Fesselnder Einstieg in die Welt der griechischen Sagen Der kluge und gütige König Aristeus wusste, dass seine beiden Kinder, seine Frau und alle Leute bei Hofe nichts Schöneres kannten, als Geschichten von fernen Ländern, von Abenteuern und Wundern zu hören, und deshalb hatte er einen blinden Sänger zu sich gerufen, einen jener Geschichtenerzähler, die damals durch die Lande zogen. Jetzt hört die Geschichten, hob der Sänger an, erlaubt, dass ich euch wiederverkünde, was einst mein Vorfahr Homer in unsterblichen Gesängen beschrieben hat. Die ILIAS ist die Geschichte des trojanischen Krieges. Sie erzählt, wie die Griechen das mächtige Troja eroberten und Helena in die Heimat zurückführten. Vom Kampf der Götter und Menschen ist die Rede, von einem schrecklichen Krieg, von Tapferkeit und Tod, von List und Trug, von Güte und Barmherzigkeit. Die Sage vom trojanischen Krieg ist die erste Geschichte Europas, und sie ist immer noch nicht zu Ende erzählt. Die ODYSSEE ist die Sage von einem Manne, der große Taten vollbrachte und ein kluges Herz und einen tapferen Sinn besaß. Viele Abenteuer bestand er, und Leiden erfuhr er, wie noch nie ein Sterblicher zuvor. Aber er war fromm und geduldig; denn er wusste, dass die Menschen wie Blätter an den Bäumen sind: Sie grünen und ein Wind treibt sie hinab.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.1997Stell dir vor, es ist Krieg
Trojas Fall und Tübinger Rhetorik: Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab bis Rosemary Sutcliff
Irgendwann fragen die Kinder ihre Eltern nach dem Krieg. In der "Ilias" haben die Griechen ihre Antwort niedergelegt: Der Krieg gegen Troja wurde ihnen zum Krieg schlechthin. In ihm kämpften nicht nur Griechen und Trojaner, sondern Verbündete, selbst Götter. Und wie lange es dauerte, bis aus der Katastrophe einer moralisch geborstenen Welt der Frieden hervorging, schildern die Abenteuer der "Odyssee".
Wer nach einer Bearbeitung dieser Dichtungen für Kinder sucht, wird zunächst zu Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" greifen, die mit den Illustrationen von John Flaxman selbst zum Klassiker geworden sind. Die Sammlung gab das Vermächtnis der Antike an die Jugend des deutschen Bürgertums weiter, die griechischen Helden sind bei Schwab von der Luft des Vormärz angeweht. Überall sind sie umgeben vom beratenden, sich versammelnden Volk, dessen Urteilskraft in die Handlung eingreift.
Ein Held, so hat Schwab die Tendenz seiner Bearbeitung umschrieben, hat gelernt, "das Geschick seiner Mitbürger nicht als ein fremdes zu betrachten", "Bürgersinn" zeichnet ihn aus. So gilt auch für die Sage vom Trojanischen Krieg, daß man "im Felde und im Rate" für das Gemeinwesen einzustehen hat. Diese Lehre lag einer Generation nahe, deren Jugend in die Befreiungskriege, deren Reife in den Vormärz fiel. Was der Ausnahmezustand des Krieges aus den Menschen heraustreibt, sind die höchsten bürgerlichen Tugenden: Mut und Ehre und zugleich das Schändlichste und Fürchterlichste. Schwabs Darstellung, die das Geschehen um die mehreren Dutzend Akteure stets gleichmäßig im Auge behält, geht in die Breite. Dem Epischen kommt sie damit nahe - aber gerade dieser Zug macht sie heute fast unlesbar. Kaum ein Heldenname fällt ohne umständliche Angaben zu seiner Genealogie. Wer der Schwabschen Ilias wirklich folgen wollte, müßte zum Gedächtniskünstler werden.
Bündiger verfahren die neueren Bearbeitungen. Die Nacherzählung von Walter Jens, inzwischen fast vierzig Jahre alt, gehört zu den lesbarsten. Wo Schwab den Krieg voraussetzt, läßt Jens eine pazifistische Tendenz erkennen, das Wort "Frieden" beherrscht die Geschichte. Der Erzähler identifiziert sich, wie es für einen modernen Intellektuellen naheliegt, mit den Warnungen der Seher und Priester. Besonders aufmerksam werden die Stimmen behandelt. Ob klagend oder jauchzend, donnernd oder gedämpft ("Achill begann mit leiser und beinahe zärtlicher Stimme zu sprechen") - immer glaubt man, den Menschen Walter Jens selbst zu hören, und dem jungen Leser wird ein Grundkurs der Tübinger Rhetorik gratis mitgeliefert.
Franz Fühmanns "Sage von Trojas Fall" erschien erstmals 1968 in der DDR. Fühmann, der im Osten gekämpft hatte und spät aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrte, behandelt den Stoff drastisch, ungeschönt und schmerzhaft. Er, der als ehemaliger Nationalsozialist und Stalinist die Weltgötzen kennengelernt hatte, rechnet mit den Göttern ab. "Urböse obere Wesen" sind sie, "die in ihren blinden Launen mit Menschen spielen." Der Olymp: ein intrigantes Politbüro mit Geheimbeschlüssen. Die Götter: eine Runde verrotteter Opportunisten, Ares-Mars, der Völkervernichter, ist der schlimmste unter ihnen. Zeus: ein mürrischer Ehemann, der seine Frau mit dem Gürtel schlägt und nur lustig wird, wenn er dem Zwist der ameisenkleinen Menschlein zuschauen kann. Nur der Stahlkocher Hephaist-Vulkan, ein Vertreter der Arbeiterklasse, gilt als klug und anständig.
Fühmanns Tendenz ist die des materialistischen Protests. Die Schönheiten seiner Darstellung liegen in einer Poesie der Gegenständlichkeit. Wie Segel knattern, wie gehämmert wird, das erfährt man hier ebenso wie die chaotische Wirklichkeit der Schlacht: "Führerlose Kampfwagen, von scheuenden Rossen blindlings fortgerissen, polterten über die steinige Ebene." Das letzte Kapitel schildert mit der Ermordung von Hektors Sohn ein klassisches Kriegsverbrechen. Keine Bürgertugend versöhnt bei Fühmann mit dem Krieg.
Die jüngste Neubearbeitung stammt von der 1992 verstorbenen englischen Erzählerin Rosemary Sutcliff. Ihre Ilias hat sich vom Vorbild am weitesten entfernt. Hier herrscht eine subtile, an Blicken und Gesten orientierte Psychologie, die die Helden mit der weiblichen Welt verbindet: Helena gewinnt eine unvergleichlich höhere Handlungsfähigkeit, wie auch das Amazonenheer, die trojanischen Frauen und Achilles Mutter neu gesehen werden. Wenn man will, kann man von einer feministischen Tendenz sprechen, die diesem erzählerischen Glücksfall zugrunde liegt.
LORENZ JÄGER Gustav Schwab: "Sagen des klassischen Altertums". Mit 96 Zeichnungen von John Flaxman. Drei Bde., Insel-Verlag, Frankfurt a. M. und Leipzig, brosch., 39,80 DM.
Walter Jens: "Ilias und Odyssee". Otto Maier Verlag, Ravensburg 16. Aufl. 1996. Bilder von Alice und Martin Provensen. 92 S., geb. 29,80DM.
Franz Fühmann: "Die Sage von Trojas Fall". Hinstorff Verlag, Rostock 1996. 66 S., geb. 24,80 DM.
Rosemary Sutcliff: "Schwarze Schiffe vor Troja". Die Geschichte der Ilias. Illustriert von Alan Lee. Aus dem Englischen von Astrid von dem Borne. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1997. 128 S., geb. 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Trojas Fall und Tübinger Rhetorik: Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab bis Rosemary Sutcliff
Irgendwann fragen die Kinder ihre Eltern nach dem Krieg. In der "Ilias" haben die Griechen ihre Antwort niedergelegt: Der Krieg gegen Troja wurde ihnen zum Krieg schlechthin. In ihm kämpften nicht nur Griechen und Trojaner, sondern Verbündete, selbst Götter. Und wie lange es dauerte, bis aus der Katastrophe einer moralisch geborstenen Welt der Frieden hervorging, schildern die Abenteuer der "Odyssee".
Wer nach einer Bearbeitung dieser Dichtungen für Kinder sucht, wird zunächst zu Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" greifen, die mit den Illustrationen von John Flaxman selbst zum Klassiker geworden sind. Die Sammlung gab das Vermächtnis der Antike an die Jugend des deutschen Bürgertums weiter, die griechischen Helden sind bei Schwab von der Luft des Vormärz angeweht. Überall sind sie umgeben vom beratenden, sich versammelnden Volk, dessen Urteilskraft in die Handlung eingreift.
Ein Held, so hat Schwab die Tendenz seiner Bearbeitung umschrieben, hat gelernt, "das Geschick seiner Mitbürger nicht als ein fremdes zu betrachten", "Bürgersinn" zeichnet ihn aus. So gilt auch für die Sage vom Trojanischen Krieg, daß man "im Felde und im Rate" für das Gemeinwesen einzustehen hat. Diese Lehre lag einer Generation nahe, deren Jugend in die Befreiungskriege, deren Reife in den Vormärz fiel. Was der Ausnahmezustand des Krieges aus den Menschen heraustreibt, sind die höchsten bürgerlichen Tugenden: Mut und Ehre und zugleich das Schändlichste und Fürchterlichste. Schwabs Darstellung, die das Geschehen um die mehreren Dutzend Akteure stets gleichmäßig im Auge behält, geht in die Breite. Dem Epischen kommt sie damit nahe - aber gerade dieser Zug macht sie heute fast unlesbar. Kaum ein Heldenname fällt ohne umständliche Angaben zu seiner Genealogie. Wer der Schwabschen Ilias wirklich folgen wollte, müßte zum Gedächtniskünstler werden.
Bündiger verfahren die neueren Bearbeitungen. Die Nacherzählung von Walter Jens, inzwischen fast vierzig Jahre alt, gehört zu den lesbarsten. Wo Schwab den Krieg voraussetzt, läßt Jens eine pazifistische Tendenz erkennen, das Wort "Frieden" beherrscht die Geschichte. Der Erzähler identifiziert sich, wie es für einen modernen Intellektuellen naheliegt, mit den Warnungen der Seher und Priester. Besonders aufmerksam werden die Stimmen behandelt. Ob klagend oder jauchzend, donnernd oder gedämpft ("Achill begann mit leiser und beinahe zärtlicher Stimme zu sprechen") - immer glaubt man, den Menschen Walter Jens selbst zu hören, und dem jungen Leser wird ein Grundkurs der Tübinger Rhetorik gratis mitgeliefert.
Franz Fühmanns "Sage von Trojas Fall" erschien erstmals 1968 in der DDR. Fühmann, der im Osten gekämpft hatte und spät aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrte, behandelt den Stoff drastisch, ungeschönt und schmerzhaft. Er, der als ehemaliger Nationalsozialist und Stalinist die Weltgötzen kennengelernt hatte, rechnet mit den Göttern ab. "Urböse obere Wesen" sind sie, "die in ihren blinden Launen mit Menschen spielen." Der Olymp: ein intrigantes Politbüro mit Geheimbeschlüssen. Die Götter: eine Runde verrotteter Opportunisten, Ares-Mars, der Völkervernichter, ist der schlimmste unter ihnen. Zeus: ein mürrischer Ehemann, der seine Frau mit dem Gürtel schlägt und nur lustig wird, wenn er dem Zwist der ameisenkleinen Menschlein zuschauen kann. Nur der Stahlkocher Hephaist-Vulkan, ein Vertreter der Arbeiterklasse, gilt als klug und anständig.
Fühmanns Tendenz ist die des materialistischen Protests. Die Schönheiten seiner Darstellung liegen in einer Poesie der Gegenständlichkeit. Wie Segel knattern, wie gehämmert wird, das erfährt man hier ebenso wie die chaotische Wirklichkeit der Schlacht: "Führerlose Kampfwagen, von scheuenden Rossen blindlings fortgerissen, polterten über die steinige Ebene." Das letzte Kapitel schildert mit der Ermordung von Hektors Sohn ein klassisches Kriegsverbrechen. Keine Bürgertugend versöhnt bei Fühmann mit dem Krieg.
Die jüngste Neubearbeitung stammt von der 1992 verstorbenen englischen Erzählerin Rosemary Sutcliff. Ihre Ilias hat sich vom Vorbild am weitesten entfernt. Hier herrscht eine subtile, an Blicken und Gesten orientierte Psychologie, die die Helden mit der weiblichen Welt verbindet: Helena gewinnt eine unvergleichlich höhere Handlungsfähigkeit, wie auch das Amazonenheer, die trojanischen Frauen und Achilles Mutter neu gesehen werden. Wenn man will, kann man von einer feministischen Tendenz sprechen, die diesem erzählerischen Glücksfall zugrunde liegt.
LORENZ JÄGER Gustav Schwab: "Sagen des klassischen Altertums". Mit 96 Zeichnungen von John Flaxman. Drei Bde., Insel-Verlag, Frankfurt a. M. und Leipzig, brosch., 39,80 DM.
Walter Jens: "Ilias und Odyssee". Otto Maier Verlag, Ravensburg 16. Aufl. 1996. Bilder von Alice und Martin Provensen. 92 S., geb. 29,80DM.
Franz Fühmann: "Die Sage von Trojas Fall". Hinstorff Verlag, Rostock 1996. 66 S., geb. 24,80 DM.
Rosemary Sutcliff: "Schwarze Schiffe vor Troja". Die Geschichte der Ilias. Illustriert von Alan Lee. Aus dem Englischen von Astrid von dem Borne. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1997. 128 S., geb. 39,- DM.
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