Seit ihrer Geburt lebt Pearl im Auto, sie vorne, ihre Aussteiger-Mutter auf der Rückbank. Zwölf Jahre stehen die beiden jetzt schon am Rande eines Trailer Parks irgendwo in Florida. Draußen vor der Windschutzscheibe ist die Welt den Waffen verfallen: Kinder wachsen mit Pistolen statt Haustieren auf, Schießübungen immer und überall, mal Alligatoren, mal den Fluss, mal Polizisten im Visier, und sonntags sitzt man beim Gottesdienst mit der geschulterten Schrotflinte in der ersten Reihe. Doch im Ford Mercury wirken andere Kräfte, hier lernt Pearl das Träumen. Bis mit Eli ein Mann auftaucht, der das Herz der Mutter stiehlt …
Gun Love liest sich wie ein Trip. Jennifer Clement schreibt vom Band zwischen Mutter und Tochter und dem Waffenwahnsinn ihrer Heimat, sie erzählt in strahlenden Bildern eine Geschichte, in der Liebe und Gewalt, Magie und Fakt, Sorge und Freude haltlos ineinander fallen.
Das literarische Stimmungsbild einer ganzen Nation.
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buecher-magazin.deSeit 14 Jahren lebt Pearl mit ihrer Mutter Margot in einem Mercury Topaz Automatic auf einem Parkplatz in Florida. Sie auf den Vordersitzen, Margot auf dem Rücksitz. Pearls Welt bestand schon immer nur aus ihrer Mutter, dem Mercury, der Schule und den Bewohnern des Trailerparks, vor dem ihr Fahrzeug steht. Doch dann tritt ein Mann in das Leben ihrer Mutter - und von Anfang an ist Pearl klar, dass mit ihm nichts Gutes verbunden ist. Es ist ein Leben der Abgehängten und Sich-selbst-Überlassenen, das aus der Perspektive der 14-jährigen Erzählerin entblättert wird, geprägt von Armut, Gewalt und zerberstend schönen kurzen Momenten des Glücks. In klarer Sprache mit mitunter poetischen, wundersamen, überraschenden Sätzen gelingt es Clement, dieses Leben von Mutter und Tochter mit dem harten Realismus der in den USA allgegenwärtigen Waffengewalt zu verbinden, ohne dass es aufgesetzt erscheint. Vielmehr ist es herzzerreißend, die verzweifelten Wahrheiten der Mutter aus Pearls Mund zu lesen - und immer zu erkennen, wie viel Einsamkeit aus diesen Worten spricht. Pearls Welt zerbricht. Und doch gibt es am Ende immer noch die Träume, die besser sind als so manches Leben.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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»Literarisch ist [Gun Love] hervorragend inszeniert in einer selten authentischen Perspektive auf die amerikanische Tragödie.« Martin Zähringer Neue Zürcher Zeitung 20190429
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Bittere Armut,
süße Hoffnung
Jennifer Clement erzählt vom Aufwachsen
in einem amerikanischen Trailerpark
Wo die Waffen sprechen, endet die Macht der Worte. Doch Worte sind fast alles, was der vierzehnjährigen Pearl von ihrer Mutter geblieben ist. Am Rande eines Trailerparks, nicht in einem Wohnwagen, sondern in einem alten Mercury, hatte diese jugendliche Ausreißerin ihre Tochter großgezogen. Immer in Angst vor dem Jugendamt, aber zu arglos gegenüber dem Texaner Eli und auch gegenüber einem jungen Schicksalsgenossen, der eines Tages mit einer Pistole vor ihr stand: „Meine Mutter lief direkt in die Kugeln hinein, als liefe sie an einem heißen Julitag in Florida in das Wasser einer Sprinkleranlage“, sagt Pearl. Wem das wie eine seltsame Mischung aus Grimm’schen Märchen und Country-and-Western-Songs vorkommt, der liegt nicht falsch.
Sie sei „mit Liebesliedern großgezogen“ worden, sagt die Erzählerin: „Meine Mutter hatte mir so gut wie nie etwas gekauft, aber sie hatte mich mit ihren Worten und Liedern überhäuft.“ Deshalb sei sie „wie ein Lexikon, all ihr Geplapper und ihre Hoffnungen einer jungen Mutter steckten in mir“. Doch alle Liebeslieder und „Geburtstagskerzen-Wünsche“ hatten nichts daran ändern können, dass der Trailerpark am Rande einer Müllkippe lag und dass man in der von dessen Ausdünstungen verpesteten Gegend siamesische Alligatorzwillinge und eine zwölfbeinige Eidechse fand. Dessen wenige Bewohner waren alles andere als Glückskinder: Die ehemalige Lehrerin Mrs. Roberta Young war durch die tödliche Erkrankung ihres Mannes verarmt, und ihre dreißigjährige Tochter Noel war zwar ein technisches Genie, konnte aber „nicht mit Worten ausdrücken, was sie mit dem Kopf machte.“ Noel sammelte Barbiepuppen und Glückskekssprüche, die sie auswendig lernte, und Sergeant Bobs Tochter April May, Pearls einzige Freundin, hatte für jeden einen Spitznamen. Der etwas undurchsichtige Pastor Rex wiederum war ein Kircheninnovator, der das „Drive-in-Gebet“ erfunden und die Kampagne „Gebt Gott Eure Waffen“ ins Leben gerufen hatte, die für Pearl in gleich mehrfacher Hinsicht schicksalhafte Folgen haben sollte. Gott hat diese Waffen nie zu sehen bekommen, weil sie in Richtung Mexiko verschwanden.
Noch undurchsichtiger aber war jener Eli, in den sich Pearls Mutter verguckt hatte: „Ich kann nicht in ihn hineinsehen“, hatte sie einmal beunruhigt gesagt, und zuvor etwas noch Beunruhigenderes: „Worte bedeuten nur etwas, wenn sie wahr sind“. Hier liegt der Angelpunkt dieses Romans, der mit zuckersüßen Worten eine Geschichte beginnt, die auf harten sozialen Realismus hinausläuft. Sie sei keine verschollene Verwandte und auch keine Mary Poppins, sagt die Sozialarbeiterin, die Pearl nach dem Tod ihrer Mutter zunächst beim alten jüdischen Pflegevater Mr. Brodsky zwischenparkt. Das sind wahre Worte aber keine tröstlichen, während dieser Roman nach tröstlichen Worten sucht, die auch wahr sind. Waffen sind hier omnipräsent, sie bewahren diese sentimentale, romantische Suche davor, kitschig zu werden.
Der Aufenthalt in Brodskys Haus bildet dann eine weitere Stufe in Pearls Entwicklung, denn hier begegnet sie zugleich der weisesten und der naivsten Gestalt des Romans. Sie beide seien vom „Stamm der Träumer“ hatte Pearls Mutter einmal gesagt: „Als Mr. Brodsky sagte, Träume seien besser als das Leben, wusste ich, dass er einer von uns war.“ Sein Arbeitszimmer ist voller alter Fotos aus Europa, zu Pearl sagt er: „Das Schlimme mit alten Fotos ist, dass man weiß, was danach passiert ist.“
Sein Schützling Helen schließlich ist schwarz, acht Jahre alt, sieht aus wie fünf und ist die Einzige, die ein Heckenschütze von ihrer Familie übrig gelassen hat. „Helen redete ununterbrochen.“ Helen ist eine literarische Verwandte jenes kleinen Pip, der in „Moby Dick“ ganz allein auf hoher See seinen Verstand, aber nicht die Wörter verloren hat: „Helen liebt Küsse auf die Stirn. Manchmal will sie für immer schlafen und sie hätte nichts dagegen, schwanger zu sein.“
Helen sagt alles und auch das Gegenteil, scheinbar ohne Sinn und Verstand. Es ist, als probiere sie alle Sätze dieser Welt aus, um so jenes Zauberwort zu finden, das ihr die Wahrheit sagen, ihr Schicksal erklären, ihr Trost spenden könnte. Oder was immer auch Wörter vermögen.
ULRICH BARON
Jennifer Clement: Gun Love. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, Berlin 2018. 251 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
süße Hoffnung
Jennifer Clement erzählt vom Aufwachsen
in einem amerikanischen Trailerpark
Wo die Waffen sprechen, endet die Macht der Worte. Doch Worte sind fast alles, was der vierzehnjährigen Pearl von ihrer Mutter geblieben ist. Am Rande eines Trailerparks, nicht in einem Wohnwagen, sondern in einem alten Mercury, hatte diese jugendliche Ausreißerin ihre Tochter großgezogen. Immer in Angst vor dem Jugendamt, aber zu arglos gegenüber dem Texaner Eli und auch gegenüber einem jungen Schicksalsgenossen, der eines Tages mit einer Pistole vor ihr stand: „Meine Mutter lief direkt in die Kugeln hinein, als liefe sie an einem heißen Julitag in Florida in das Wasser einer Sprinkleranlage“, sagt Pearl. Wem das wie eine seltsame Mischung aus Grimm’schen Märchen und Country-and-Western-Songs vorkommt, der liegt nicht falsch.
Sie sei „mit Liebesliedern großgezogen“ worden, sagt die Erzählerin: „Meine Mutter hatte mir so gut wie nie etwas gekauft, aber sie hatte mich mit ihren Worten und Liedern überhäuft.“ Deshalb sei sie „wie ein Lexikon, all ihr Geplapper und ihre Hoffnungen einer jungen Mutter steckten in mir“. Doch alle Liebeslieder und „Geburtstagskerzen-Wünsche“ hatten nichts daran ändern können, dass der Trailerpark am Rande einer Müllkippe lag und dass man in der von dessen Ausdünstungen verpesteten Gegend siamesische Alligatorzwillinge und eine zwölfbeinige Eidechse fand. Dessen wenige Bewohner waren alles andere als Glückskinder: Die ehemalige Lehrerin Mrs. Roberta Young war durch die tödliche Erkrankung ihres Mannes verarmt, und ihre dreißigjährige Tochter Noel war zwar ein technisches Genie, konnte aber „nicht mit Worten ausdrücken, was sie mit dem Kopf machte.“ Noel sammelte Barbiepuppen und Glückskekssprüche, die sie auswendig lernte, und Sergeant Bobs Tochter April May, Pearls einzige Freundin, hatte für jeden einen Spitznamen. Der etwas undurchsichtige Pastor Rex wiederum war ein Kircheninnovator, der das „Drive-in-Gebet“ erfunden und die Kampagne „Gebt Gott Eure Waffen“ ins Leben gerufen hatte, die für Pearl in gleich mehrfacher Hinsicht schicksalhafte Folgen haben sollte. Gott hat diese Waffen nie zu sehen bekommen, weil sie in Richtung Mexiko verschwanden.
Noch undurchsichtiger aber war jener Eli, in den sich Pearls Mutter verguckt hatte: „Ich kann nicht in ihn hineinsehen“, hatte sie einmal beunruhigt gesagt, und zuvor etwas noch Beunruhigenderes: „Worte bedeuten nur etwas, wenn sie wahr sind“. Hier liegt der Angelpunkt dieses Romans, der mit zuckersüßen Worten eine Geschichte beginnt, die auf harten sozialen Realismus hinausläuft. Sie sei keine verschollene Verwandte und auch keine Mary Poppins, sagt die Sozialarbeiterin, die Pearl nach dem Tod ihrer Mutter zunächst beim alten jüdischen Pflegevater Mr. Brodsky zwischenparkt. Das sind wahre Worte aber keine tröstlichen, während dieser Roman nach tröstlichen Worten sucht, die auch wahr sind. Waffen sind hier omnipräsent, sie bewahren diese sentimentale, romantische Suche davor, kitschig zu werden.
Der Aufenthalt in Brodskys Haus bildet dann eine weitere Stufe in Pearls Entwicklung, denn hier begegnet sie zugleich der weisesten und der naivsten Gestalt des Romans. Sie beide seien vom „Stamm der Träumer“ hatte Pearls Mutter einmal gesagt: „Als Mr. Brodsky sagte, Träume seien besser als das Leben, wusste ich, dass er einer von uns war.“ Sein Arbeitszimmer ist voller alter Fotos aus Europa, zu Pearl sagt er: „Das Schlimme mit alten Fotos ist, dass man weiß, was danach passiert ist.“
Sein Schützling Helen schließlich ist schwarz, acht Jahre alt, sieht aus wie fünf und ist die Einzige, die ein Heckenschütze von ihrer Familie übrig gelassen hat. „Helen redete ununterbrochen.“ Helen ist eine literarische Verwandte jenes kleinen Pip, der in „Moby Dick“ ganz allein auf hoher See seinen Verstand, aber nicht die Wörter verloren hat: „Helen liebt Küsse auf die Stirn. Manchmal will sie für immer schlafen und sie hätte nichts dagegen, schwanger zu sein.“
Helen sagt alles und auch das Gegenteil, scheinbar ohne Sinn und Verstand. Es ist, als probiere sie alle Sätze dieser Welt aus, um so jenes Zauberwort zu finden, das ihr die Wahrheit sagen, ihr Schicksal erklären, ihr Trost spenden könnte. Oder was immer auch Wörter vermögen.
ULRICH BARON
Jennifer Clement: Gun Love. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, Berlin 2018. 251 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2018Waffen für die Universität der Liebe
Unglück ist immer noch besser als gar kein Glück: Der neue Roman der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement "Gun Love" ist eine Hommage an ihre Wahlheimat Mexiko.
Pearl heißt so, weil ihr Teint und ihr Wesen so durchscheinend, fast albinoweiß sind, aber sie lebt seit ihrer Geburt in einem Autowrack auf einem heruntergekommenen Trailerpark im hässlichsten Teil Floridas. Anfangs war der Ford Mercury nur eine Notlösung. Schließlich war Pearls Mutter Margot eine Ausreißerin aus gutem Hause, behütet aufgewachsen mit Rachmaninows Klavierkonzerten und Limoges-Porzellan (und Fliegenklatschen in jedem Zimmer). Warum die Teenager-Mom damals ihr Elternhaus Knall auf Fall verließ, lässt Jennifer Clement wie so manches im Dunkeln; vielleicht war es die Kälte des Vaters, vielleicht die Fliegenklatsche. Aber jetzt ist alles gut.
Der Indian-Waters-Trailerpark liegt zwar gleich neben einer Müllkippe; das Leben ohne Dusche, Küche und richtiges Bett ist gewöhnungsbedürftig, der Geschmack von Insektenspray auf der Zunge lästig. Aber Pearl und Margot sind so einig und bedürfnislos glücklich, dass aus Wochen Monate und schließlich vierzehn Jahre wurden. In Amerika sind solche Existenzen am Rand der Obdachlosigkeit gar nicht so selten.
Alles ist geregelt. Der Vordersitz ist Pearls Reich, auf dem Rücksitz schläft Margot. Der Kofferraum ersetzt Kühl- und Wohnzimmerschrank, das Autodach den Kaminsims; das Waschzeug liegt im Handschuhfach, die Kleidung unter den Sitzen. Zum Hausrat gehören neben dem Notwendigsten sogar ein paar überflüssige Dinge, Erinnerungsstücke wie das Hochzeitskleid der Großmutter oder das Familiensilber, das allerdings stückweise verscherbelt werden muss. Pearl geht zur Schule, hat Freunde und Freude am Leben, auch an den Schießübungen im Wohnwagen. Und ihre Mutter ist sowieso ein Sonnenschein, fröhlich und freundlich zu allen. Ihrer Tochter gibt sie weiter, was sie auf der "Universität der Liebe" gelernt hat, Schnulzen und Lebensweisheiten wie "Unglück ist immer noch besser als gar kein Glück".
Dann lernt sie Eli kennen, und alles wendet sich zum Schlechten. Männer sind die Störenfriede im Paradies der Mütter und Töchter: Waffennarren, Mörder, Vergewaltiger, bestenfalls Nervensägen und Dummköpfe. So war es schon in Clements vorherigem Roman ("Gebete für die Vermissten") über Frauen im mexikanischen Drogenkrieg, und so ist es auch jetzt wieder. Pastor Rex, der das Drive-in-Gebet erfunden hat und "Waffen für Gott" einsammelt, um sie auf der anderen Seite der Grenze zu verkaufen, ist vielleicht nur ein besonders bigottes Exemplar aus der Galerie zwielichtiger Priester, Sergeant Bob, der beinamputierte Afghanistan-Veteran, der vom "Reinheitsfischen" mit einem selbstgebastelten Lügendetektor lebt, vielleicht nur ein harmloser Irrer. Eli aber, der charismatische Hallodri, Waffenschmuggler und Erzmacho, ist "Mr. Bad" persönlich. Er saugt Margot die schöne Seele aus dem Leib; einer seiner Kumpel wird sie mit zwanzig Schüssen aus seinem Revolver töten.
Manchmal geht es in "Gun Love" zu wie im Krieg, im Countrysong oder auch in einer mexikanischen Telenovela. Manchmal aber auch wie in einem Melodram von Dickens: Pearl kommt zu einem liebevollen Pflegevater und freundet sich mit zwei anderen "Shoots" (so heißen die Kinder erschossener Eltern im Sozialarbeiterjargon) an. Kurz bevor sie vom Jugendamt wieder abgeholt werden soll, wird sie von Corazon, einer Mexikanerin aus dem Trailerpark, entführt. Am Ende einer sentimentalen Reise im Greyhound-Bus taucht Eli wieder auf, und das bedeutet nichts Gutes.
In "Gun Love" werden Menschen, Tiere und sogar Wörter Opfer von Waffennarren. Ein zweiköpfiger Alligator wird nur so zum Spaß erschossen, Selena, die Königin des Texmex, wurde in der Blüte ihrer Jugend von der Kugel eines Fans hinweggerafft. Zu Pastor Rex' Gottesdiensten kommen die Gläubigen mit geschulterter Schrotflinte. Clement kennt die leidvolle Geschichte der Amokläufe, Schulhofmassaker und Drive-by-Shootings, die Waffenausmalbücher für Kinder und die "von Kugeln durchbohrten Wörter". Aber die amerikanische Liebe zu den Waffen interessiert die Autorin weniger als die "Kugeln der Liebe". Ihr Thema ist die naturwüchsige Einheit von Mutter und Kind, die von männlicher Gewalt gesprengt wird, und dafür findet sie in Nicolai von Schweder-Schreiners einfühlsamer Übersetzung eine Sprache voll poetischer Schlichtheit und Lakonie. Vieles trifft mitten ins Herz, manches geht aber auch daneben. Sätze wie "Die Perlen um meinen Hals beweinten das Meer" oder "Der Refrain meines Lebens war in dieser Nacht Leos Herzschlag" streifen die Grenze zum Kitsch und zu süßlichen Kalenderweisheiten. Und manchmal fällt Clement zu schnell mit der Tür ins Haus: Eli riecht streng nach Brut Cologne, liebesbedürftige Erwachsene verschanzen sich hinter einer Armee von Barbiepuppen.
Dennoch, ein Roman, der mit dem Satz "Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen" anfängt, kann nicht ganz schlecht sein. Und ein Buch, in dem am Ende ein Mädchen seinen Peiniger erschießt, kann auch kein widerspruchsfreies Plädoyer für Frieden, Freude und unbewaffneten Eierkuchen sein. "Gun Love" ist weder eine literarische Zuckerdose noch eine Texmex-Schnulze: Es ist die herzzerreißende Geschichte einer Mutter-Tochter-Symbiose und ein - manchmal romantisierendes - Loblied auf das Leben der Ausgespuckten und Verworfenen. Und nicht zuletzt ist es Clements Hommage an ihre Wahlheimat Mexiko. Mexiko ist das Land der Pistoleros und Drogengangster, das "schönste Land der Welt" und Donald Trumps Lieblingshassobjekt. Für Jennifer Clement ist es vor allem das Land der Liebe. In Amerika gibt es Waffenliebe, in Mexiko Waffen der Liebe, bessere Musik, die besten Feste und eine "mexikanische Logik". In Mexiko, sagt Pearl einmal, kann man noch besser als in einem Autowrack auf einer amerikanischen Müllhalde leben.
MARTIN HALTER
Jennifer Clement: "Gun Love". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 252 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unglück ist immer noch besser als gar kein Glück: Der neue Roman der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement "Gun Love" ist eine Hommage an ihre Wahlheimat Mexiko.
Pearl heißt so, weil ihr Teint und ihr Wesen so durchscheinend, fast albinoweiß sind, aber sie lebt seit ihrer Geburt in einem Autowrack auf einem heruntergekommenen Trailerpark im hässlichsten Teil Floridas. Anfangs war der Ford Mercury nur eine Notlösung. Schließlich war Pearls Mutter Margot eine Ausreißerin aus gutem Hause, behütet aufgewachsen mit Rachmaninows Klavierkonzerten und Limoges-Porzellan (und Fliegenklatschen in jedem Zimmer). Warum die Teenager-Mom damals ihr Elternhaus Knall auf Fall verließ, lässt Jennifer Clement wie so manches im Dunkeln; vielleicht war es die Kälte des Vaters, vielleicht die Fliegenklatsche. Aber jetzt ist alles gut.
Der Indian-Waters-Trailerpark liegt zwar gleich neben einer Müllkippe; das Leben ohne Dusche, Küche und richtiges Bett ist gewöhnungsbedürftig, der Geschmack von Insektenspray auf der Zunge lästig. Aber Pearl und Margot sind so einig und bedürfnislos glücklich, dass aus Wochen Monate und schließlich vierzehn Jahre wurden. In Amerika sind solche Existenzen am Rand der Obdachlosigkeit gar nicht so selten.
Alles ist geregelt. Der Vordersitz ist Pearls Reich, auf dem Rücksitz schläft Margot. Der Kofferraum ersetzt Kühl- und Wohnzimmerschrank, das Autodach den Kaminsims; das Waschzeug liegt im Handschuhfach, die Kleidung unter den Sitzen. Zum Hausrat gehören neben dem Notwendigsten sogar ein paar überflüssige Dinge, Erinnerungsstücke wie das Hochzeitskleid der Großmutter oder das Familiensilber, das allerdings stückweise verscherbelt werden muss. Pearl geht zur Schule, hat Freunde und Freude am Leben, auch an den Schießübungen im Wohnwagen. Und ihre Mutter ist sowieso ein Sonnenschein, fröhlich und freundlich zu allen. Ihrer Tochter gibt sie weiter, was sie auf der "Universität der Liebe" gelernt hat, Schnulzen und Lebensweisheiten wie "Unglück ist immer noch besser als gar kein Glück".
Dann lernt sie Eli kennen, und alles wendet sich zum Schlechten. Männer sind die Störenfriede im Paradies der Mütter und Töchter: Waffennarren, Mörder, Vergewaltiger, bestenfalls Nervensägen und Dummköpfe. So war es schon in Clements vorherigem Roman ("Gebete für die Vermissten") über Frauen im mexikanischen Drogenkrieg, und so ist es auch jetzt wieder. Pastor Rex, der das Drive-in-Gebet erfunden hat und "Waffen für Gott" einsammelt, um sie auf der anderen Seite der Grenze zu verkaufen, ist vielleicht nur ein besonders bigottes Exemplar aus der Galerie zwielichtiger Priester, Sergeant Bob, der beinamputierte Afghanistan-Veteran, der vom "Reinheitsfischen" mit einem selbstgebastelten Lügendetektor lebt, vielleicht nur ein harmloser Irrer. Eli aber, der charismatische Hallodri, Waffenschmuggler und Erzmacho, ist "Mr. Bad" persönlich. Er saugt Margot die schöne Seele aus dem Leib; einer seiner Kumpel wird sie mit zwanzig Schüssen aus seinem Revolver töten.
Manchmal geht es in "Gun Love" zu wie im Krieg, im Countrysong oder auch in einer mexikanischen Telenovela. Manchmal aber auch wie in einem Melodram von Dickens: Pearl kommt zu einem liebevollen Pflegevater und freundet sich mit zwei anderen "Shoots" (so heißen die Kinder erschossener Eltern im Sozialarbeiterjargon) an. Kurz bevor sie vom Jugendamt wieder abgeholt werden soll, wird sie von Corazon, einer Mexikanerin aus dem Trailerpark, entführt. Am Ende einer sentimentalen Reise im Greyhound-Bus taucht Eli wieder auf, und das bedeutet nichts Gutes.
In "Gun Love" werden Menschen, Tiere und sogar Wörter Opfer von Waffennarren. Ein zweiköpfiger Alligator wird nur so zum Spaß erschossen, Selena, die Königin des Texmex, wurde in der Blüte ihrer Jugend von der Kugel eines Fans hinweggerafft. Zu Pastor Rex' Gottesdiensten kommen die Gläubigen mit geschulterter Schrotflinte. Clement kennt die leidvolle Geschichte der Amokläufe, Schulhofmassaker und Drive-by-Shootings, die Waffenausmalbücher für Kinder und die "von Kugeln durchbohrten Wörter". Aber die amerikanische Liebe zu den Waffen interessiert die Autorin weniger als die "Kugeln der Liebe". Ihr Thema ist die naturwüchsige Einheit von Mutter und Kind, die von männlicher Gewalt gesprengt wird, und dafür findet sie in Nicolai von Schweder-Schreiners einfühlsamer Übersetzung eine Sprache voll poetischer Schlichtheit und Lakonie. Vieles trifft mitten ins Herz, manches geht aber auch daneben. Sätze wie "Die Perlen um meinen Hals beweinten das Meer" oder "Der Refrain meines Lebens war in dieser Nacht Leos Herzschlag" streifen die Grenze zum Kitsch und zu süßlichen Kalenderweisheiten. Und manchmal fällt Clement zu schnell mit der Tür ins Haus: Eli riecht streng nach Brut Cologne, liebesbedürftige Erwachsene verschanzen sich hinter einer Armee von Barbiepuppen.
Dennoch, ein Roman, der mit dem Satz "Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen" anfängt, kann nicht ganz schlecht sein. Und ein Buch, in dem am Ende ein Mädchen seinen Peiniger erschießt, kann auch kein widerspruchsfreies Plädoyer für Frieden, Freude und unbewaffneten Eierkuchen sein. "Gun Love" ist weder eine literarische Zuckerdose noch eine Texmex-Schnulze: Es ist die herzzerreißende Geschichte einer Mutter-Tochter-Symbiose und ein - manchmal romantisierendes - Loblied auf das Leben der Ausgespuckten und Verworfenen. Und nicht zuletzt ist es Clements Hommage an ihre Wahlheimat Mexiko. Mexiko ist das Land der Pistoleros und Drogengangster, das "schönste Land der Welt" und Donald Trumps Lieblingshassobjekt. Für Jennifer Clement ist es vor allem das Land der Liebe. In Amerika gibt es Waffenliebe, in Mexiko Waffen der Liebe, bessere Musik, die besten Feste und eine "mexikanische Logik". In Mexiko, sagt Pearl einmal, kann man noch besser als in einem Autowrack auf einer amerikanischen Müllhalde leben.
MARTIN HALTER
Jennifer Clement: "Gun Love". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 252 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine "seltsame Mischung aus Grimm'schem Märchen und "Country-and-Western-Song" hat Jennifer Clement mit ihrem neuesten Roman geschaffen, meint Rezensent Ulrich Baron: Hier erzähle die junge Pearl, wie sie von ihrer Mutter in einem Trailerpark aufgezogen wurde, bis diese erschossen wurde und Pearl in die Schleusen des Jugendamts geriet. Was durch die Augen des Kindes mit träumerischen Formulierungen durch die rosarote Brille erzählt wird, landet letztlich auf dem harten Boden des sozialen Realismus, so Baron. Zu einem abschließenden Urteil scheint der Rezensent nicht gekommen zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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