Keine leichte Kost
Emma Noyes hat ein Debüt gezaubert, dass uns tief in den Kopf einer essgestörten und unglücklichen Person blicken lässt. Das Cover und der Klappentext legen zwar auch Betonung auf die Liebesgeschichte, aber in erster Linie ist "Guy's Girl" ist ein Roman über
Essstörungen, und da sollte man die Triggerwarnung, die zu Beginn des Romans ausgesprochen wird, auch ernst…mehrKeine leichte Kost
Emma Noyes hat ein Debüt gezaubert, dass uns tief in den Kopf einer essgestörten und unglücklichen Person blicken lässt. Das Cover und der Klappentext legen zwar auch Betonung auf die Liebesgeschichte, aber in erster Linie ist "Guy's Girl" ist ein Roman über Essstörungen, und da sollte man die Triggerwarnung, die zu Beginn des Romans ausgesprochen wird, auch ernst nehmen.
Zunächst lernen wir Ginny kennen, die schon immer besser mit Jungs konnte, daher auch der Titel des Romans. Aufgewachsen unter Brüdern, mit denen sie sich immer besser verstand als mit ihrer Schwester, zieht sich dieses Muster auch in ihr Leben als Erwachsene, wo sie nun in einer Männer-WG lebt. Sie bedient damit ein bestimmtes Stereotyp, "not like other girls", das sowohl in Literatur und Film vorkommt als auch manchmal von Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft genutzt wird, um sich von anderen Frauen abzugrenzen. Es handelt sich um ein Narrativ der verinnerlichten Frauenfeindlicheit, bei dem vermeintlich weibliche Eigenschaften als Schwäche dargestellt werden und ist eines, mit dem Frauen einander schaden. Ich hatte von den ersten Seiten an schon gehofft, dass in der Figur Ginny dieses Stereotyp für die Leser*innen auf- und überarbeitet wird, sie zum Beispiel eine weibliche Bezugsperson oder Freundin findet oder die Beziehung zu ihrer Schwester kittet. Ein Stückweit passiert das auch. Jedoch kann der Diskurs nicht in vollem Umfang stattfinden, da der Hauptfokus des Romans auf der Essstörung der Hauptfigur und ihrer romantischen Beziehung liegt.
Der Roman lässt blicken, dass die die Autorin aus eigener Erfahrung über Anorexie und Bulimie schreibt. Ginny ist damit eine Projektionsfigur für sie und die Teile des Romans, die diesen Aspekt behandeln, sind beim weitem die stärksten. Sie waren gleichzeitig herzzerreißend und bildhaft geschrieben. Als Nichtbetroffene habe ich durchaus gelernt, was im Kopf einer essgestörten Person passieren kann, wie sie auf äußere Einflüsse reagiert und sie verarbeitet. Die Passagen rund um Magersucht und Bulimie sowie Ginnys innerer Kampf haben mich sehr berührt.
Wir lernen Ginny auch aus einer zweiten Perspektive kennen, nämlich der von Adrian. Er ist als Kind aus Ungarn in die USA gekommen und verarbeitet den Verlust seiner Heimat und des Vaters, der vor seiner Geburt verstorben ist. Adrian dient als Figur nicht nur als Leinwand, um Ginny besser zu beleuchten, sondern hat auch alleine Bestand. Er lernt Ginny kennen, als er Teil der WG ist, in die sie zieht, und die beiden beginnen ein romantisches Hin und Her, irgendetwas zwischen fester Beziehung und Affäre. Die Beziehung der beiden wird von ihrer psychischen Erkrankung und seinen Verlustängsten überschattet. Trotzdem habe ich die Chemie zwischen den beiden nicht ganz nachvollziehen können und finde der Hauptfokus der Geschichte liegt eindeutig auf Ginnys Reise zu mehr mentaler Gesundheit und Akzeptanz.
Das von Fanny Bechert gesprochene Hörbuch ist sehr schön interpretiert. Besonders hat mir gefallen, wie sie in emotionalen Momenten diese Emotionen in ihre Stimme übertragen konnte. Das hat die Lese- bzw. Hörerfahrung ungemein bereichert.
Auch wenn der Roman keine leichte Kost ist empfehle ich ihn für alle, die gerne charakterbasierte Erzählungen mögen.