Formal ist dieser Roman schon außergewöhnlich, denn es ist ein Wendebuch. Ich kannte Wendedecken, Wendejacken und so einiges anderes, was man wenden kann, aber ein Buch in der Erwachsenenliteratur zum Wenden war mir noch nicht in die Hände gefallen. Es war ein Cover- und Titelkauf, ich zog mal
wieder durch eine Buchhandlung und dieses Buch rief nach mir. Da es verschweißt war, wusste ich auch…mehrFormal ist dieser Roman schon außergewöhnlich, denn es ist ein Wendebuch. Ich kannte Wendedecken, Wendejacken und so einiges anderes, was man wenden kann, aber ein Buch in der Erwachsenenliteratur zum Wenden war mir noch nicht in die Hände gefallen. Es war ein Cover- und Titelkauf, ich zog mal wieder durch eine Buchhandlung und dieses Buch rief nach mir. Da es verschweißt war, wusste ich auch nicht was mich erwartet. Zuhause also Folie weg, Buch aufgeschlagen und ich dachte es sei kaputt oder vielmehr ein Fehldruck, aber dem war natürlich nicht so. Am Lesesbändchen orientiert habe ich also mit Amal angefangen. Amal erzählt als Ich-Erzählerin die Geschichte über ihr Familienleben, ihren schulischen Werdegang, von den Diskrepanzen der Kulturen, ihrer Kindheit und Jugend als Tochter irakischer Migranten, der Rolle als Frau zwischen den Kulturen und ihrer Suche nach sich und ihren Zielen. Amal ist stark, laut und voller Willen, ich habe ihren Teil als sehr ausdrucksvoll empfunden, nachvollziehbar ihre Gedanken, Überlegungen, ihr Hinterfragen, ihre Einsamkeit, Sinnsuche und die Beweggründe ihres Handelns. Die andere Hälfte gehört Raffiq und seiner Ich-Erzählung, die Themen sind ganz ähnlich, wenn auch er weniger sich selber hinterfragt, sein Leben, seine Ziele. Raffiq war für mich weniger greifbar und die ganze Erzählung reichte für mich nicht an Amal’s Hälfte heran. Die Geschichten sind unabhängig voneinander, können nacheinander oder parallel gelesen werden, die Personen und Zeiten decken sich in beiden Geschichten, sind jedoch in anderen Rollen und Funktionen, ausser Younes, von dem beide erzählen in ihrer jeweiligen Geschichte. Younes und sein Leben mit seiner Mutter, der Vater nicht präsent. Shahira, die die Regeln ihrer Kultur bricht, die Regeln der Frauen der kurdischen Kommune, die unabhängig und frei lebt, sich nichts und niemandem unterwirft, die alle zu verschlingen und in ihrem Bauch zu sammeln scheint, für die einen eine Göttin, für die anderen die personifizierte Schande.
Dieser Roman hat mir sehr gefallen, die Autorin gibt den Jugendlichen eine authentische und realistische Stimme, so oder so ähnlich wird es vielerorts sein. Die Charaktere sind mit ausreichend Tiefe versehen und ihre Gefühlswelt wird klar und laut sehr deutlich. Der Stil ist gut, ihre Art gefällt mir, einfach und flüssig zu lesen, immer wieder sind aber Sätze dabei über die man stolpert, Passagen, die sehr nachdenklich stimmen, mit viel Gefühl und teilweise Poesie. Ein guter Roman über Heimat, Freiheit, Autonomie, das Leben zwischen den Kulturen sowohl als Frau als auch als Mann, über Migration- und Fluchterfahrung, darüber wie weit die Kreise in die nächsten Generationen ziehen und wie schwierig und darum nachvollziehbar manch ein Verhalten ist.