Josefin ist eine von der Sorte Ich verlass mich auf dich. Eine, die angerufen wird, wenn sonst keiner Zeit hat. Die nur aus Versehen mitfotografiert wird. Als Hanna neu in ihre Klasse kommt, hofft Josefin, endlich eine Freundin zu finden. Aber Hanna verhält sich seltsam, ganz so, als sei sie schon fast wieder weg. Sie ist still und abweisend, in sich selbst verborgen. Als sich die beiden Mädchen wider Erwarten doch anfreunden, wird Josefin klar, dass mit Hanna etwas nicht stimmt. Ist sie in Gefahr? Muss sie beschützt werden? Und ist Hanna am Ende gar nicht die, für die sie sich ausgibt?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2022Dreizehn Millionen Arten, den Regen zu beschreiben
Susan Kreller erzählt von einer schweigsamen Freundschaft und fragt, wer die Bösen sind in einem Kinderleben
"Ihre Tochter kann gar nichts geklaut haben. Ihre Tochter benutzt nämlich nie Nagellack." Damit ist auf Seite 28 schon fast alles gesagt. Dass die Eltern offenbar gar nichts wissen über die Lage ihrer Tochter, nichts wissen wollen. Dass der Diebstahl von gleich zehn Fläschchen Nagellack im Supermarkt zwangsläufig entdeckt werden muss und deshalb sehr wahrscheinlich weniger dämlich als Absicht ist. Dass Josefin keine Ahnung hat, wer ihre neue Klassenkameradin ist - aber doch sehr viel über sie weiß. Dass dieses andere Mädchen wiederum vielleicht auch deshalb ein hohes Risiko eingeht. Sie versucht, so etwas wie eine Schulfreundin von Josefin zu werden. Ein Posten, der seit Langem unbesetzt ist. Da haben sich zwei gefunden. Womöglich sogar gesucht.
Es ist eine sehr vorsichtige und schroffe Annäherung, von der Susan Kreller in "Hannas Regen" erzählt. Und zugleich erzählt sie von einem wachsenden Befremden, denn schon in der Beobachtung dieses Regens, ganz zu Beginn, fällt der Icherzählerin Josefin auf, was an Hanna, der Neuen, nicht stimmt. Sie weicht den Tropfen nicht aus. Von den dreizehn Millionen Arten, durch den Regen zu gehen, wählt sie diejenige, in der sie untertaucht.
Josefin hingegen ist das Mädchen, das jeder übersieht. Sie hat keine Freunde, keinen Spitznamen, ihre Kleidung ist so fad, dass man durch sie hindurchsehen kann. Josefin weiß das - von sonderlich großen Änderungsanstrengungen erzählt sie nicht. Überhaupt sind Josefin und die ganze Familie, die Kreller komponiert, von einer bemerkenswerten Gelassenheit, was ihre Außenwirkung betrifft - sogar schon die auf die eigenen Familienmitglieder. Die Verschrobenheiten des Lehrer-Vaters und der Mutter, deren Hauptmerkmal Meinungsfreude und mangelhafte Kochkünste sind, werden allerdings reichlich ausgemalt. Überhaupt droht im Lauf des Romans dieser Beschreibungsüberschuss, der auf Personen und Situationen niederfällt wie Hannas Regen, bisweilen in einen Überdruss zu führen. Josefin breitet zweifelsohne ein sehr reiches Inneres und die Gabe zur poetisierenden Beobachtung vor uns aus - und sie muss es auch für jenes Mädchen tun, das ihr nah und näher kommt, ohne dass irgendetwas ausgebreitet würde. "Manchmal, da geht jemand neben dir", sagt Josefin, "und keiner sagt was, keiner fragt was, trotzdem ist es so, als wäre jeder Schritt ein Wort und der Weg, den man geht, eine ganze Sprache." Es ist an Josefin, dieser schweigenden, rätselhaften Freundschaft Worte zu verleihen.
Warum ist das Einzige, was Hanna wie einen Schatz mit sich herumschleppt, ein alter Bildband über gotische Kirchen? Wieso reagiert sie nicht, wenn man sie ruft? Warum darf der Fotograf der Lokalzeitung weder sie noch ihre Mutter auf Gruppenbildern zeigen? Josefins Mutter tippt auf ein Zeugenschutzprogramm und scheint mit dieser Meinung nicht hinterm Berg zu halten.
Kreller, 1977 in Plauen geboren, weitet mit der Schilderung des Gerüchts, das die Runde macht, ihre Erzählung in die Schilderung einer deutschen Kleinstadt, deren Infrastruktur zerbröselt, deren Bürger abhängig sind vom einzigen Großunternehmen, das sich wie eine Krake angesiedelt hat und Halbleiter produziert, während andere Kraken den Leerstand der Stadt aufkaufen und die Prachtbauten von einst, wie Josefins und Hannas Lieblingsort, das Planetarium, verfallen. Und das Mitleid der Leute mit dem Kind undercover führt zu kuriosen Situationen. Für Hanna aber auch dazu, ein winziges bisschen von Zugehörigkeit zu erhaschen, die ihr verboten ist.
Dort aber zieht Kreller einen weiteren Kippmoment ein. Die Autorin, die vor einem Jahrzehnt mit "Elefanten sieht man nicht" debütiert hat und für "Schneeriese" 2015 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden ist, nimmt sich Zeit, das aufzubauen, und bleibt ihren Themen treu. Es gibt Autorinnen, die auf die Z-Frage abonniert sind, darauf, gefragt zu werden, ob man Kindern und Jugendlichen solch schwere Themen "zumuten" dürfe. Die Frage verschwindet nicht, auch wenn so viele großartige Bücher ihre Berechtigung widerlegen. Kreller geht es natürlich um Zumutungen - allerdings um solche, die Erwachsene und ihre Welt den Kindern auferlegen. Das ist auch in "Hannas Regen" so.
Christian Petzolds Film "Die innere Sicherheit" hat sich vor mehr als 20 Jahren damit auseinandergesetzt, was passieren kann, wenn Terroristen untertauchen und ein vermeintlich normales Leben zu führen versuchen. Bei Petzold war Dreh- und Angelpunkt das Kind. Das, was eigentlich nicht sein darf in einer Terroristenbiographie. Die Familie, die früher in Schulbüchern den Titel "Keimzelle der Gesellschaft" trug, Vater, Mutter, Kind, als Vereinbarung von Sorge, aus der sich Gemeinwesen ableitet, ist im Grunde das Gegenteil von dem, was das Tun der Eltern erreichen will: Kappen tradierter Bindungen, Auslöschung von Gewissheiten, Erschütterung des Systems. Was wenn unter solchen Prämissen Vater, Mutter, Kind, stets auf der Flucht, nur aufeinander bezogen sind? Wissensvorsprünge und Kenntnislücken, weit mehr als ohnehin schon üblich, prägen eine Adoleszenz, in der ein Mädchen, bei Petzold hieß sie Jeanne, sich nichts sehnlicher wünscht als Normalität.
Bei Susan Kreller heißt das Mädchen Hanna. Jedenfalls über die wenigen Wochen, die sie da ist. Sehr schnell kommt auch den Lesern in den Sinn, dass die wahrscheinlichste Erklärung für ihr Nie-angesprochen-Sein, wenn ihr Name genannt wird, darin liegen könnte, dass es gar nicht ihrer ist. Doch warum ist das so? Während sich die Legende einer Opfer-Familie bildet, die von der Polizei geschützt wird, wirft das Verhalten von Hanna und ihren Eltern nicht nur für Josefin umso größere Rätsel auf. Ob die Eltern das, was sie tun, zu einem vermeintlich höheren Zweck tun oder aus schlichter Raffgier, wird nicht erzählt, es ist auch nicht nötig. Im Rückblick entfaltet das moralische Dilemma, in dem Hanna steckt, seine ganze Wirkung. Und im Ausblick, auf schweigsame Telefonate von zweien, die einander ohne Worte verstehen, liegt ein bisschen widerspenstige Hoffnung. EVA-MARIA MAGEL
Susan Kreller: "Hannas Regen". Roman.
Carlsen Verlag, Hamburg 2022. 192 S., geb., 15,- Euro. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Susan Kreller erzählt von einer schweigsamen Freundschaft und fragt, wer die Bösen sind in einem Kinderleben
"Ihre Tochter kann gar nichts geklaut haben. Ihre Tochter benutzt nämlich nie Nagellack." Damit ist auf Seite 28 schon fast alles gesagt. Dass die Eltern offenbar gar nichts wissen über die Lage ihrer Tochter, nichts wissen wollen. Dass der Diebstahl von gleich zehn Fläschchen Nagellack im Supermarkt zwangsläufig entdeckt werden muss und deshalb sehr wahrscheinlich weniger dämlich als Absicht ist. Dass Josefin keine Ahnung hat, wer ihre neue Klassenkameradin ist - aber doch sehr viel über sie weiß. Dass dieses andere Mädchen wiederum vielleicht auch deshalb ein hohes Risiko eingeht. Sie versucht, so etwas wie eine Schulfreundin von Josefin zu werden. Ein Posten, der seit Langem unbesetzt ist. Da haben sich zwei gefunden. Womöglich sogar gesucht.
Es ist eine sehr vorsichtige und schroffe Annäherung, von der Susan Kreller in "Hannas Regen" erzählt. Und zugleich erzählt sie von einem wachsenden Befremden, denn schon in der Beobachtung dieses Regens, ganz zu Beginn, fällt der Icherzählerin Josefin auf, was an Hanna, der Neuen, nicht stimmt. Sie weicht den Tropfen nicht aus. Von den dreizehn Millionen Arten, durch den Regen zu gehen, wählt sie diejenige, in der sie untertaucht.
Josefin hingegen ist das Mädchen, das jeder übersieht. Sie hat keine Freunde, keinen Spitznamen, ihre Kleidung ist so fad, dass man durch sie hindurchsehen kann. Josefin weiß das - von sonderlich großen Änderungsanstrengungen erzählt sie nicht. Überhaupt sind Josefin und die ganze Familie, die Kreller komponiert, von einer bemerkenswerten Gelassenheit, was ihre Außenwirkung betrifft - sogar schon die auf die eigenen Familienmitglieder. Die Verschrobenheiten des Lehrer-Vaters und der Mutter, deren Hauptmerkmal Meinungsfreude und mangelhafte Kochkünste sind, werden allerdings reichlich ausgemalt. Überhaupt droht im Lauf des Romans dieser Beschreibungsüberschuss, der auf Personen und Situationen niederfällt wie Hannas Regen, bisweilen in einen Überdruss zu führen. Josefin breitet zweifelsohne ein sehr reiches Inneres und die Gabe zur poetisierenden Beobachtung vor uns aus - und sie muss es auch für jenes Mädchen tun, das ihr nah und näher kommt, ohne dass irgendetwas ausgebreitet würde. "Manchmal, da geht jemand neben dir", sagt Josefin, "und keiner sagt was, keiner fragt was, trotzdem ist es so, als wäre jeder Schritt ein Wort und der Weg, den man geht, eine ganze Sprache." Es ist an Josefin, dieser schweigenden, rätselhaften Freundschaft Worte zu verleihen.
Warum ist das Einzige, was Hanna wie einen Schatz mit sich herumschleppt, ein alter Bildband über gotische Kirchen? Wieso reagiert sie nicht, wenn man sie ruft? Warum darf der Fotograf der Lokalzeitung weder sie noch ihre Mutter auf Gruppenbildern zeigen? Josefins Mutter tippt auf ein Zeugenschutzprogramm und scheint mit dieser Meinung nicht hinterm Berg zu halten.
Kreller, 1977 in Plauen geboren, weitet mit der Schilderung des Gerüchts, das die Runde macht, ihre Erzählung in die Schilderung einer deutschen Kleinstadt, deren Infrastruktur zerbröselt, deren Bürger abhängig sind vom einzigen Großunternehmen, das sich wie eine Krake angesiedelt hat und Halbleiter produziert, während andere Kraken den Leerstand der Stadt aufkaufen und die Prachtbauten von einst, wie Josefins und Hannas Lieblingsort, das Planetarium, verfallen. Und das Mitleid der Leute mit dem Kind undercover führt zu kuriosen Situationen. Für Hanna aber auch dazu, ein winziges bisschen von Zugehörigkeit zu erhaschen, die ihr verboten ist.
Dort aber zieht Kreller einen weiteren Kippmoment ein. Die Autorin, die vor einem Jahrzehnt mit "Elefanten sieht man nicht" debütiert hat und für "Schneeriese" 2015 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden ist, nimmt sich Zeit, das aufzubauen, und bleibt ihren Themen treu. Es gibt Autorinnen, die auf die Z-Frage abonniert sind, darauf, gefragt zu werden, ob man Kindern und Jugendlichen solch schwere Themen "zumuten" dürfe. Die Frage verschwindet nicht, auch wenn so viele großartige Bücher ihre Berechtigung widerlegen. Kreller geht es natürlich um Zumutungen - allerdings um solche, die Erwachsene und ihre Welt den Kindern auferlegen. Das ist auch in "Hannas Regen" so.
Christian Petzolds Film "Die innere Sicherheit" hat sich vor mehr als 20 Jahren damit auseinandergesetzt, was passieren kann, wenn Terroristen untertauchen und ein vermeintlich normales Leben zu führen versuchen. Bei Petzold war Dreh- und Angelpunkt das Kind. Das, was eigentlich nicht sein darf in einer Terroristenbiographie. Die Familie, die früher in Schulbüchern den Titel "Keimzelle der Gesellschaft" trug, Vater, Mutter, Kind, als Vereinbarung von Sorge, aus der sich Gemeinwesen ableitet, ist im Grunde das Gegenteil von dem, was das Tun der Eltern erreichen will: Kappen tradierter Bindungen, Auslöschung von Gewissheiten, Erschütterung des Systems. Was wenn unter solchen Prämissen Vater, Mutter, Kind, stets auf der Flucht, nur aufeinander bezogen sind? Wissensvorsprünge und Kenntnislücken, weit mehr als ohnehin schon üblich, prägen eine Adoleszenz, in der ein Mädchen, bei Petzold hieß sie Jeanne, sich nichts sehnlicher wünscht als Normalität.
Bei Susan Kreller heißt das Mädchen Hanna. Jedenfalls über die wenigen Wochen, die sie da ist. Sehr schnell kommt auch den Lesern in den Sinn, dass die wahrscheinlichste Erklärung für ihr Nie-angesprochen-Sein, wenn ihr Name genannt wird, darin liegen könnte, dass es gar nicht ihrer ist. Doch warum ist das so? Während sich die Legende einer Opfer-Familie bildet, die von der Polizei geschützt wird, wirft das Verhalten von Hanna und ihren Eltern nicht nur für Josefin umso größere Rätsel auf. Ob die Eltern das, was sie tun, zu einem vermeintlich höheren Zweck tun oder aus schlichter Raffgier, wird nicht erzählt, es ist auch nicht nötig. Im Rückblick entfaltet das moralische Dilemma, in dem Hanna steckt, seine ganze Wirkung. Und im Ausblick, auf schweigsame Telefonate von zweien, die einander ohne Worte verstehen, liegt ein bisschen widerspenstige Hoffnung. EVA-MARIA MAGEL
Susan Kreller: "Hannas Regen". Roman.
Carlsen Verlag, Hamburg 2022. 192 S., geb., 15,- Euro. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass Jugendbücher sich vor komplizierten Themen nicht scheuen müssen, sieht Rezensentin Eva-Maria Magel in "Hannas Regen". Die Geschichte von Fragen der Identität und Zugehörigkeit, aber auch von der Bedeutung von Freundschaft leidet Nagel zufolge gelegentlich unter "Beschreibungsüberschuss", aber sie ist dennoch für die Erzählerin Josefin eingenommen, die sich der rätselhaften - Stichwort: Mögliches Zeugenschutzprogramm? - Hanna annähert. Hanna ist schweigsam, merkwürdig, wirkt befremdlich und befremdet. Josefin versucht dem auf den Grund zu gehen und nähert sich ihrer Freundin und deren Familie. Diese mit "widerspenstiger Hoffnung" angereicherten Passagen gefallen der Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das Buch entwickelt [...] eine Spannung und Intensität, der man sich nur schwer entziehen kann." Michael Ritter GEW aktuell - Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft 20230901