Es ist kurz vor Mitternacht, als drei junge Einbrecher in einen verlassenen Gemischtwarenladen eindringen, um nach ihrem Raubzug unterzutauchen. Doch Atsuya, Shota und Kohei wird keine ruhige Stunde bis zum Morgengrauen gewährt: Ein Brief wird von außen durch einen Schlitz in den Laden geworfen, obwohl in der Dunkelheit vor der Tür kein Mensch zu sehen ist. Als ihn die erstaunten Kleinkriminellen öffnen, beginnt eine unglaubliche Geschichte, die eine Nacht lang das Leben unzähliger Menschen verändern wird - und eigentlich begann sie vor über dreißig Jahren, als ein weiser alter Mann mit seinen Worten kleine Wunder vollbringen konnte.
Der neue Roman des japanischen Bestsellerautors!
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2021Des Meisters letztes Rätsel
Keigo Higashinos Zeitreise durch Japans Geschichte
"Ich behandle jeden Brief als Hilfeschrei. Diese Menschen sind nicht anders als wir. Sie haben ein Loch in ihrem Herzen, und etwas Lebensnotwendiges sickert heraus." Der als Krimiautor bekannte Keigo Higashino schlägt in seinem in Japan 2012 erschienenen Roman "Kleine Wunder um Mitternacht" empathische Töne an, in einer Geschichte ohne Morgen, einer magischen Wanderung durch die Nachtseite und das Schmerzzentrum der Seele.
Drei Kleinkriminelle finden nachts in einem ausgedienten Gemischtwarenladen Zuflucht. Sie ahnen nicht, dass der Laden immer noch mit der Vergangenheit verbunden ist: Der einstige Inhaber Namiya führte mehr als dreißig Jahre zuvor neben Alltagsbedarf auch einen Kummerkasten. Nach Aufgabe des Geschäfts wurden immer noch Briefe eingeworfen, die Jahrzehnte später nun beim Diebestrio ankommen. Zwischen Spuk und Surrealismus korrespondiert die Gegenwart mit der Vergangenheit. Um sich die Zeit bis zum Morgen zu vertreiben, übernimmt das Trio das Ratgebergeschäft, wächst daran und erwirkt als Gestrandete, die Gescheiterte beraten, Heilung ebenso wie Selbstheilung.
Es sind Zirkelschlüsse der Geschichte und der Geschichten. Dabei kontrastiert die zum Teil auch wiedergegebene klassisch-höfliche Korrespondenz des alten Namiya mit den provokativ-aufrüttelnden Ratschlägen der Gauner. Das Buch spielt mit der Komik von Ratschlägen aus einer besser wissenden Zukunft und der Kommunikation von Menschen der digitalen Welt mit jenen aus der traditionellen.
Historische Schlaglichter wie die Japan-Tour der Beatles 1966, die Expo 1970 in Osaka als Aufbruchssymbol, Plaza-Abkommen und Immobilienboom, Tod des Kaisers oder Platzen der bubble economy spiegeln sich im Privaten. Das Buch erzählt von Menschen, die sich in unerfüllbaren Träumen verrennen und nicht einmal die Gelegenheit haben, "eine verlorene Schlacht zu schlagen".
Da wäre die Fechterin "Mondhase", die 1979 auf Wunsch ihres krebskranken Freundes für Olympia im nächsten Jahr trainiert - gegen den Rat des Trios, das ihr im vorauseilenden Wissen um den Boykott der Moskauer Spiele durch Japan rät, die letzte Zeit an seiner Seite zu bleiben. Oder ein gewisser Katsuro alias "verhinderter Musiker", der, zerrissen zwischen Pflicht und Neigung, Fortführung des familiären Fischgeschäfts oder einer Musikerkarriere, Rückendeckung beim Kummerkasten sucht, wobei das Trio ihn einen Tagträumer mit dekadentem Dilemma nennt und so seine Ernsthaftigkeit im künstlerischen Streben auszutesten sucht.
Der Kummerkasten der Kleinganoven als Anleitung zur Selbsthilfe setzt einen Gegenpol zur turbokapitalistischen Welt und relativiert Fragen der Moral. Das Buch erkundet unergründliche Wechselfälle des Schicksals und der Liebe, der Empathie, Entfremdung und Trennung, Flucht, Selbstflucht und Selbstfindung. Die Problemfälle sind oft beratungsresistent. Doch Higashinos Ratsuchende, die im Buch vor allem über ein Waisenhaus außerhalb Tokios, wo viele der Figuren ein Refugium fanden, miteinander in Beziehung gesetzt werden, gewinnen über die Anonymität des Kummerkastens wieder die Fähigkeit, sich freizuschwimmen.
Die Zeitebenen, Erzählstränge und Kummerkästen werden raffiniert verwirrt und wieder zusammengeführt. In einer surrealen Szene, als Namiya seinen Kummerkastenladen kurz vor seinem Krebstod für just eine Nacht wiedereröffnet hat, schickt das Trio ihm als Brief, der "die Geschichte der Zukunft" erzählt, ein leeres Blatt in die Vergangenheit. Es ist Meister Namiyas letztes Sinnrätsel. Er interpretiert es als fehlende Verortung im Universum, aber auch als Aufbruch in unbegrenzte Möglichkeiten: Das geläuterte Trio ist Namiya ebenso dankbar, wie es den Ratsuchenden verbunden ist, dass sie derartigen Tunichtguten vertrauten.
Als der Tag anbricht, hat der Krämerladen seine Aura verloren. Die Delinquenten aber haben - die moralische Wendung ist für Leser von Higashinos Krimis überraschend, aber gewohnt gekonnt konstruiert - als Seelenklempner schwarze Löcher der Psyche, aber auch Wert und Wunder des Menschseins neu erfahren.
STEFFEN GNAM
Keigo Higashino: "Kleine Wunder um Mitternacht". Roman.
Aus dem Japanischen von Astrid Finke. Limes Verlag, München 2021. 416 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keigo Higashinos Zeitreise durch Japans Geschichte
"Ich behandle jeden Brief als Hilfeschrei. Diese Menschen sind nicht anders als wir. Sie haben ein Loch in ihrem Herzen, und etwas Lebensnotwendiges sickert heraus." Der als Krimiautor bekannte Keigo Higashino schlägt in seinem in Japan 2012 erschienenen Roman "Kleine Wunder um Mitternacht" empathische Töne an, in einer Geschichte ohne Morgen, einer magischen Wanderung durch die Nachtseite und das Schmerzzentrum der Seele.
Drei Kleinkriminelle finden nachts in einem ausgedienten Gemischtwarenladen Zuflucht. Sie ahnen nicht, dass der Laden immer noch mit der Vergangenheit verbunden ist: Der einstige Inhaber Namiya führte mehr als dreißig Jahre zuvor neben Alltagsbedarf auch einen Kummerkasten. Nach Aufgabe des Geschäfts wurden immer noch Briefe eingeworfen, die Jahrzehnte später nun beim Diebestrio ankommen. Zwischen Spuk und Surrealismus korrespondiert die Gegenwart mit der Vergangenheit. Um sich die Zeit bis zum Morgen zu vertreiben, übernimmt das Trio das Ratgebergeschäft, wächst daran und erwirkt als Gestrandete, die Gescheiterte beraten, Heilung ebenso wie Selbstheilung.
Es sind Zirkelschlüsse der Geschichte und der Geschichten. Dabei kontrastiert die zum Teil auch wiedergegebene klassisch-höfliche Korrespondenz des alten Namiya mit den provokativ-aufrüttelnden Ratschlägen der Gauner. Das Buch spielt mit der Komik von Ratschlägen aus einer besser wissenden Zukunft und der Kommunikation von Menschen der digitalen Welt mit jenen aus der traditionellen.
Historische Schlaglichter wie die Japan-Tour der Beatles 1966, die Expo 1970 in Osaka als Aufbruchssymbol, Plaza-Abkommen und Immobilienboom, Tod des Kaisers oder Platzen der bubble economy spiegeln sich im Privaten. Das Buch erzählt von Menschen, die sich in unerfüllbaren Träumen verrennen und nicht einmal die Gelegenheit haben, "eine verlorene Schlacht zu schlagen".
Da wäre die Fechterin "Mondhase", die 1979 auf Wunsch ihres krebskranken Freundes für Olympia im nächsten Jahr trainiert - gegen den Rat des Trios, das ihr im vorauseilenden Wissen um den Boykott der Moskauer Spiele durch Japan rät, die letzte Zeit an seiner Seite zu bleiben. Oder ein gewisser Katsuro alias "verhinderter Musiker", der, zerrissen zwischen Pflicht und Neigung, Fortführung des familiären Fischgeschäfts oder einer Musikerkarriere, Rückendeckung beim Kummerkasten sucht, wobei das Trio ihn einen Tagträumer mit dekadentem Dilemma nennt und so seine Ernsthaftigkeit im künstlerischen Streben auszutesten sucht.
Der Kummerkasten der Kleinganoven als Anleitung zur Selbsthilfe setzt einen Gegenpol zur turbokapitalistischen Welt und relativiert Fragen der Moral. Das Buch erkundet unergründliche Wechselfälle des Schicksals und der Liebe, der Empathie, Entfremdung und Trennung, Flucht, Selbstflucht und Selbstfindung. Die Problemfälle sind oft beratungsresistent. Doch Higashinos Ratsuchende, die im Buch vor allem über ein Waisenhaus außerhalb Tokios, wo viele der Figuren ein Refugium fanden, miteinander in Beziehung gesetzt werden, gewinnen über die Anonymität des Kummerkastens wieder die Fähigkeit, sich freizuschwimmen.
Die Zeitebenen, Erzählstränge und Kummerkästen werden raffiniert verwirrt und wieder zusammengeführt. In einer surrealen Szene, als Namiya seinen Kummerkastenladen kurz vor seinem Krebstod für just eine Nacht wiedereröffnet hat, schickt das Trio ihm als Brief, der "die Geschichte der Zukunft" erzählt, ein leeres Blatt in die Vergangenheit. Es ist Meister Namiyas letztes Sinnrätsel. Er interpretiert es als fehlende Verortung im Universum, aber auch als Aufbruch in unbegrenzte Möglichkeiten: Das geläuterte Trio ist Namiya ebenso dankbar, wie es den Ratsuchenden verbunden ist, dass sie derartigen Tunichtguten vertrauten.
Als der Tag anbricht, hat der Krämerladen seine Aura verloren. Die Delinquenten aber haben - die moralische Wendung ist für Leser von Higashinos Krimis überraschend, aber gewohnt gekonnt konstruiert - als Seelenklempner schwarze Löcher der Psyche, aber auch Wert und Wunder des Menschseins neu erfahren.
STEFFEN GNAM
Keigo Higashino: "Kleine Wunder um Mitternacht". Roman.
Aus dem Japanischen von Astrid Finke. Limes Verlag, München 2021. 416 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam annonciert einen besonderen Roman des japanischen Krimiautors Keigo Higashino. Denn die Geschichte um drei Gauner, die in Tokio einen leerstehenden Gemischtwarenladen besetzen, dessen einstiger Besitzer seinen Kunden stets auch als "Kummerkasten" diente, kommt zwar mit allerhand Einblicken in menschliche Abgründe, aber ohne Krimielemente daher, erklärt der Kritiker. Stattdessen liest er von zahlreichen Schicksalen und dem Versuch der Gauner, Ratschläge mit Witz zu geben, und staunt über Higashinos Vermögen, leichthändig verschiedene Momente japanischer Geschichte einzuweben. Und in der Mischung aus "Spuk und Surrealismus", die den Roman grundiert, erkennt er Higashino ohnehin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das Buch erkundet unergründliche Wechselfälle des Schicksals und der Liebe, der Empathie, Entfremdung und Trennung, Flucht, Selbstflucht und Selbstfindung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung