»Der Letzte war am 27. Oktober 1923 vermisst worden, davor einer am 25. Oktober und einer am 12. Oktober. Im September wurde ein Junge vermisst gemeldet, im August einer, Pause im Juli, im Juni einer, im Mai zwei, Pause im April, im März einer. Der Erste verschwand am 12. Februar 1923, Fritz Franke.
Die Namen steckten tief in Lahnsteins Kopf, in seinem Gemüt, er kannte sie alle.«
Hannover in…mehr»Der Letzte war am 27. Oktober 1923 vermisst worden, davor einer am 25. Oktober und einer am 12. Oktober. Im September wurde ein Junge vermisst gemeldet, im August einer, Pause im Juli, im Juni einer, im Mai zwei, Pause im April, im März einer. Der Erste verschwand am 12. Februar 1923, Fritz Franke. Die Namen steckten tief in Lahnsteins Kopf, in seinem Gemüt, er kannte sie alle.«
Hannover in den Jahren 1923 und 1924. Ermittler Robert Lahnstein kann sie zu jeder Zeit auswendig aufzählen, die verschwundenen Jungen seiner Stadt. An jedem Tag fürchtet er sich davor, wieder ein besorgtes Elternpaar oder eine weinende Mutter in seinem Büro vorzufinden. Als die Serie irgendwann aufgeklärt und Fritz Haarmann als Mörder zum Tode verurteilt wird, stehen auf seiner Rechnung 24 Namen…
Fritz Haarmann hat es mit der Monstrosität seiner Taten zu weltweiter Bekanntheit geschafft. Selbst Menschen, die sich nicht für „True Crime“ interessieren, kennen zumindest Eckdaten. Nachdem ich schon vor Jahren durch die „Haarmann-Protokolle“ umfangreiche Sachkenntnisse erwerben konnte, interessierte mich nun die Umsetzung in einem Kriminalroman.
Im Zentrum der Handlung steht nicht Haarmann, sondern der Ermittler Lahnstein. Zwischendurch gibt es zwar immer wieder Abschnitte aus wechselnden Perspektiven (Haarmann, Opfer, Angehörige), aber im Wesentlichen verfolgt der Leser die Taten und Gedanken Lahnsteins. Leider zerfasert dabei der Krimi nicht selten. Lahnstein hat wie sehr viele Menschen seiner Zeit ein Kriegstrauma, das ihn in jeder Nacht verfolgt. Als Sozialdemokrat sorgt er sich zudem aufgrund der aktuellen politischen Entwicklungen.
Professionelle Distanz zu seinen Fällen zu halten, gelingt ihm nicht. Neben der emotionalen Belastung steht er natürlich unter Erwartungsdruck von Vorgesetzten und der Bevölkerung. Seine Psyche leidet, weil er einen neuen Vermisstenfall gleichzeitig fürchtet und erhofft, schließlich könnte ein neuer Fall ihm endlich die ersehnten Ansatzpunkte geben.
Während wir es bei Lahnstein mit einem fiktiven Ermittler zu tun haben, sind die dargestellten Szenen aus Polizeialltag und Gesellschaft sehr realistisch. An diesen Stellen wird das Buch zu einer gelungenen Milieustudie, die kritisch Verhörmethoden hinterfragt und deutlich macht, wie das soziale Umfeld Haarmanns Wirken über so lange Zeit überhaupt möglich machte. Stichwort: Gesellschaftliche Verantwortung!
Bei der Bewertung habe ich mich etwas schwergetan. Manchmal liegt der Fokus sehr lange auf Lahnsteins Befindlichkeiten. Diese Punkte sind zwar wichtig, um ihn als Charakter richtig verstehen zu können, doch wird der Krimi da leicht zur Nebensache. Einige Abschnitte, bei denen er politisch diskutierte oder grübelte konnten mich nur wenig erreichen. Letztlich gaben die gelungenen Kapitel mit Verhören und Prozess den Ausschlag, dass ich mich doch für 4 Sterne entschieden habe.
Fazit: Gelungen, aber mehr Milieustudie als Krimi. Wer Spannung sucht, ist hier falsch. Aber gut, der Ausgang ist eh bekannt ;-) Mit Blut sollte man auch kein Problem haben, die geschilderte Zerlegung einer Leiche ist nicht ohne.