Ein Oratorium auf eine ungelebte Liebe! Marga von Etzdorf, eine junge Fliegerin, erschießt sich in Syrien nach einer Bruchlandung. Sie ist 25 Jahre alt. Ihr Grab liegt auf dem Berliner Invalidenfriedhof. Was hat sie hier, zwischen den Toten der preußischen Militärgeschichte, NS-Größen und zivilen Opfern der letzten Kriegstage, zu suchen? Gibt es eine Erklärung für ihren gewaltsamen Tod?
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"Auf ihrem Grabstein ist zu lesen 'Der Flug ist das Leben wert' - und dieses lehrreiche Hörbuch ist auf jeden Fall das Anhören wert!"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2009Seufzen und Sausen
In seinem bewundernswert kunstvollen Roman über die Fliegerin Marga von Etzdorf hebt Uwe Timm den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums.
Etwa in der Mitte seines Romans "Halbschatten" lässt Uwe Timm die Fliegerin Marga von Etzdorf davon erzählen, wie sie 1930 bei einem Spaziergang in der nordafrikanischen Wüste von zwei spanischen Offizieren gebeten worden sei, ein deutsches Gedicht aufzusagen. "Und als ich fragte, von welchem deutschen Dichter, antworteten beide wie aus einem Munde: Heine." Aus dem Gedicht "Abenddämmerung" aus dem "Buch der Lieder" zitiert der Roman die letzten zehn Verse, deren erste drei lauten: "Wenn wir am Sommerabend, / Auf den Treppensteinen der Haustür, / Zum stillen Erzählen niederkauerten".
Im zitierten Teil des Gedichts bleibt implizit, was vorher ausgesprochen worden ist: dass das Ich des Gedichts ein männliches ist. Der Dichter erzählt, was er "einst, als Knabe, / Von Nachbarskindern vernahm": Sagen und Märchen. Die Wahl dieses Gedichts sagt etwas über die Frau aus, die es rezitiert, und über den Roman, in dem es zitiert wird. Bei Marga von Etzdorf, die in der Luft singt und sich Gedichte von Heine und Eichendorff aufsagt, sind es Erzählungen aus der Kindheit, die, ihren Erzählungen zufolge, ihr den Berufswunsch der Fliegerin eingegeben haben.
Auf dem Landgut der Großeltern tauchte eines Tages ein Amerikaner auf, der ihr als Erster vom Fliegen erzählte. Er war im Krieg zum Piloten ausgebildet worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Noch bevor aber die Rede auf diese Himmelsabenteuer des Gastes kam, hatte er die fünfzehnjährige Marga und ihre Schwester schon fasziniert allein durch die Art, wie er sich bewegte. Timms Roman ist ein Gewebe aus Erzählungen. Alles, was der Roman erzählt, wird schon als Erzähltes wiedergegeben, in der Regel durch eine Kette von Erzählerfiguren vermittelt. Aber jeder Erzählung ging ein sinnliches Erlebnis voraus, das kein Erzähler vorweggenommen hatte, ein unvermittelt eintretendes Ereignis. Wie der junge Amerikaner dastand in der Halle des Gutshauses, "ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche", war er "tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt". Er hatte den Auftritt einer sagenhaften Gestalt. Deshalb konnte sich an den unangemeldeten Besucher im Gedächtnis der Schwestern eine legendäre Überlieferung knüpfen.
Als Marga von Etzdorf 1931 nach ihrem Rekordflug japanischen Boden betrat, erwartete sie ein Wiedergänger des Kindheitshelden, der Diplomat Christian von Dahlem, der tatsächlich an Luftschlachten teilgenommen hatte. In Timms historischem Roman, der stellenweise einen dokumentarischen Anspruch erheben kann, ist Dahlem die auffälligste erfundene Figur: eine mythische Gestalt, ein moderner, problematischer Halbgott, die Verkörperung der Bestimmung im Leben der Marga von Etzdorf, als die sie die Fliegerei erkannte. Zum Unterpfand der Verbindung, welche die Etzdorf und Dahlem in der ersten Nacht in Japan eingehen, als sie einander, von einer Stoffwand getrennt, ihre Lebensgeschichten erzählen, wird ein Zigarettenetui. Es hatte Dahlem bei einem Luftkampf das Leben gerettet. Vollendet wird das Bild der unpreußischen Lässigkeit, das der Amerikaner abgegeben hatte, durch die Zigarette.
Dahlem hat das im Krieg erlernte Fliegen nicht zum Beruf gemacht. So hätte eine Liebesbeziehung zur Voraussetzung, dass er die Vertauschung der Geschlechterrollen akzeptieren müsste. Marga von Etzdorf erzählt, indem sie unter dem Sternenhimmel der Wüste Heines "Abenddämmerung" aufsagt, alles über sich: Seit jeher sah sie sich in ihren Sagen und Märchen als Knabe.
In den im Roman nicht zitierten Versen des Gedichts wird das Wellenrauschen am Strand beschworen, das dem Dichter die Erzählungen der Sommerabende ins Gedächtnis ruft: "Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, / Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, / Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen". Diese Verse verweisen auf die Poetik des Romans, dessen Form der Autor mit einer musikalischen Gattung verglichen hat: dem Oratorium. Die Stimme Marga von Etzdorfs, die sich am 28. Mai 1933 nach der Landung in Aleppo erschossen hat und auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben wurde, wechselt sich ab mit den Stimmen anderer historischer Persönlichkeiten, deren Gräber sich auf demselben Friedhof finden beziehungsweise, wie im Fall von Reinhard Heydrich, gerade nicht mehr finden.
Da das seltsame Geräusch, das dem Ich-Erzähler in die Ohren steigt, als er unter dem Geleit eines Fremdenführers über den Friedhof wandert, nicht aus dem Wasser kommt, sondern aus der Erde, einer Erde, in die Massenmörder mit größtem Pomp und Zufallsopfer des Endkampfs um Berlin ohne Zeremoniell versenkt worden sind, mischen sich ins Murmeln, Seufzen und Sausen unheimlichere Töne, ein Röcheln und Gurgeln, ist das Lachen ein Scheppern und Meckern. Die Rezitation der Rezitation der "Abenddämmerung" ruft in der Totenstadt das Gezeter eines Nachbarn hervor: "Was ist das für ein Gejüdel. Is doch von Heine, gell?" Unfriedlich liegen Helden, Versager und Verbrecher beieinander, an letzte Ruhe ist nicht zu denken.
Uwe Timm hat eine Welt erhebender und abschreckender Erzählungen ausgegraben, den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums. Wie über diese Lebensform zu richten ist, die uns ferner gerückt ist als je eine mythische Vorzeit, das gibt die überaus kunstvolle, dabei bewundernswert ökonomische und insofern urpreußische Machart der Stimmencollage nicht vor. Können wir dem kurzen Leben der Langstreckenfliegerin mit dem gewaltsamen Ende im Jahre des Unheils eine Bedeutung in der Erzählung unserer Nationalgeschichte zuweisen?
Der spanische Hauptmann, der Heine zu hören wünschte, hatte Marga von Etzdorf ein Gedicht von Federico García Lorca mit dem Titel "Memento" vorgetragen. "Ich hörte die Sprache, die Melodie, ohne zu verstehen, und doch verstand ich. Ein Gedicht, in dem der Tod aufgehoben war, aufgehoben im Klang." Die zweite Strophe lautet: "Wenn ich dereinst sterbe / zwischen den Orangen / und den guten Minzen." Die Fliegerin hatte den Soldaten Orangen mitgebracht. Die dritte Strophe: "Wenn ich dereinst sterbe, / dann begrabt mich, wenn ihr wollt, / in einer Wetterfahne."
Marga von Etzdorf verursacht in Aleppo eine Bruchlandung, weil sie mit dem Wind statt gegen den Wind landet. Der französische Kommandant des Flughafens versucht sie zu trösten. "Er zeigt auf den Windsack, um deutlich zu machen, der Windsack war sichtbar und vorschriftsmäßig angebracht." So subtil und diskret ist dieser bewegende Roman gearbeitet.
PATRICK BAHNERS
Uwe Timm: "Halbschatten". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 270 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem bewundernswert kunstvollen Roman über die Fliegerin Marga von Etzdorf hebt Uwe Timm den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums.
Etwa in der Mitte seines Romans "Halbschatten" lässt Uwe Timm die Fliegerin Marga von Etzdorf davon erzählen, wie sie 1930 bei einem Spaziergang in der nordafrikanischen Wüste von zwei spanischen Offizieren gebeten worden sei, ein deutsches Gedicht aufzusagen. "Und als ich fragte, von welchem deutschen Dichter, antworteten beide wie aus einem Munde: Heine." Aus dem Gedicht "Abenddämmerung" aus dem "Buch der Lieder" zitiert der Roman die letzten zehn Verse, deren erste drei lauten: "Wenn wir am Sommerabend, / Auf den Treppensteinen der Haustür, / Zum stillen Erzählen niederkauerten".
Im zitierten Teil des Gedichts bleibt implizit, was vorher ausgesprochen worden ist: dass das Ich des Gedichts ein männliches ist. Der Dichter erzählt, was er "einst, als Knabe, / Von Nachbarskindern vernahm": Sagen und Märchen. Die Wahl dieses Gedichts sagt etwas über die Frau aus, die es rezitiert, und über den Roman, in dem es zitiert wird. Bei Marga von Etzdorf, die in der Luft singt und sich Gedichte von Heine und Eichendorff aufsagt, sind es Erzählungen aus der Kindheit, die, ihren Erzählungen zufolge, ihr den Berufswunsch der Fliegerin eingegeben haben.
Auf dem Landgut der Großeltern tauchte eines Tages ein Amerikaner auf, der ihr als Erster vom Fliegen erzählte. Er war im Krieg zum Piloten ausgebildet worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Noch bevor aber die Rede auf diese Himmelsabenteuer des Gastes kam, hatte er die fünfzehnjährige Marga und ihre Schwester schon fasziniert allein durch die Art, wie er sich bewegte. Timms Roman ist ein Gewebe aus Erzählungen. Alles, was der Roman erzählt, wird schon als Erzähltes wiedergegeben, in der Regel durch eine Kette von Erzählerfiguren vermittelt. Aber jeder Erzählung ging ein sinnliches Erlebnis voraus, das kein Erzähler vorweggenommen hatte, ein unvermittelt eintretendes Ereignis. Wie der junge Amerikaner dastand in der Halle des Gutshauses, "ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche", war er "tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt". Er hatte den Auftritt einer sagenhaften Gestalt. Deshalb konnte sich an den unangemeldeten Besucher im Gedächtnis der Schwestern eine legendäre Überlieferung knüpfen.
Als Marga von Etzdorf 1931 nach ihrem Rekordflug japanischen Boden betrat, erwartete sie ein Wiedergänger des Kindheitshelden, der Diplomat Christian von Dahlem, der tatsächlich an Luftschlachten teilgenommen hatte. In Timms historischem Roman, der stellenweise einen dokumentarischen Anspruch erheben kann, ist Dahlem die auffälligste erfundene Figur: eine mythische Gestalt, ein moderner, problematischer Halbgott, die Verkörperung der Bestimmung im Leben der Marga von Etzdorf, als die sie die Fliegerei erkannte. Zum Unterpfand der Verbindung, welche die Etzdorf und Dahlem in der ersten Nacht in Japan eingehen, als sie einander, von einer Stoffwand getrennt, ihre Lebensgeschichten erzählen, wird ein Zigarettenetui. Es hatte Dahlem bei einem Luftkampf das Leben gerettet. Vollendet wird das Bild der unpreußischen Lässigkeit, das der Amerikaner abgegeben hatte, durch die Zigarette.
Dahlem hat das im Krieg erlernte Fliegen nicht zum Beruf gemacht. So hätte eine Liebesbeziehung zur Voraussetzung, dass er die Vertauschung der Geschlechterrollen akzeptieren müsste. Marga von Etzdorf erzählt, indem sie unter dem Sternenhimmel der Wüste Heines "Abenddämmerung" aufsagt, alles über sich: Seit jeher sah sie sich in ihren Sagen und Märchen als Knabe.
In den im Roman nicht zitierten Versen des Gedichts wird das Wellenrauschen am Strand beschworen, das dem Dichter die Erzählungen der Sommerabende ins Gedächtnis ruft: "Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, / Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, / Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen". Diese Verse verweisen auf die Poetik des Romans, dessen Form der Autor mit einer musikalischen Gattung verglichen hat: dem Oratorium. Die Stimme Marga von Etzdorfs, die sich am 28. Mai 1933 nach der Landung in Aleppo erschossen hat und auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben wurde, wechselt sich ab mit den Stimmen anderer historischer Persönlichkeiten, deren Gräber sich auf demselben Friedhof finden beziehungsweise, wie im Fall von Reinhard Heydrich, gerade nicht mehr finden.
Da das seltsame Geräusch, das dem Ich-Erzähler in die Ohren steigt, als er unter dem Geleit eines Fremdenführers über den Friedhof wandert, nicht aus dem Wasser kommt, sondern aus der Erde, einer Erde, in die Massenmörder mit größtem Pomp und Zufallsopfer des Endkampfs um Berlin ohne Zeremoniell versenkt worden sind, mischen sich ins Murmeln, Seufzen und Sausen unheimlichere Töne, ein Röcheln und Gurgeln, ist das Lachen ein Scheppern und Meckern. Die Rezitation der Rezitation der "Abenddämmerung" ruft in der Totenstadt das Gezeter eines Nachbarn hervor: "Was ist das für ein Gejüdel. Is doch von Heine, gell?" Unfriedlich liegen Helden, Versager und Verbrecher beieinander, an letzte Ruhe ist nicht zu denken.
Uwe Timm hat eine Welt erhebender und abschreckender Erzählungen ausgegraben, den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums. Wie über diese Lebensform zu richten ist, die uns ferner gerückt ist als je eine mythische Vorzeit, das gibt die überaus kunstvolle, dabei bewundernswert ökonomische und insofern urpreußische Machart der Stimmencollage nicht vor. Können wir dem kurzen Leben der Langstreckenfliegerin mit dem gewaltsamen Ende im Jahre des Unheils eine Bedeutung in der Erzählung unserer Nationalgeschichte zuweisen?
Der spanische Hauptmann, der Heine zu hören wünschte, hatte Marga von Etzdorf ein Gedicht von Federico García Lorca mit dem Titel "Memento" vorgetragen. "Ich hörte die Sprache, die Melodie, ohne zu verstehen, und doch verstand ich. Ein Gedicht, in dem der Tod aufgehoben war, aufgehoben im Klang." Die zweite Strophe lautet: "Wenn ich dereinst sterbe / zwischen den Orangen / und den guten Minzen." Die Fliegerin hatte den Soldaten Orangen mitgebracht. Die dritte Strophe: "Wenn ich dereinst sterbe, / dann begrabt mich, wenn ihr wollt, / in einer Wetterfahne."
Marga von Etzdorf verursacht in Aleppo eine Bruchlandung, weil sie mit dem Wind statt gegen den Wind landet. Der französische Kommandant des Flughafens versucht sie zu trösten. "Er zeigt auf den Windsack, um deutlich zu machen, der Windsack war sichtbar und vorschriftsmäßig angebracht." So subtil und diskret ist dieser bewegende Roman gearbeitet.
PATRICK BAHNERS
Uwe Timm: "Halbschatten". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 270 S., geb., 18,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Laut Paul Jandl sei Uwe Timm mit seinem Roman "Halbschatten" viele Wagnisse eingegangen, die am Ende nicht aufgehen. Es geht um Begegnungen eines allwissenden Erzählers mit Toten des Berliner Invalidenfriedhofs. Der ästhetische Anspruch Timms, die Geister der Zeit 1933 bis 1945 heraufzubeschwören und selbst den widerlichsten Nazigrößen eine eigene Stimme zu verleihen, scheitert für Jandl an der Diffusität der Stimmen und der Verbindungslosigkeit der Geschichten. Was fehlt, ist Timms "eigener Ton" zwischen den etwas überwältigenden Bruchstücken. Da wundert es nicht, dass für Jandl die "leichtfüßig geschriebene Hommage" an die deutsche Fliegerin Marga von Etzdorf zum dominanteren Erzählstrang wird und diese Romanze die restlichen Erzählungen in den Schatten stellt. Die Geschichte um Etzdorf sei zwar fiktionalisiert, gibt aber einen Eindruck von Timms "genauem Blick". Konfrontationen mit deutscher Vergangenheit sähen trotzdem anders aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Uwe Timm inszeniert technisch virtuos einen gezielten Zusammenprall von Geisteshaltungen.« Christoph Schröder taz