Nach seinem gefeierten Debüt Aus dem Dachsbau, das mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden ausgezeichnet wurde, erzählt TOCOTRONIC-Sänger Dirk von Lowtzow von einem Jahr des äußeren Stillstands und der inneren Aufruhr. Musiker:innen treten nicht mehr auf, Alben werden verschoben, Galerien, Kinos und Museen geschlossen, die Menschen sind auf die eigenen vier Wände und sich selbst zurückgeworfen. Dirk von Lowtzow inspiziert die Kunst- und Kulturszene im Stillstand, ein Leben ohne Publikum. Er flüchtet sich aufs Land, streunt über Wiesen, folgt dem Zufall und findet Wahrhaftiges. Er kartiert Wünsche, kämpft gegen Dämonen und sucht Trost in Kunst, Literatur, Filmen. Während die Außenwelt auf wenige Orte reduziert wird, spielen sich zwischen den Fugen und Ritzen der von Lowtzow'schen Wohnung wahre Phantasmagorien ab. Was den Anschein eines Tagebuches hat, verwandelt sich in so heitere wie melancholische, in so präzise wie poetische Literatur. Dirk von Lowtzow nimmt uns mit in eine Welt, die auch die unsrige ist - und doch eine andere.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Dirk von Lowtzow hat sich im Corona-Lockdown ein Jahr lang Zeit genommen, Erlebnisse und Skizzen aus der Zeit festzuhalten und zu einem Buch zu verarbeiten: "wie ein Mann zerfällt" ist das Thema, schreibt der angetane Rezensent Guido Graf. Vom neusten Album seiner Band Tocotronic, von der Angst vor dem Altern, aber auch von einem magisch-verwunschenen Teddybären, der mit Ausklang des Jahres 2020 wieder verschwindet, schreibt von Lowtzow hier, weiß der Kritiker. Berührt ist er vor allem davon, wie der Autor versucht, sich selbst wie von außen zu betrachten und dieses Ziel im Schreiben auch erreicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2023Tanz den Saugroboter
In seinem Tagebuchroman „Ich tauche auf“ erzählt der Musiker Dirk von Lowtzow aus seinem Lockdown in der Pandemie.
Bei aller Trübnis: Dieses Leben scheint zumutbar zu sein
VON JOACHIM HENTSCHEL
Am 18. Januar 2021 hat Dirk von Lowtzows lyrisches Ich einen Termin beim Osteopathen in Berlin-Mitte. Es geht um die chronischen Rückenschmerzen, und dieses Mal versucht der Arzt es mit einer Stoßwellentherapie. Ein leicht bedrohlicher Apparat erzeugt elektromagnetische Impulse, die über eine Schlauchfortsatz in Lowtzows Muskelfleisch geleitet werden. Hilfreich soll es sein, aber der Sänger, Autor und Patient fühlt sich dabei wie im Schauerkino. „Ich bin die Braut von Frankenstein“, notiert er später, „Blitze zucken.“ Eine Anspielung auf einen alten, romantischen Film, der laut FSK frei ab zwölf ist.
Während er so daliegt, schaut er durchs Fenster. Und erkennt unweit der Praxis das Haus, in dem der große Schriftsteller, Filmemacher und Rebell Thomas Brasch seine letzten Jahre verlebte. Auf einmal spürt der Erzähler Komplizenschaft. „Vermutlich geistert er in diesem Augenblick durch die Zimmer“, fantasiert er über Brasch, als die Wellen durch seinen Körper wummern, „und zwinkert mir durch das Erkerfenster zu.“
Die Szene aus Dirk von Lowtzows neuem Tagebuchroman „Ich tauche auf“ symbolisiert ganz gut, worum dieses Buch sich dreht und windet: um die Momente, in denen sich der irdische Alltag und die Phantasmagorie auf engstem Raum treffen, das harmlos Vertraute und das Unheimliche. Vor allem natürlich: das Banale und die Poesie. Wie es in literarischen Tagebüchern nun mal zugeht, sonst hätten auch Virginia Woolf, Walter Kempowski, Fritz J. Raddatz oder Heinz Strunk nie welche schreiben müssen.
Was wichtig ist bei Lowtzow: Überall sind Gespenster. Und wenn in „Ich tauche auf“ nicht gerade ein verstorbener Schriftsteller oder irgendeine andere Spukgestalt umhergeistert, tut der Protagonist es einfach selbst. Die Einträge decken ein Jahr ab, vom 21. März 2020 bis 2021, die zwölf Monate zwischen dem 49. und 50. Geburtstag des Autors. Zugleich die Zeit, in der sich die meisten weltweit an die Umstände der Pandemie gewöhnen mussten. Für Dirk von Lowtzow bedeuteten sie unter anderem, dass die Band Tocotronic, als deren Sänger und Songschreiber er seit den späten 90ern berühmt und meistens brillant ist, ihre Konzerte mehrfach verschieben musste. Dazu die Veröffentlichung des Albums „Nie wieder Krieg“, das letztlich im Januar 2022 herauskam und wie ein Menetekel für den russischen Angriff auf die Ukraine gehört wurde. Obwohl die Lieder ja seit anderthalb Jahren fertig in der Schatulle gelegen hatten.
„Ich habe dich noch nie gesehen, oben bei den Lebewesen“, singt Lowtzow auf dem Album, im fantastischen, ebenfalls recht geisterhaften Song „Ich tauche auf“, der dem Buch den Titel gab. Das ist die Musik dazu, ein Liebeslied, doch der gleichnamige Roman will natürlich mehr. Da soll es ums Versinken in parallelen Realitäten gehen, um die Rückkehr zur Hoffnung und zum Sauerstoff, alles unter den erschwerten Umständen der Pandemie. Zeit zur ungestörten Selbstbeschau bot sie ja reichlich, zumindest allen, die nicht das Pech hatten, Nachtdienst auf der Intensivstation leisten zu müssen.
Schon am Anfang der Krise gab es den Running Gag: Gnade uns Gott, wenn bald die ganzen Corona-Tagebücher kommen! Gemessen daran, welche enervierenden belletristischen Blüten die Menschheitsthemen Kinderkriegen, Landleben oder Ernährungsumstellung immer noch regelmäßig treiben, kamen wir beim Thema Pandemie aber relativ glimpflich davon. Erfreuliche Leute wie Marlene Streeruwitz, Peter Stamm oder Dorothee Elmiger schrieben erst mal nur online, und das bisschen Comedy aus der Spiegel-Bestsellerliste war zu verkraften. Lowtzow ist nun etwas spät dran, ab und zu fällt es auf, wenn er längst überholte Phänomenologien herleitet.
Aber das ist hier das kleinste Problem. Wie verbringt der Künstler nun die gefrorene Zeit, was selektiert er für seinen Text? Zwischen den Arztbesuchen unternimmt Dirk von Lowtzow viele Spaziergänge, allein, mit Freundinnen und Freunden. Er reist ins Brandenburgische, zum Zweitwohnsitz in Buckow, nach Hamburg oder Sylt. Nimmt mit den Bandgenossen die Platte auf, gibt Interviews. Besucht Ausstellungen, spielt beim Dreh eines großen Kinofilms mit, streitet und versöhnt sich. Immer wieder wird er nachts wach, fühlt Anfälle großer Schwermut, die besagte Schere zwischen Stoßwellenschmerz und Verzückung. Schaut dem heimischen Saugroboter zu und fühlt sich beim Gemüsekauf wie ein Alien.
Bei aller Trübnis: Es scheint zumutbar zu sein, dieses Leben. Natürlich darf man Dichtung und Wahrheit nicht verwechseln, aber folgt man den Aufzeichnungen, scheint Lowtzows Dasein auch im Lockdown noch deutlich bunter, geselliger und intellektuell angeregter zu sein als das, was die meisten Zivilisten so in Freiheit erleben.
Auch das müsste nicht schlimm sein, wenn er hier und da etwas tiefer graben oder – im Sinn des Titels – tauchen würde zwischen all den Feststellungen und Status-Updates, selbstbeobachteten Befindlichkeiten und manieristischen Bonmots im Stil von Bernhard oder Benjamin. „Sind es die Entscheidungen oder die Antizipation von Entscheidungen, die meine Ängste beeinflussen?“, fragt er am 23. April vielsagend, zimmert am 26. Juli die These: „Dieses Jahrhundert wird das Jahrhundert der Einsamkeit sein.“ Das könnten interessante Stränge sein, an denen man nur ein bisschen ziehen müsste. Doch Lowtzow lässt sie schnell wieder los, macht selbst die größten, gravitationsstärksten Begriffe zu vagen Andeutungen. Ergötzt sich am Nachhall der eigenen Worte und setzt zur Sicherheit lieber den nächsten Absatz, die nächste Leerzeile oder einen koketten Nonsens-Haiku dagegen. Die Miniatur hat er sich hier ja als ästhetisches Bauprinzip selbst eingerichtet. „Wenn das Unkraut verschwindet“, so lautet unvermittelt der Eintrag vom 1. Juli, „wohin flüchten sich die Geisterfüchse in der Nacht?“ Es gibt keine Antwort. Man hätte sie gern, um den armen Tieren nicht versehentlich auf die Geisterschwänze zu treten.
Die Musik seiner Band Tocotronic und Phantom/Ghost ist auch deshalb so großartig, weil Dirk von Lowtzow sich in ihr als Meister der Phrasen und Stimmungen zeigt, der pointierten Grotesken und Verweigerungen, vitriolischen Kinderreime und schwarzromantischen Tintenbilder. Wer das im Vier-Minuten-Format des Popsongs hinbekommt, muss ein hochtalentierter, artikulierter Poseur und Aphoristiker sein. Manchmal auch ein Schaumschläger und Blender. „Neues vom Trickser“ heißt ein berühmtes Lied, natürlich meint er sich selbst damit.
„Aus dem Dachsbau“, Lowtzows erstes Buch von 2019, eine alphabetische Thesen- und Erinnerungssammlung, machte aus den Qualitäten das literarisch Optimale. „Ich tauche auf“ bleibt aber leider auch nach der Lektüre das, was es auf den ersten Querblick zu sein scheint: ein feinmotorisch gestalteter Zettelkasten, der die Magie der Puzzleteile beschwört. Keine wirkliche Erzählung, kein pandemischer Transformationsbericht. Am 25. August liest Lowtzow am Berliner Küchentisch ein Interview mit Maxim Biller. „Tagebuch zu schreiben“, zitiert er ihn daraus, „ist eine beschissene Ich-spiele-Schriftsteller-Show.“ Absatz, Leerzeile. Sich aus der Affäre zu ziehen, das kann er schon. Wahrscheinlich ist Dirk von Lowtzow selbst der Geisterfuchs.
Gnade uns Gott, die
Corona-Tagebücher
kommen!
Beim Gemüsekauf
fühlt er sich
wie ein Alien
Dirk von Lowtzow: „Ich tauche auf“. Tagebuch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 240 Seiten, 22 Euro.
„Wenn das Unkraut verschwindet“, schreibt Dirk von Lowtzow, „wohin flüchten sich die Geisterfüchse in der Nacht?“
Foto: Gloria Endres de Oliveira
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Tagebuchroman „Ich tauche auf“ erzählt der Musiker Dirk von Lowtzow aus seinem Lockdown in der Pandemie.
Bei aller Trübnis: Dieses Leben scheint zumutbar zu sein
VON JOACHIM HENTSCHEL
Am 18. Januar 2021 hat Dirk von Lowtzows lyrisches Ich einen Termin beim Osteopathen in Berlin-Mitte. Es geht um die chronischen Rückenschmerzen, und dieses Mal versucht der Arzt es mit einer Stoßwellentherapie. Ein leicht bedrohlicher Apparat erzeugt elektromagnetische Impulse, die über eine Schlauchfortsatz in Lowtzows Muskelfleisch geleitet werden. Hilfreich soll es sein, aber der Sänger, Autor und Patient fühlt sich dabei wie im Schauerkino. „Ich bin die Braut von Frankenstein“, notiert er später, „Blitze zucken.“ Eine Anspielung auf einen alten, romantischen Film, der laut FSK frei ab zwölf ist.
Während er so daliegt, schaut er durchs Fenster. Und erkennt unweit der Praxis das Haus, in dem der große Schriftsteller, Filmemacher und Rebell Thomas Brasch seine letzten Jahre verlebte. Auf einmal spürt der Erzähler Komplizenschaft. „Vermutlich geistert er in diesem Augenblick durch die Zimmer“, fantasiert er über Brasch, als die Wellen durch seinen Körper wummern, „und zwinkert mir durch das Erkerfenster zu.“
Die Szene aus Dirk von Lowtzows neuem Tagebuchroman „Ich tauche auf“ symbolisiert ganz gut, worum dieses Buch sich dreht und windet: um die Momente, in denen sich der irdische Alltag und die Phantasmagorie auf engstem Raum treffen, das harmlos Vertraute und das Unheimliche. Vor allem natürlich: das Banale und die Poesie. Wie es in literarischen Tagebüchern nun mal zugeht, sonst hätten auch Virginia Woolf, Walter Kempowski, Fritz J. Raddatz oder Heinz Strunk nie welche schreiben müssen.
Was wichtig ist bei Lowtzow: Überall sind Gespenster. Und wenn in „Ich tauche auf“ nicht gerade ein verstorbener Schriftsteller oder irgendeine andere Spukgestalt umhergeistert, tut der Protagonist es einfach selbst. Die Einträge decken ein Jahr ab, vom 21. März 2020 bis 2021, die zwölf Monate zwischen dem 49. und 50. Geburtstag des Autors. Zugleich die Zeit, in der sich die meisten weltweit an die Umstände der Pandemie gewöhnen mussten. Für Dirk von Lowtzow bedeuteten sie unter anderem, dass die Band Tocotronic, als deren Sänger und Songschreiber er seit den späten 90ern berühmt und meistens brillant ist, ihre Konzerte mehrfach verschieben musste. Dazu die Veröffentlichung des Albums „Nie wieder Krieg“, das letztlich im Januar 2022 herauskam und wie ein Menetekel für den russischen Angriff auf die Ukraine gehört wurde. Obwohl die Lieder ja seit anderthalb Jahren fertig in der Schatulle gelegen hatten.
„Ich habe dich noch nie gesehen, oben bei den Lebewesen“, singt Lowtzow auf dem Album, im fantastischen, ebenfalls recht geisterhaften Song „Ich tauche auf“, der dem Buch den Titel gab. Das ist die Musik dazu, ein Liebeslied, doch der gleichnamige Roman will natürlich mehr. Da soll es ums Versinken in parallelen Realitäten gehen, um die Rückkehr zur Hoffnung und zum Sauerstoff, alles unter den erschwerten Umständen der Pandemie. Zeit zur ungestörten Selbstbeschau bot sie ja reichlich, zumindest allen, die nicht das Pech hatten, Nachtdienst auf der Intensivstation leisten zu müssen.
Schon am Anfang der Krise gab es den Running Gag: Gnade uns Gott, wenn bald die ganzen Corona-Tagebücher kommen! Gemessen daran, welche enervierenden belletristischen Blüten die Menschheitsthemen Kinderkriegen, Landleben oder Ernährungsumstellung immer noch regelmäßig treiben, kamen wir beim Thema Pandemie aber relativ glimpflich davon. Erfreuliche Leute wie Marlene Streeruwitz, Peter Stamm oder Dorothee Elmiger schrieben erst mal nur online, und das bisschen Comedy aus der Spiegel-Bestsellerliste war zu verkraften. Lowtzow ist nun etwas spät dran, ab und zu fällt es auf, wenn er längst überholte Phänomenologien herleitet.
Aber das ist hier das kleinste Problem. Wie verbringt der Künstler nun die gefrorene Zeit, was selektiert er für seinen Text? Zwischen den Arztbesuchen unternimmt Dirk von Lowtzow viele Spaziergänge, allein, mit Freundinnen und Freunden. Er reist ins Brandenburgische, zum Zweitwohnsitz in Buckow, nach Hamburg oder Sylt. Nimmt mit den Bandgenossen die Platte auf, gibt Interviews. Besucht Ausstellungen, spielt beim Dreh eines großen Kinofilms mit, streitet und versöhnt sich. Immer wieder wird er nachts wach, fühlt Anfälle großer Schwermut, die besagte Schere zwischen Stoßwellenschmerz und Verzückung. Schaut dem heimischen Saugroboter zu und fühlt sich beim Gemüsekauf wie ein Alien.
Bei aller Trübnis: Es scheint zumutbar zu sein, dieses Leben. Natürlich darf man Dichtung und Wahrheit nicht verwechseln, aber folgt man den Aufzeichnungen, scheint Lowtzows Dasein auch im Lockdown noch deutlich bunter, geselliger und intellektuell angeregter zu sein als das, was die meisten Zivilisten so in Freiheit erleben.
Auch das müsste nicht schlimm sein, wenn er hier und da etwas tiefer graben oder – im Sinn des Titels – tauchen würde zwischen all den Feststellungen und Status-Updates, selbstbeobachteten Befindlichkeiten und manieristischen Bonmots im Stil von Bernhard oder Benjamin. „Sind es die Entscheidungen oder die Antizipation von Entscheidungen, die meine Ängste beeinflussen?“, fragt er am 23. April vielsagend, zimmert am 26. Juli die These: „Dieses Jahrhundert wird das Jahrhundert der Einsamkeit sein.“ Das könnten interessante Stränge sein, an denen man nur ein bisschen ziehen müsste. Doch Lowtzow lässt sie schnell wieder los, macht selbst die größten, gravitationsstärksten Begriffe zu vagen Andeutungen. Ergötzt sich am Nachhall der eigenen Worte und setzt zur Sicherheit lieber den nächsten Absatz, die nächste Leerzeile oder einen koketten Nonsens-Haiku dagegen. Die Miniatur hat er sich hier ja als ästhetisches Bauprinzip selbst eingerichtet. „Wenn das Unkraut verschwindet“, so lautet unvermittelt der Eintrag vom 1. Juli, „wohin flüchten sich die Geisterfüchse in der Nacht?“ Es gibt keine Antwort. Man hätte sie gern, um den armen Tieren nicht versehentlich auf die Geisterschwänze zu treten.
Die Musik seiner Band Tocotronic und Phantom/Ghost ist auch deshalb so großartig, weil Dirk von Lowtzow sich in ihr als Meister der Phrasen und Stimmungen zeigt, der pointierten Grotesken und Verweigerungen, vitriolischen Kinderreime und schwarzromantischen Tintenbilder. Wer das im Vier-Minuten-Format des Popsongs hinbekommt, muss ein hochtalentierter, artikulierter Poseur und Aphoristiker sein. Manchmal auch ein Schaumschläger und Blender. „Neues vom Trickser“ heißt ein berühmtes Lied, natürlich meint er sich selbst damit.
„Aus dem Dachsbau“, Lowtzows erstes Buch von 2019, eine alphabetische Thesen- und Erinnerungssammlung, machte aus den Qualitäten das literarisch Optimale. „Ich tauche auf“ bleibt aber leider auch nach der Lektüre das, was es auf den ersten Querblick zu sein scheint: ein feinmotorisch gestalteter Zettelkasten, der die Magie der Puzzleteile beschwört. Keine wirkliche Erzählung, kein pandemischer Transformationsbericht. Am 25. August liest Lowtzow am Berliner Küchentisch ein Interview mit Maxim Biller. „Tagebuch zu schreiben“, zitiert er ihn daraus, „ist eine beschissene Ich-spiele-Schriftsteller-Show.“ Absatz, Leerzeile. Sich aus der Affäre zu ziehen, das kann er schon. Wahrscheinlich ist Dirk von Lowtzow selbst der Geisterfuchs.
Gnade uns Gott, die
Corona-Tagebücher
kommen!
Beim Gemüsekauf
fühlt er sich
wie ein Alien
Dirk von Lowtzow: „Ich tauche auf“. Tagebuch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 240 Seiten, 22 Euro.
„Wenn das Unkraut verschwindet“, schreibt Dirk von Lowtzow, „wohin flüchten sich die Geisterfüchse in der Nacht?“
Foto: Gloria Endres de Oliveira
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2023Gelandete Aliens
Einen Tag vor dem ersten Corona-Lockdown feiert Dirk von Lowtzow seinen neunundvierzigsten Geburtstag. "Die Tage sind ruhig und gedämpft und das Leben spielt sich unter einer Glocke ab." Der Frontmann der Band Tocotronic schreibt seinen ersten von insgesamt dreihundertsechsundsechzig Tagebucheinträgen. Von Lowtzow arbeitet sich darin an ganz unterschiedlichen Themen ab - Einsamkeit, Alkoholkonsum, Sorge um die Zukunft. Die Notizen sind nun als Buch erschienen, das denselben Titel trägt wie ein Tocotronic-Song: "Ich tauche auf". Der Autor schildert, wie ihn das Nichtstun ermüde, tagsüber lege er sich ins Bett, "nur um gleich wieder aufzustehen und alle Gegenstände in der Wohnung erneut von A nach B zu räumen". Auch an Sentenzen mangelt es nicht: "Es ist schön abzutauchen - wenn man weiß, wann man wieder auftauchen darf."
Von Lowtzow fragt sich, wie man von Nicht-Ereignissen erzählen könne. Eine probate Strategie für ihn ist es, dem Alltag eine Traumwelt gegenüberzustellen. Der Wald im märkischem Buckow wird zum Dschungel, sein Saugroboter kommt ihm vor wie ein "soeben gelandetes Raumschiff"; von Lowtzow wartet nur darauf, "wie außerirdische Besucher, klein wie Schlümpfe, aus dem UFO klettern und unsere Wohnung erobern". Zwar verfügen die Einlassungen zu einzelnen Tagen über so etwas wie eine Dramaturgie. Deren Sog allerdings wird von kurzen Gedichten oder aneinandergereihten Phrasen gleich wieder unterlaufen. Dafür kultiviert Dirk von Lowtzow auf sympathisch selbstkritische Weise Zweifel am eigenen Schreibprojekt. So fühlt sich der Leser in seiner Skepsis bestärkt, wenn es heißt: "Wenn ich diese Aufzeichnungen lese, misstraue ich mir. Zu oft habe ich erlebt, dass ich verschiedenen Leuten gegenüber völlig unterschiedliche Meinungen vertreten habe. Widerworte gebe ich meist nur aus Trotz." CARLOTA BRANDIS
Dirk von Lowtzow:
"Ich tauche auf".
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2023.
240 S., Abb., geb.,
22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einen Tag vor dem ersten Corona-Lockdown feiert Dirk von Lowtzow seinen neunundvierzigsten Geburtstag. "Die Tage sind ruhig und gedämpft und das Leben spielt sich unter einer Glocke ab." Der Frontmann der Band Tocotronic schreibt seinen ersten von insgesamt dreihundertsechsundsechzig Tagebucheinträgen. Von Lowtzow arbeitet sich darin an ganz unterschiedlichen Themen ab - Einsamkeit, Alkoholkonsum, Sorge um die Zukunft. Die Notizen sind nun als Buch erschienen, das denselben Titel trägt wie ein Tocotronic-Song: "Ich tauche auf". Der Autor schildert, wie ihn das Nichtstun ermüde, tagsüber lege er sich ins Bett, "nur um gleich wieder aufzustehen und alle Gegenstände in der Wohnung erneut von A nach B zu räumen". Auch an Sentenzen mangelt es nicht: "Es ist schön abzutauchen - wenn man weiß, wann man wieder auftauchen darf."
Von Lowtzow fragt sich, wie man von Nicht-Ereignissen erzählen könne. Eine probate Strategie für ihn ist es, dem Alltag eine Traumwelt gegenüberzustellen. Der Wald im märkischem Buckow wird zum Dschungel, sein Saugroboter kommt ihm vor wie ein "soeben gelandetes Raumschiff"; von Lowtzow wartet nur darauf, "wie außerirdische Besucher, klein wie Schlümpfe, aus dem UFO klettern und unsere Wohnung erobern". Zwar verfügen die Einlassungen zu einzelnen Tagen über so etwas wie eine Dramaturgie. Deren Sog allerdings wird von kurzen Gedichten oder aneinandergereihten Phrasen gleich wieder unterlaufen. Dafür kultiviert Dirk von Lowtzow auf sympathisch selbstkritische Weise Zweifel am eigenen Schreibprojekt. So fühlt sich der Leser in seiner Skepsis bestärkt, wenn es heißt: "Wenn ich diese Aufzeichnungen lese, misstraue ich mir. Zu oft habe ich erlebt, dass ich verschiedenen Leuten gegenüber völlig unterschiedliche Meinungen vertreten habe. Widerworte gebe ich meist nur aus Trotz." CARLOTA BRANDIS
Dirk von Lowtzow:
"Ich tauche auf".
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2023.
240 S., Abb., geb.,
22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Tocotronic-Sänger führt Tagebuch über ein Jahr zwischen Isolation und Hoffnung. Aus der Sicht eines großen Kindes entdeckt er in seiner Umwelt fantastische Motive und gibt seltene Einblicke in sein Privatleben.« laut.de 20230316