen Spaß. Elisabeth Rother, eingehüllt in einen Kokon aus angeborenem Glauben an den lieben Gott und anerzogenem gesellschaftlichen Standesbewußtsein, läßt sich weder von der Gestapo noch von den sich dramatisch verändernden Verhältnissen einschüchtern; als die ersten antijüdischen Gesetze erlassen werden, packt sie nicht die Furcht, sondern der gerechte Zorn. Sie ist es, die rechtzeitig darauf besteht, mit dem Land auch das große Haus im oberschlesischen Leobschütz, den Komfort von Vermögen und Dienstboten zu verlassen. Sie schmuggelt ihren widerstrebenden Mann außer Landes, verlädt die verbliebenen Habseligkeiten und kommt später mit den Kindern nach. Die Anfänge in New York, ohne Geld, ohne Stellung und zu viert auf engstem Raum, streift sie nur kurz: Von solchen Widrigkeiten läßt sich die zähe Dame nicht unterkriegen.
Die Männer, ob in Gestalt von Gatten, Söhnen, Enkeln oder, Gott bewahre, Liebhabern, nehmen in dem, was Elisabeth mit typischer Untertreibung ihre "schauderhafte, kleine Geschichte" nennt, höchstens Nebenrollen ein. Sie werden geliebt, wie man ein notwendiges Übel eben lieben kann. Großmamas wenig enthusiastische Meinung von den Herren der Schöpfung, obwohl schon als junges Mädchen fest installiert, wird durch die Wahl des ersten Ehemanns ihrer Tochter, eines gewissen verabscheuungswürdigen Dr. Dische, noch bestärkt. Wie recht sie hatte, dessen antiautoritär gepolten Genen zu mißtrauen, zeigt sich an Enkeltochter Irene, der der fulminante literarische Auftritt ihrer überlebensgroßen Großmama nun zu verdanken ist. Geschrieben in jenem zupackenden, lakonisch kessen Ton, den mancher noch aus "Fromme Lügen" (1989) und "Der Doktor braucht ein Heim" (1990) im Ohr hat, wendet Irene Dische ihre ureigene Mischung aus Berliner Schnauze und New Yorker Biß nach ihrem letzten, 2001 erschienenen Roman "Ein Job" nun auf die eigene Familie an. Die Frage nach Schuld souverän ignorierend, zierliche Artigkeiten oder interfamiliäre Lobhudelei meidend wie der Teufel das Weihwasser, steuert der Roman mit unbekümmerter Chuzpe und flinkem Witz durch die Strudel der eigenen Geschichte. Dank Großmutters Beispiel wäre jegliche Form von Larmoyanz für diese Autorin gleichbedeutend mit Banalität. So bezwingt Irene Dische aus der gnadenlos direkten Perspektive der Großmutter im Himmel das heikle Problem der Autobiographie.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Irene Disches neuer Roman als Vorabdruck in der F.A.Z.
Romananfänge sind bekanntlich eine Kunst für sich. Dieser beginnt mit einem Paukenschlag: "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen." Die hier zu sprechen anhebt, ebenso unverblümt wie respektlos, trotz ihres Jahrgangs 1891 ganz und gar nicht etepetete und doch mit einer verbrämten Keuschheit, die sie viel, viel später im Leben zu reuen kommt, ist Elisabeth Rother, geborene Gierlich, Tochter aus anständigem Hause, gute Katholikin, rheinische Frohnatur und unangefochtenes Oberhaupt eines chaotischen, weitverzweigten, ungewöhnlichen und liebenswerten Familienclans. Als Mutter von Renate und Großmutter von Irene hat sie alle Hände voll zu tun, deren in jeder Hinsicht unorthodoxes Verhalten zu begutachten und zu kommentieren. Die Hoffnung, daß die rebellische Tochter und die aufsässige Enkelin mehr ihrem vernünftigen Wesen nachschlagen würden, hat sie frühzeitig aufgeben müssen. "Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, daß die Familie ihr Niveau hält", hat Elisabeth beschlossen, und danach richtet sie sich ihr Leben lang, auch wenn es ihr niemand dankt und Tochter und Enkelin ihr dabei gerne in die Parade fahren.
"Großmama packt aus" heißt der Roman von Irene Dische, den wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, und selten hielt ein Werk so sehr, was sein Titel verheißt. Die ganze Familiengeschichte wird von ihr aufs Tapet gebracht, ohne Rücksicht auf Verluste, aber auch ohne Beschwerden oder gar Bitterkeit. Diese Großmutter lehnt jeden Gemütszustand außer resoluter Munterkeit ab und ist verärgert, wenn ihre Familienmitglieder diesbezüglich schwächeln. Enkelin Irene, die schon als Kind "vor lauter Stolz fast an der eigenen Zunge" erstickte, macht dieser unsentimentalen Lebenseinstellung nun alle Ehre.
Denn hinter den stattlichen Umrissen von Großmutter Elisabeth, von Tochter Renate ebenso zärtlich wie respektlos "Mops" genannt, lugt Irene Disches Autobiographie hervor, die mit der Hochzeit ihrer Großmutter mit dem jüdischen Arzt Carl Rother beginnt. Es ist die dramatische Geschichte einer Liebe, einer Flucht und eines Neuanfangs fern der Heimat, wie sie Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert oft erzwungen hat. Doch so exemplarisch das Schicksal des Ehepaares Rother und seiner Verwandtschaft anmuten mag, so einzigartig ist es auch. Charakter, besagt dieses Schicksal, hat man oder hat man nicht: Mildernde Umstände läßt Großmutter auch bei sich selbst nicht gelten.
"Politik interessierte mich nicht", bekennt sie freimütig. Aber wenn der Staat ihren Mann "belästigt", versteht Frau Professor Doktor keinen Spaß. Elisabeth Rother, eingehüllt in einen Kokon aus angeborenem Glauben an den lieben Gott und anerzogenem gesellschaftlichen Standesbewußtsein, läßt sich weder von der Gestapo noch von den sich dramatisch verändernden Verhältnissen einschüchtern; als die ersten antijüdischen Gesetze erlassen werden, packt sie nicht die Furcht, sondern der gerechte Zorn. Sie ist es, die rechtzeitig darauf besteht, mit dem Land auch das große Haus im oberschlesischen Leobschütz, den Komfort von Vermögen und Dienstboten zu verlassen. Sie schmuggelt ihren widerstrebenden Mann außer Landes, verlädt die verbliebenen Habseligkeiten und kommt später mit den Kindern nach. Die Anfänge in New York, ohne Geld, ohne Stellung und zu viert auf engstem Raum, streift sie nur kurz: Von solchen Widrigkeiten läßt sich die zähe Dame nicht unterkriegen.
Die Männer, ob in Gestalt von Gatten, Söhnen, Enkeln oder, Gott bewahre, Liebhabern, nehmen in dem, was Elisabeth mit typischer Untertreibung ihre "schauderhafte, kleine Geschichte" nennt, höchstens Nebenrollen ein. Sie werden geliebt, wie man ein notwendiges Übel eben lieben kann. Großmamas wenig enthusiastische Meinung von den Herren der Schöpfung, obwohl schon als junges Mädchen fest installiert, wird durch die Wahl des ersten Ehemanns ihrer Tochter, eines gewissen verabscheuungswürdigen Dr. Dische, noch bestärkt. Wie recht sie hatte, dessen antiautoritär gepolten Genen zu mißtrauen, zeigt sich an Enkeltochter Irene, der der fulminante literarische Auftritt ihrer überlebensgroßen Großmama nun zu verdanken ist. Geschrieben in jenem zupackenden, lakonisch kessen Ton, den mancher noch aus "Fromme Lügen" (1989) und "Der Doktor braucht ein Heim" (1990) im Ohr hat, wendet Irene Dische ihre ureigene Mischung aus Berliner Schnauze und New Yorker Biß nach ihrem letzten, 2001 erschienenen Roman "Ein Job" nun auf die eigene Familie an. Die Frage nach Schuld souverän ignorierend, zierliche Artigkeiten oder interfamiliäre Lobhudelei meidend wie der Teufel das Weihwasser, steuert der Roman mit unbekümmerter Chuzpe und flinkem Witz durch die Strudel der eigenen Geschichte. Dank Großmutters Beispiel wäre jegliche Form von Larmoyanz für diese Autorin gleichbedeutend mit Banalität. So bezwingt Irene Dische aus der gnadenlos direkten Perspektive der Großmutter im Himmel das heikle Problem der Autobiographie.
FELICITAS VON LOVENBERG
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Friedmar Apel hat Irene Disches deutsch-jüdisch-amerikanische Familiengeschichte als "schwierige Identitätsfindung" einer Autorin zwischen nordamerikanischer Sozialisation und "zwiespältiger Anziehung" durch die europäische Kultur gelesen. Aber auch die ausgelöschte "deutsch-jüdischen Kultursymbiose" kommt ihm in den Sinn. Der Geschichte ist er augenscheinlich mit vergnüglicher Anteilnahme gefolgt, immer wieder beeindruckt, wie Dische darin eine Familiengeschichte "über alle Brüche" hinweg in einen Zusammenhang zu bringen versteht. Einen Zusammenhang, in dem Apel schließlich selbst Lügen und Selbsttäuschungen wahrhaftig werden sieht. Auch das Stilmittel "erzählende Großmutter" überzeugt ihn. Auch deshalb, weil diese aus seine Sicht im Verlauf des Romans zu einer "komplexen Metapher" von Literatur an sich wird. Gelobt wird auch die stilsichere Ungezwungenheit, mit der Reinhard Kaiser Disches originelle Sprache aus dem Amerikanischen ins Deutsche gebracht hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine wunderbar kantige Erzählung.« Georg Leyrer Kurier, 05.07.2019