Voller Hoffnungen und Träume zieht es Frédéric Moreau aus der Provinz nach Paris. Er ist achtzehn, und der Ernst des Lebens beginnt. Während einer Dampferfahrt auf der Seine verliebt er sich unsterblich in Madame Arnoux. Doch seine Angebetete ist verheiratet. Der Held tröstet sich mit Rosanette und stolpert in die 1848er-Revolution, die eine ganze Gesellschaft aus der Bahn wirft. Die "Lehrjahre der Männlichkeit" wurden nach "Madame Bovary" Flauberts zweites Meisterwerk. Die opulente Hörspielinszenierung des SWR mit Patrick Güldenberg als Moreau erweckt diesen berühmten Roman zum Leben!
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2020Frédéric Moreau, das sind wir
Ironie über 180 Jahre hinweg: Zur Neuübersetzung von Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale"
Zu den literarischen Moden gehört es, Klassiker im "neuen Gewand" erscheinen zu lassen. Am verblüffendsten ist es, ein fremdsprachiges Werk, dessen Titelübersetzung auch im Deutschen emblematisch geworden ist, neu zu benennen. Das bekannteste Beispiel der letzten Jahrzehnte dürfte "Schuld und Sühne" sein. Im Original verwendet Dostojewskis Titel die russischen Rechtsbegriffe für "Verbrechen und Strafe". Im Französischen wurde daraus folgerichtig "Crime et Châtiment", im Englischen "Crime and Punishment". Der deutsche Titel "Schuld und Sühne" hingegen verwendete Begriffe, die, zumindest nach heutiger Lesart, nicht der juristischen, sondern der moralisch-religiösen Sphäre entstammen. Ihn nun durch "Verbrechen und Strafe" zu ersetzen war ein echter Coup, der auch philologisch überzeugend erschien. Leider lässt sich der Trick nicht beliebig oft wiederholen. Warum aus "Der Jüngling" "Ein grüner Junge" wurde und aus "Die Dämonen" "Böse Geister", lässt sich kaum schlüssig begründen.
Was also ist geschehen, dass aus "L'Éducation sentimental" im Deutschen "Lehrjahre der Männlichkeit" werden mussten? Ist das wirklich später Flaubert? Oder nicht doch eher früher Ernst Jünger? Doch diese erste Irritation stellt sich nur ein, weil "Männlichkeit" heute für viele an sich schon zum toxischen Begriff geworden ist.
Probleme, für seinen Roman den richtigen Titel zu finden, hatte schon Flaubert selbst. Er hatte sogar den Verdacht, seine Schwierigkeiten hätten ihre Ursache in einer konzeptionellen Schwäche des Werkes. Er kannte Goethes "Wilhelm Meister". Obwohl er ihn bewunderte, schwebte Flaubert für sein eigenes Buch das Gegenteil vor: Es sollte eine Art umgekehrter Bildungsroman werden.
"Éducation sentimental" war eine Wortschöpfung, die Flaubert für einen frühen, nie veröffentlichten autobiographischen Roman verwendet hatte. Er griff sie in Briefen zur Beschreibung seiner eigenen Entwicklung immer wieder auf: Sie stand für den Verlust der Empfindsamkeit, der Illusionen, der Schwärmerei. Eine bittere, eine ironische Wendung also.
Im Deutschen hat man eine ganze Fülle von Entsprechungen versucht: "Die Erziehung der Gefühle", "Die Erziehung des Herzens", "Die Erziehung des Gefühls", "Lehrjahre des Gefühls", "Lehrjahre des Herzens", "Die Schule der Empfindsamkeit" und "Der Roman eines jungen Mannes". Die Ironie blieb dabei immer auf der Strecke. Anstatt dieser Reihe eine weitere Variante mit Herz und Gefühl hinzuzufügen, beschritt die Übersetzerin Elisabeth Edl einen anderen Weg. "Lehrjahre der Männlichkeit" ist nicht etwa ihre Erfindung, es ist eine Kapitelüberschrift aus dem Roman "Lucinde" von Friedrich Schlegel, der durchaus als romantisches Gegenstück zum "Wilhelm Meister" verstanden werden kann. Ob Flaubert Schlegels Roman kannte, wissen wir nicht. Für Elisabeth Edl war diese Frage aber auch nicht ausschlaggebend. Im Nachwort schreibt sie: "Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend übersetzt im strengen Sinne alles, was in L'Éducation sentimental. Histoire d'un jeune homme gesagt ist - mit der kleinen Differenz, dass die männliche Bestimmung vom Untertitel nach oben wandert."
Die oberflächliche Abneigung gegen das Wort Männlichkeit im Titel geht somit an der Sache vorbei. Elisabeth Edl nimmt diesen (vielleicht nur vermeintlichen) Schaden hin und rettet damit die schon am Originaltitel gerne übersehene Ironie.
Die selbsternannten Gewährsleute der neuen Männlichkeit werden ohnehin nicht glücklich mit diesem Roman. Flaubert, und das ist durchaus als Kompliment gemeint, ist ein ganz und gar "unmännlicher" Schriftsteller. Die Männer in seinen Romanen sind eher arme Narren als große Helden. Geltungssüchtig, verschlagen, getrieben von bemitleidenswerten Begierden, die ein Leben lang zwischen ihnen und der Vernunft stehen, zu der sie nie kommen. Zugegeben, die Frauen sind auf ihre Weise kein Stück besser, manchmal etwas schlauer, wovon sie am Ende aber auch nichts haben.
Auf der ersten Seite des Romans lernen wir Frédéric Moreau als Achtzehnjährigen kennen. Gleich zu Beginn werden alle zentralen Themen gestreift: Geld, Kunst, Liebe, Politik. Genau in dieser Reihenfolge. Aber das geschieht nicht abstrakt, sondern sehr konkret und dabei doch ganz beiläufig.
Zuerst erfahren wir, dass Frédérics Mutter auf eine Erbschaft von einem Onkel spekuliert, mit der ihrem Jungen das Studium und der Eintritt in die Gesellschaft ermöglicht werden soll. Mme Moreau ist verwitwet und in finanziell angespannter Lage, sie weiß, dass etwas getan werden muss, wenn es ihr Sohn einmal zu etwas bringen soll. Aber Frédéric scheint das bevorstehende Jurastudium vor allem als Einladung zu einem Bohèmeleben zu verstehen. Man könnte sagen, mit seinen achtzehn Jahren ist er schon ein ganz schön verzogenes Früchtchen. Aber er ist auch ein Kind seiner Zeit. Von seinem Autor wurde er geschickt an der Schnittstelle zwischen Bürgertum und Künstlerschaft positioniert.
Das brandneue Phänomen des Bohèmelebens hat, genau in dem Jahr, in dem die Handlung des Romans einsetzt, 1840, Honoré de Balzac in seiner Erzählung "Ein Fürst der Bohème" so beschrieben: "Die Bohème hat nichts und lebt von dem, was sie hat. Die Hoffnung ist ihre Religion, der Glaube an sich selbst ihr Gesetzbuch, die Wohlfahrt gilt ihr als Budget. Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Unglück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums, aber stehen immer über ihrem Geschick. Stets sitzen sie hoch zu Ross auf einem ,Wenn'; sie sind witzig wie Feuilletons, frohgemut wie Leute, die Schulden haben, oh, sie haben genauso viele Schulden, wie sie trinken! Und schließlich, darauf möchte ich hinaus, sind sie alle verliebt, über die Maßen verliebt . . .!"
Frédérics Mutter nennt ihrem Sohn Rastignac als Vorbild, den berühmten Karrieristen aus Balzacs "Menschlicher Komödie". Aber Frédéric ist kein Rastignac. Er verachtet das Nützliche, er strebt nach Höherem, er will sich nicht korrumpieren, sondern seinem Herzen folgen. Das macht ihn sympathisch, aber nicht glücklich. Warum eigentlich nicht? Das ist doch angeblich genau das, was wir alle tun sollen: unserem Herzen folgen. Dumm nur, dass es andauernd die Richtung ändert. "Ohne Geschäft und ohne Zweck trieb er sich umher unter den Dingen und unter den Menschen wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran sein ganzes Glück hängt", schreibt Schlegel über seinen Protagonisten Julius in "Lucinde". Der Satz taugte auch als Charakterisierung Frédérics.
Es gilt heute als Qualitätsmerkmal eines Romans, wenn aus ihm "tiefe Menschlichkeit" spricht, wenn sein Autor Sympathie und Mitgefühl für seine Figuren empfindet und sie nicht etwa "vorführt" oder gar "denunziert". Flaubert ist der menschlichen Natur weniger gewogen, und ein besonderer Graus ist ihm der Bourgeois in all dessen Pracht und Doofheit. Er weiß dabei sehr wohl, dass er selbst einer ist. Ebendeshalb kann er auf den Grund von dessen Herz blicken. Er weiß, wovon er spricht, und das tut er keineswegs immer nur gehässig. Dennoch, sein Stil wird gerne als kalt, klinisch, unbarmherzig oder gar grausam beschrieben. Andererseits macht er aus seinen Figuren keine Knallchargen. Doch seine Menschenkenntnis bewahrt ihn davor, auch nur in die Nähe der Gefühlsduselei zu geraten. Er weiß, wie wir uns selbst zum Narren halten, und findet, um der Wahrheit willen, nichts daran zu beschönigen. "Außergewöhnliche Empfindungen schaffen erhabene Werke", sagt Frédéric, und man hört, während man den Satz liest, Flaubert grimmig lachen.
Gerne wird behauptet, in dem Roman geschehe nicht viel. Das ist nicht richtig, er bordet über von Geschehnissen, von Handlungen und Handlung. Nur bleibt das weitaus meiste, beinahe alles, folgenlos. Der tiefere Sinn, den wir uns alle so sehr wünschen, bleibt aus. Gerade deshalb ziehen manche Flaubert-Leser die "Éducation" der "Madame Bovary" vor, denn sie ist in diesem Sinn noch realistischer, noch illusionsloser. Mochte man auch Emma Bovarys märchenhafte Träume belächeln, immerhin hatte sie ein Schicksal. Was Frédéric Moreau widerfährt, verdient kaum diesen Namen. Am Ende ist es die Erinnerung an einen missglückten Bordellbesuch, der ihm und seinem letzten verbliebenen Freund als das Beste im Leben erscheint.
Wedeln wir den Klassikerweihrauch für einen Moment beiseite: Warum sollte es Vergnügen bereiten, einem durchschnittlichen Mann und einigen Dutzend anderer Leute über fünfhundert Seiten in Superzeitlupe beim Scheitern zuzusehen? 1840 mochte man die Bohème noch für eine kurzlebige Modeerscheinung gehalten haben. 180 Jahre später ist sie zu einem globalen Lebensstil geworden, eigentlich zum Inbegriff moderner Bürgerlichkeit. Flaubert sagte, "Madame Bovary, das bin ich." Daran ließe sich anschließen: Frédéric Moreau, das sind wir.
Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. Es ist ihr gelungen, eine Sprache zu finden, die nicht aufdringlich historisiert und, das vor allem, einen Sinn hat für die verhaltene, oft erst auf den zweiten Blick erkennbare bittere Komik des Originals. In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen.
GEORG OSWALD.
Gustave Flaubert: "Lehrjahre der Männlichkeit". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2020. 800 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ironie über 180 Jahre hinweg: Zur Neuübersetzung von Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale"
Zu den literarischen Moden gehört es, Klassiker im "neuen Gewand" erscheinen zu lassen. Am verblüffendsten ist es, ein fremdsprachiges Werk, dessen Titelübersetzung auch im Deutschen emblematisch geworden ist, neu zu benennen. Das bekannteste Beispiel der letzten Jahrzehnte dürfte "Schuld und Sühne" sein. Im Original verwendet Dostojewskis Titel die russischen Rechtsbegriffe für "Verbrechen und Strafe". Im Französischen wurde daraus folgerichtig "Crime et Châtiment", im Englischen "Crime and Punishment". Der deutsche Titel "Schuld und Sühne" hingegen verwendete Begriffe, die, zumindest nach heutiger Lesart, nicht der juristischen, sondern der moralisch-religiösen Sphäre entstammen. Ihn nun durch "Verbrechen und Strafe" zu ersetzen war ein echter Coup, der auch philologisch überzeugend erschien. Leider lässt sich der Trick nicht beliebig oft wiederholen. Warum aus "Der Jüngling" "Ein grüner Junge" wurde und aus "Die Dämonen" "Böse Geister", lässt sich kaum schlüssig begründen.
Was also ist geschehen, dass aus "L'Éducation sentimental" im Deutschen "Lehrjahre der Männlichkeit" werden mussten? Ist das wirklich später Flaubert? Oder nicht doch eher früher Ernst Jünger? Doch diese erste Irritation stellt sich nur ein, weil "Männlichkeit" heute für viele an sich schon zum toxischen Begriff geworden ist.
Probleme, für seinen Roman den richtigen Titel zu finden, hatte schon Flaubert selbst. Er hatte sogar den Verdacht, seine Schwierigkeiten hätten ihre Ursache in einer konzeptionellen Schwäche des Werkes. Er kannte Goethes "Wilhelm Meister". Obwohl er ihn bewunderte, schwebte Flaubert für sein eigenes Buch das Gegenteil vor: Es sollte eine Art umgekehrter Bildungsroman werden.
"Éducation sentimental" war eine Wortschöpfung, die Flaubert für einen frühen, nie veröffentlichten autobiographischen Roman verwendet hatte. Er griff sie in Briefen zur Beschreibung seiner eigenen Entwicklung immer wieder auf: Sie stand für den Verlust der Empfindsamkeit, der Illusionen, der Schwärmerei. Eine bittere, eine ironische Wendung also.
Im Deutschen hat man eine ganze Fülle von Entsprechungen versucht: "Die Erziehung der Gefühle", "Die Erziehung des Herzens", "Die Erziehung des Gefühls", "Lehrjahre des Gefühls", "Lehrjahre des Herzens", "Die Schule der Empfindsamkeit" und "Der Roman eines jungen Mannes". Die Ironie blieb dabei immer auf der Strecke. Anstatt dieser Reihe eine weitere Variante mit Herz und Gefühl hinzuzufügen, beschritt die Übersetzerin Elisabeth Edl einen anderen Weg. "Lehrjahre der Männlichkeit" ist nicht etwa ihre Erfindung, es ist eine Kapitelüberschrift aus dem Roman "Lucinde" von Friedrich Schlegel, der durchaus als romantisches Gegenstück zum "Wilhelm Meister" verstanden werden kann. Ob Flaubert Schlegels Roman kannte, wissen wir nicht. Für Elisabeth Edl war diese Frage aber auch nicht ausschlaggebend. Im Nachwort schreibt sie: "Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend übersetzt im strengen Sinne alles, was in L'Éducation sentimental. Histoire d'un jeune homme gesagt ist - mit der kleinen Differenz, dass die männliche Bestimmung vom Untertitel nach oben wandert."
Die oberflächliche Abneigung gegen das Wort Männlichkeit im Titel geht somit an der Sache vorbei. Elisabeth Edl nimmt diesen (vielleicht nur vermeintlichen) Schaden hin und rettet damit die schon am Originaltitel gerne übersehene Ironie.
Die selbsternannten Gewährsleute der neuen Männlichkeit werden ohnehin nicht glücklich mit diesem Roman. Flaubert, und das ist durchaus als Kompliment gemeint, ist ein ganz und gar "unmännlicher" Schriftsteller. Die Männer in seinen Romanen sind eher arme Narren als große Helden. Geltungssüchtig, verschlagen, getrieben von bemitleidenswerten Begierden, die ein Leben lang zwischen ihnen und der Vernunft stehen, zu der sie nie kommen. Zugegeben, die Frauen sind auf ihre Weise kein Stück besser, manchmal etwas schlauer, wovon sie am Ende aber auch nichts haben.
Auf der ersten Seite des Romans lernen wir Frédéric Moreau als Achtzehnjährigen kennen. Gleich zu Beginn werden alle zentralen Themen gestreift: Geld, Kunst, Liebe, Politik. Genau in dieser Reihenfolge. Aber das geschieht nicht abstrakt, sondern sehr konkret und dabei doch ganz beiläufig.
Zuerst erfahren wir, dass Frédérics Mutter auf eine Erbschaft von einem Onkel spekuliert, mit der ihrem Jungen das Studium und der Eintritt in die Gesellschaft ermöglicht werden soll. Mme Moreau ist verwitwet und in finanziell angespannter Lage, sie weiß, dass etwas getan werden muss, wenn es ihr Sohn einmal zu etwas bringen soll. Aber Frédéric scheint das bevorstehende Jurastudium vor allem als Einladung zu einem Bohèmeleben zu verstehen. Man könnte sagen, mit seinen achtzehn Jahren ist er schon ein ganz schön verzogenes Früchtchen. Aber er ist auch ein Kind seiner Zeit. Von seinem Autor wurde er geschickt an der Schnittstelle zwischen Bürgertum und Künstlerschaft positioniert.
Das brandneue Phänomen des Bohèmelebens hat, genau in dem Jahr, in dem die Handlung des Romans einsetzt, 1840, Honoré de Balzac in seiner Erzählung "Ein Fürst der Bohème" so beschrieben: "Die Bohème hat nichts und lebt von dem, was sie hat. Die Hoffnung ist ihre Religion, der Glaube an sich selbst ihr Gesetzbuch, die Wohlfahrt gilt ihr als Budget. Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Unglück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums, aber stehen immer über ihrem Geschick. Stets sitzen sie hoch zu Ross auf einem ,Wenn'; sie sind witzig wie Feuilletons, frohgemut wie Leute, die Schulden haben, oh, sie haben genauso viele Schulden, wie sie trinken! Und schließlich, darauf möchte ich hinaus, sind sie alle verliebt, über die Maßen verliebt . . .!"
Frédérics Mutter nennt ihrem Sohn Rastignac als Vorbild, den berühmten Karrieristen aus Balzacs "Menschlicher Komödie". Aber Frédéric ist kein Rastignac. Er verachtet das Nützliche, er strebt nach Höherem, er will sich nicht korrumpieren, sondern seinem Herzen folgen. Das macht ihn sympathisch, aber nicht glücklich. Warum eigentlich nicht? Das ist doch angeblich genau das, was wir alle tun sollen: unserem Herzen folgen. Dumm nur, dass es andauernd die Richtung ändert. "Ohne Geschäft und ohne Zweck trieb er sich umher unter den Dingen und unter den Menschen wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran sein ganzes Glück hängt", schreibt Schlegel über seinen Protagonisten Julius in "Lucinde". Der Satz taugte auch als Charakterisierung Frédérics.
Es gilt heute als Qualitätsmerkmal eines Romans, wenn aus ihm "tiefe Menschlichkeit" spricht, wenn sein Autor Sympathie und Mitgefühl für seine Figuren empfindet und sie nicht etwa "vorführt" oder gar "denunziert". Flaubert ist der menschlichen Natur weniger gewogen, und ein besonderer Graus ist ihm der Bourgeois in all dessen Pracht und Doofheit. Er weiß dabei sehr wohl, dass er selbst einer ist. Ebendeshalb kann er auf den Grund von dessen Herz blicken. Er weiß, wovon er spricht, und das tut er keineswegs immer nur gehässig. Dennoch, sein Stil wird gerne als kalt, klinisch, unbarmherzig oder gar grausam beschrieben. Andererseits macht er aus seinen Figuren keine Knallchargen. Doch seine Menschenkenntnis bewahrt ihn davor, auch nur in die Nähe der Gefühlsduselei zu geraten. Er weiß, wie wir uns selbst zum Narren halten, und findet, um der Wahrheit willen, nichts daran zu beschönigen. "Außergewöhnliche Empfindungen schaffen erhabene Werke", sagt Frédéric, und man hört, während man den Satz liest, Flaubert grimmig lachen.
Gerne wird behauptet, in dem Roman geschehe nicht viel. Das ist nicht richtig, er bordet über von Geschehnissen, von Handlungen und Handlung. Nur bleibt das weitaus meiste, beinahe alles, folgenlos. Der tiefere Sinn, den wir uns alle so sehr wünschen, bleibt aus. Gerade deshalb ziehen manche Flaubert-Leser die "Éducation" der "Madame Bovary" vor, denn sie ist in diesem Sinn noch realistischer, noch illusionsloser. Mochte man auch Emma Bovarys märchenhafte Träume belächeln, immerhin hatte sie ein Schicksal. Was Frédéric Moreau widerfährt, verdient kaum diesen Namen. Am Ende ist es die Erinnerung an einen missglückten Bordellbesuch, der ihm und seinem letzten verbliebenen Freund als das Beste im Leben erscheint.
Wedeln wir den Klassikerweihrauch für einen Moment beiseite: Warum sollte es Vergnügen bereiten, einem durchschnittlichen Mann und einigen Dutzend anderer Leute über fünfhundert Seiten in Superzeitlupe beim Scheitern zuzusehen? 1840 mochte man die Bohème noch für eine kurzlebige Modeerscheinung gehalten haben. 180 Jahre später ist sie zu einem globalen Lebensstil geworden, eigentlich zum Inbegriff moderner Bürgerlichkeit. Flaubert sagte, "Madame Bovary, das bin ich." Daran ließe sich anschließen: Frédéric Moreau, das sind wir.
Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. Es ist ihr gelungen, eine Sprache zu finden, die nicht aufdringlich historisiert und, das vor allem, einen Sinn hat für die verhaltene, oft erst auf den zweiten Blick erkennbare bittere Komik des Originals. In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen.
GEORG OSWALD.
Gustave Flaubert: "Lehrjahre der Männlichkeit". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2020. 800 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Moritz Rainer geht hart ins Gericht mit der Übersetzerin Elisabeth Edl und ihrer Neuübertragung von Gustave Flauberts Roman. Zwar kann der Leser Flauberts gekonnter Verquickung von Individual- und Nationalgeschichte auch in Edls Fassung durchaus mit Gefallen folgen, meint er, einen Anlass ältere Übersetzungen aus dem Regal zu nehmen, erkennt der Rezensent aber nicht. Im Gegenteil. Ihm geht Edls seiner Meinung nach allzu selbstbewusste Fassung mitunter zu weit, wird unpasssend umgangssprachlich oder greift zu irreführenden Wendungen (Champagnerwein statt Champagner). Allein schon über die Wahl des deutschen Buchtitels kann sich Rainer echauffieren. Dennoch: Flauberts Stil, seine Interpunktion, seine Detailgenauigkeit bei der Beschreibung von Interieurs, Garderoben, Kutschen etc. bildet Edl oft genug hervorragend ab, räumt der Rezensent ein.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020Geschenke für den Kopf (Fortsetzung Seite 20)
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Das Buch des Jahres, diese Nachkriegsgeschichte des Geistes: Andersch, Heidegger, Adorno, Holthusen, Guggenheimer, Schelsky, Enzensberger, Ortega y Gasset und der eitle Sieburg, der seine Titelgeschichte im Spiegel gleich selber schreiben will. Spoiler: Man (Frau eher nicht) konnte damals vom Feuilleton leben!
Axel Schildt: Medienintellektuelle in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2020. 896 Seiten, 46 Euro.
EINE HILFE
Ein Reigen wie damals bei Schnitzler: Paula, Ludger, Detlev, Jorinde und die anderen. Als Dreingabe: „West und Ost waren Zeichen einer richtigen und einer falschen Lebensweise geworden.“
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Roman. Diogenes, Zürich 2019, jetzt als Taschenbuch: 288 Seiten, 13 Euro.
EIN GENUSS
Als Begleitprogramm zu „Babylon Berlin“: Pflanzenarchitektur, Fotomalerei, Zeitungskunst und dazwischen Oskar Maria Graf, den Daumen im Hosenträger und zwei Bleistifte in der Jackentasche.
Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann: Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre. Hirmer, München 2019. 264 S., 39,90 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Die Geschichte des Guiness-Erben Tara Browne, der im Beatles-Song „A Day In the Life“ stirbt.
Paul Howard: I read the news today, oh boy. Picador, London 2016. 376 S., 18 Euro.
Reinhard J. Brembeck
EINE HILFE
...fürs Leben ist Michel Houellebecq immer, auch in dieser Textsammlung, in der er sich als sympathisch witziger Konservativer (nicht Reaktionär) feiert – gerade wenn er den französischen Staat und ein Krankenhaus anklagt, einen Wachkomapatienten letztlich umgebracht zu haben.
Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Essays. Dumont, Köln, 2020, 23 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
In diesem verpfuschten Beethoven-Jahr: die Live-Einspielung sämtlicher Streichquartette, weltumspannend aufgenommen auf allen fünf Kontinenten, und so gut wie von noch niemanden gespielt. Visionär, wild, zart, tyrannenmörderisch.
Beethoven Around the World. The Complete Stringquartets. Quatuor Ébène. Erato.
EIN GENUSS
Dieser witzige Roman von Mieko Kawakami liefert viel mehr, als sein verkaufsfördernder Machotitel verspricht: alles zwischen Hartz IV, Kapitalismus und Baby.
Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, Köln, 2020. 494 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
...sind die 10370 Scholien, mit denen der radikal reaktionäre Privatgelehrte und Modernefeind Gómez Dávila (1913-1994) die ganze Welt in Aphorismen erklärt.
Nicolás Gómez Dávila: Sämtliche Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Thomas Knefeli u.a. Karolinger, Wien 2020. 920 Seiten, 48 Euro.
Susan Vahabzadeh
EIN GENUSS
Es ist nur ein schmales Bändchen, und doch öffnet Kristen Roupenian in ihrem Buch „Milkwishes“ die Fenster in drei Seelen. Es sind drei Kurzgeschichten, in denen es um Wahrnehmung und Erinnerung geht.
Kristen Roupenian: Milkwishes. Aus dem Englischen von Nella Beljan. Aufbau, Berlin 2020. 80 Seiten, 12 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor dem wahren Genie liegt die Zukunft wie ein offenes Buch. Umberto Eco hatte solch seherische Fähigkeiten – das wird einem klar, liest man die Essays, die er in den Neunzigern geschrieben hat, beispielsweise jenes darüber, woran man einen wiederauferstehenden Faschismus erkennen wird. Er ahnte sogar, dass eine gewisse Verwirrtheit dabei im Spiel sein würde.
Umberto Eco: Der ewige Faschismus.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser 2020, 80 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Filmstar Fabienne (Cathérine Deneuve) hat ihre Memoiren geschrieben, und dabei ist sie so großzügig mit den Tatsachen umgegangen, dass es ihre Tochter (Juliette Binoche) auf die Palme bringt. Hirokazu Kore-edas „La Vérité – Leben und lügen lassen“ ist komisch, rührend – und ein traumhaftes Spielfeld für zwei der ganz großen Damen des französischen Kinos.
La Vérité, mit Ethan Hawke und Ludivine Sagnier. Prokino, DVD oder Blue-ray.
Marie Schmidt
EIN LIEBESBEWEIS
Nancy Cunard, britisches Intello-It-Girl und Verlegerin der literarischen Moderne, verliebte sich 1926 in den schwarzen Pianisten Henry Crowder, war beeindruckt, was sie mit ihm erlebte und ruinierte sich nahezu durch diese Anthologie afroamerikanischer Kunst und Kultur. Hier stilvoll aktualisiert, übersetzt, bebildert.
Karl Bruckmaier (Hg.): Nancy Cunards Negro. Mit einem Fotoessay von Olaf Unverzart.Kursbuch.edition, Hamburg 2020.227 Seiten, 24 Euro.
EIN VERMÖGEN
Eines ganzen, glamourösen, träumerischen, tragischen Lebens Geschichten, von gefühlvoll verstiegen bis parabelhaft präzise. Die kurze ist Clarice Lispectors größte Form: Diese famose Übersetzung neben Kafka ins Regal ordnen.
Clarice Lispector: Sämtliche Erzählungen. I: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. II: Aber es wird regnen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin, München 2019/20. 415 und 281 Seiten, je 24 Euro.
EINE HILFE
Für jeden Klassiker, den jeder schon gelesen hat, kommt der Moment, ihn auch selber zu lesen. Dieses Jahr ist es leider Zeit für Susan Sontags Gedanken, dass auch Viren keinen Sinn haben, aber trotzdem dauernd welchen produzieren.
Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Aus dem Englischen von Karin Kersten, Caroline Neubaur, Holger Fliessbach. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003. 148 Seiten, 9,90 Euro.
Tobias Kniebe
EIN GROSSER SPASS
Die Lacher des Jahres steckten in dieser Verfilmung des halb autobiografischen Romans „How To Build A Girl“ von Caitlin Moran. Ein 16-jähriges Arbeiterklasse-Mädchen auf dem holprigen Weg zur scharfzüngigsten und lustigsten Feministin Englands. Mit Rock’n’Roll, Klassenkampf, Sex und Selbsterkenntnis. Da will man dann auch gleich die Vorlage lesen.
Johanna – Eine (un)gewöhliche Heldin. Regie Coky Giedroyc, mit Beanie Feldstein. Amazon Prime, iTunes etc., 4,99 Euro.
Caitlin Moran: All About A Girl. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Carl’s Books, 2015. 299 Seiten, 18,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mit diesem Buch von Ibrahim X. Kendi ergaben die ganzen wütenden Debatten über Rassismus und Cancel Culture auf einmal eine tieferen Sinn. Fast eine Autobiografie, aber nebenbei versteht man die philosophischen Grundlagen der neuen Anti-Rassismus-Diskurse, ihre Vorstellung von Macht – und warum sie aus Gründen der Kohärenz mit einem Fundamentalangriff auf das bisherige wissenschaftliche Denken einhergehen.
Ibrahim X. Kendi: How To Be An Anti-Racist. Aus dem Engl. von Alina Schmidt, btb Verlag 2020. 416 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Das Sortieren von Dingen in die wunderschönen, nachhaltig produzierten Ordner und Folder der Mappenmanufaktur hat im Lockdown für jene innere Klarheit gesorgt, die man sich von Kunst oft wünscht. Mappenmanufaktur.com
Andrian Kreye
EIN GENUSS
In einem normalen Jahr wäre der südafrikanische Jazz-Pianist Nduduzo Makhathini live mit seinen Band-Ritualen, hymnischen Harmonien und frenetischen Improvisationen ein Star geworden. Sein erstes internationales Album ist der Beweis.
Nduduzo Makhathini: Modes of Communication. Blue Note, CD ca. 15 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Ella Fitzgeralds Grundeinstellung war bis ins Alter „frisch verliebt“. Nicht im Backfischmodus des Pop in Jungs. Ins Leben, in die Musik. Und in Berlin. Das Live-Album, das die Sängerin dort 1960 aufnahm war ein Höhepunkt. Zwei Jahre später kam sie wieder. Die Aufnahme, die nun von diesem Abend herauskam gehört zum Bestgelaunten in der Geschichte des Jazz.
Ella Fitzgerald: The Lost Berlin Tapes. Verve, CD ca. 16, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Liebreiz und Streichersätze sind im Jazz eine Zumutung. Auch Gitarrist Pat Metheny hat damit Schindluder getrieben. Doch diesmal gelingt ihm damit Ultra-Ästhetik.
Pat Metheny: From This Place. Nonesuch, CD ca. 14, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Fünfzig Jahre vor Black Lives Matter inspirierte Martin Luther King Herbie Hancock zu einem „politischen Statement aus Musik“ mit coolem Jazz-Nonett. Das gibt es nun als audiophile Neuauflage in der wunderbaren „Tone Poet“-Serie auf Vinyl.
Herbie Hancock: The Prisoner. Blue Note, Vinyl ca. 35 Euro.
Alex Rühle
EINE HERAUSFORDERUNG
Romane, die versuchen, den Klimawandel zu thematisieren, läppern sich meist zu Parsprotode – wie soll eine einzige Geschichte ein derart globales Problemkonglomerat veranschaulichen? John Freeman hat stattdessen 43 Autorinnen und Autoren gebeten, Essays, Erzählungen, Reportagen aus ihren jeweiligen Weltgegenden zu schreiben. Margaret Atwood schickt ein dystopisches Gedicht aus Kanada, in dem plötzlich extrem trockene Sommer die Ernten zu Staub verwandeln. Burundi, Island, Haiti, Nigeria. Laurent Goff, Sjón, Gaël Faye. Alle spüren sie längst den Wandel, und die kondensierten, jeweils lokal verortbaren Texte ergeben das Mosaik eines riesigen, winzigen blauen Tropfens Erde, der viel zu fragil für die Pandemie namens Mensch ist.
Tales of two Planets, hg. v. John Freeman. Penguin, London. 320 Seiten, 11,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Eine Kulturgeschichte der DDR, kundig und witzig, immer auf Seiten der Verdrängten, Verstummten, mit Blick fürs Skurrile (der Starindianer Gojko Mitić) wie Tragische. Selten so viele Namen notiert, die man jetzt aber unbedingt mal lesen muss: Erich Arendt. Chaim Noll. Oh, und die Gedichte von Inge Müller! Schatzkarte und Reiseführer in eine untergegangene Welt, zugleich ein Antidot gegen Ostalgie und die „Täternähe der deutschen Innerlichkeit“ (Hans Sahl).
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens. Tropen, Berlin 2020. 426 Seiten, 24 Euro.
Felix Stephan
EIN LIEBESBEWEIS
Von Europa als Idee ist oft die Rede, von Europa als ménage à trois aber nur hier: Orlando Figes erzählt anhand dreier Biografien vom Urknall der Moderne als genuin europäischer Angelegenheit. Die Opernsängerin Pauline Viardot, ihren Ehemann Louis Viardot und Turgeniew gründen Europa gewissermaßen nebenbei.
Orlando Figes: Die Europäer. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin, Berlin 2020. 640 Seiten, 34 Euro.
EIN GENUSS
War Flaubert der größte Romancier aller Zeiten? Die Antwort ist womöglich hier zu finden, in Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Éducation sentimentale“.
Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2020, 800 Seiten, 42 Euro.
EINE HILFE
Apropos „Lehrjahre der Männlichkeit“: Niemand schreibt derzeit so erhellend über sein Leben als Mann wie der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner.
Ben Lerner: Die Topeka Schule. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp, Berlin 2020. 395 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
An den Skandal, dass die Gedichte von Elke Erb jahrelang praktisch vergriffen waren, hatte man sich fast gewöhnt. Jetzt gibt es endlich eine neue Sammlung.
Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2020. 210 Seiten, 20 Euro.
Claudia Tieschky
EIN LIEBESBEWEIS
Keiner kann ständig kochen. Gegen den Entzug hilft lesen. Bill Buford, früher Redakteur beim New Yorker, der 2006 seine Abenteuer als Küchen-Picaro in Italien („Hitze“) niederschrieb, zieht nun in „Dreck“ aus, um die französische Küche zu verstehen. Man könnte natürlich auch Alexandre Dumas’ irres „Wörterbuch der Kochkunst“ von 1873 lesen. Aber Bufords Mischung aus Erfahrungsgier und Snobismus ist amüsanter – und perfekt wiedergegeben übrigens in der Stimme von Wiglaf Droste, der „Hitze“ als Hörbuch einsprach.
Bill Buford: Dreck. Übersetzung von Sabine Hübner, Hanser. München 2020. 511 Seiten, 26 Euro. und Bill Buford: Hitze, gekürzte Lesung mit Wiglaf Droste, Hörverlag, München 2008. 4h 5min, 13,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses elegante, kalte Leben schreibender Großstädter der vordigitalen Zeit, erzählt im Jahr 1976 in umwerfend lakonischen Skizzen und Fragmenten. Dazwischen eine erinnerte Emigranten-Vergangenheit. Kann man bei klarstem Verstand irrlichtern, sich in ein anderes Foto von sich selbst denken? Aber ja.
Renata Adler: Rennboot. Aus dem Englischen von Marianne Frisch. Suhrkamp, Berlin 2014. 241 Seiten, 19,95 Euro.
EIN GENUSS
Glenn Gould: So you want to write a fugue? Sozusagen eine Anleitung zum Selbermachen. Weihnachtsmusik für dysfunktionale Zeiten: https://www.youtube.com/watch?v=HkxU6LdSGdY
Alexander Gorkow
EINE WIEDERENTDECKUNG
19 Jahre währte die Liebe zwischen Nadeschda und Ossip Mandelstam unter dem Terror Stalins, bis der Dichter in Sibirien starb. Die neue Übersetzung der „Erinnerungen“ Nadeschda Mandelstams durch Ursula Keller ist ein Schatz; er zeigt die Autorin in der Beobachtung der Schergen und Schleimer als große Reporterin. Nichts bleibt verborgen, auch nicht die mitunter im Schrecken zuckende Komik.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 785 S., 44 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.“ Schmerzhaft, schön und klar erklärt Annie Ernaux in „Die Jahre“ das Wesen des Memoirs. Im nun nachgereichten Band „Die Scham“ glänzt Ernaux erneut in großer, genauer Lakonie.
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 111 Seiten, 18 Euro.
EIN GENUSS
50 grandiose Miniaturen zur deutschen Dichtkunst; luzide, respektlos, immer wieder auch schwer zum Piepen. Die Zielgruppe ist gewaltig: Wer meint, nicht nur gerne zu lesen, sondern auch gut zu schreiben, sollte sich in dieses Buch versenken. #supportyourlocalbookstore
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz – Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt, 650 Seiten, 34 Euro.
Sonja Zekri
EINE WIEDERENTDECKUNG
Burhan Qurbani verlegt den Fall des Franz Biberkopf als Flüchtlingsdrama in den Drogenkiez der Hasenheide. Drei Stunden dauert der Trip aus Farben, Musik und Männerliebe. Über allem: Albrecht Schuch als Reinhold, ein Psychopath mit Laktoseintoleranz.
„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani, DVD (Universal).
EIN AUFREGER
Zwanglos über Kannibalismus schreiben? Geht, die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata macht es vor. „Das Seidenraupenzimmer“ ist eine entgleiste Reise in die Kindheit und die Suche nach dem utopischen Ort Pohapipinpopopia.
Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau, Berlin 2020, 256 Seiten, 20 Euro.
EIN GENUSS
Ein Buch über Lotto, Südsee, Zucker, kurz, über das Begehren. Dorothee Elmiger fügt Literatur, Kino und Geschichte zu einem sinnlichen Tagtraum zusammen.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser, München 2020. 272 S., 23 Euro.
EINE HILFE:
So hängt das also alles zusammen: globales Geld und Häuserkampf, Rendite und Entmietungsschikane. Wolfgang Schorlaus Ermittler trifft in Berlin unter anderem auf eindrucksvolle Kleinsäugetiere.
Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 416 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Das Buch des Jahres, diese Nachkriegsgeschichte des Geistes: Andersch, Heidegger, Adorno, Holthusen, Guggenheimer, Schelsky, Enzensberger, Ortega y Gasset und der eitle Sieburg, der seine Titelgeschichte im Spiegel gleich selber schreiben will. Spoiler: Man (Frau eher nicht) konnte damals vom Feuilleton leben!
Axel Schildt: Medienintellektuelle in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2020. 896 Seiten, 46 Euro.
EINE HILFE
Ein Reigen wie damals bei Schnitzler: Paula, Ludger, Detlev, Jorinde und die anderen. Als Dreingabe: „West und Ost waren Zeichen einer richtigen und einer falschen Lebensweise geworden.“
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Roman. Diogenes, Zürich 2019, jetzt als Taschenbuch: 288 Seiten, 13 Euro.
EIN GENUSS
Als Begleitprogramm zu „Babylon Berlin“: Pflanzenarchitektur, Fotomalerei, Zeitungskunst und dazwischen Oskar Maria Graf, den Daumen im Hosenträger und zwei Bleistifte in der Jackentasche.
Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann: Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre. Hirmer, München 2019. 264 S., 39,90 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Die Geschichte des Guiness-Erben Tara Browne, der im Beatles-Song „A Day In the Life“ stirbt.
Paul Howard: I read the news today, oh boy. Picador, London 2016. 376 S., 18 Euro.
Reinhard J. Brembeck
EINE HILFE
...fürs Leben ist Michel Houellebecq immer, auch in dieser Textsammlung, in der er sich als sympathisch witziger Konservativer (nicht Reaktionär) feiert – gerade wenn er den französischen Staat und ein Krankenhaus anklagt, einen Wachkomapatienten letztlich umgebracht zu haben.
Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Essays. Dumont, Köln, 2020, 23 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
In diesem verpfuschten Beethoven-Jahr: die Live-Einspielung sämtlicher Streichquartette, weltumspannend aufgenommen auf allen fünf Kontinenten, und so gut wie von noch niemanden gespielt. Visionär, wild, zart, tyrannenmörderisch.
Beethoven Around the World. The Complete Stringquartets. Quatuor Ébène. Erato.
EIN GENUSS
Dieser witzige Roman von Mieko Kawakami liefert viel mehr, als sein verkaufsfördernder Machotitel verspricht: alles zwischen Hartz IV, Kapitalismus und Baby.
Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, Köln, 2020. 494 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
...sind die 10370 Scholien, mit denen der radikal reaktionäre Privatgelehrte und Modernefeind Gómez Dávila (1913-1994) die ganze Welt in Aphorismen erklärt.
Nicolás Gómez Dávila: Sämtliche Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Thomas Knefeli u.a. Karolinger, Wien 2020. 920 Seiten, 48 Euro.
Susan Vahabzadeh
EIN GENUSS
Es ist nur ein schmales Bändchen, und doch öffnet Kristen Roupenian in ihrem Buch „Milkwishes“ die Fenster in drei Seelen. Es sind drei Kurzgeschichten, in denen es um Wahrnehmung und Erinnerung geht.
Kristen Roupenian: Milkwishes. Aus dem Englischen von Nella Beljan. Aufbau, Berlin 2020. 80 Seiten, 12 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor dem wahren Genie liegt die Zukunft wie ein offenes Buch. Umberto Eco hatte solch seherische Fähigkeiten – das wird einem klar, liest man die Essays, die er in den Neunzigern geschrieben hat, beispielsweise jenes darüber, woran man einen wiederauferstehenden Faschismus erkennen wird. Er ahnte sogar, dass eine gewisse Verwirrtheit dabei im Spiel sein würde.
Umberto Eco: Der ewige Faschismus.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser 2020, 80 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Filmstar Fabienne (Cathérine Deneuve) hat ihre Memoiren geschrieben, und dabei ist sie so großzügig mit den Tatsachen umgegangen, dass es ihre Tochter (Juliette Binoche) auf die Palme bringt. Hirokazu Kore-edas „La Vérité – Leben und lügen lassen“ ist komisch, rührend – und ein traumhaftes Spielfeld für zwei der ganz großen Damen des französischen Kinos.
La Vérité, mit Ethan Hawke und Ludivine Sagnier. Prokino, DVD oder Blue-ray.
Marie Schmidt
EIN LIEBESBEWEIS
Nancy Cunard, britisches Intello-It-Girl und Verlegerin der literarischen Moderne, verliebte sich 1926 in den schwarzen Pianisten Henry Crowder, war beeindruckt, was sie mit ihm erlebte und ruinierte sich nahezu durch diese Anthologie afroamerikanischer Kunst und Kultur. Hier stilvoll aktualisiert, übersetzt, bebildert.
Karl Bruckmaier (Hg.): Nancy Cunards Negro. Mit einem Fotoessay von Olaf Unverzart.Kursbuch.edition, Hamburg 2020.227 Seiten, 24 Euro.
EIN VERMÖGEN
Eines ganzen, glamourösen, träumerischen, tragischen Lebens Geschichten, von gefühlvoll verstiegen bis parabelhaft präzise. Die kurze ist Clarice Lispectors größte Form: Diese famose Übersetzung neben Kafka ins Regal ordnen.
Clarice Lispector: Sämtliche Erzählungen. I: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. II: Aber es wird regnen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin, München 2019/20. 415 und 281 Seiten, je 24 Euro.
EINE HILFE
Für jeden Klassiker, den jeder schon gelesen hat, kommt der Moment, ihn auch selber zu lesen. Dieses Jahr ist es leider Zeit für Susan Sontags Gedanken, dass auch Viren keinen Sinn haben, aber trotzdem dauernd welchen produzieren.
Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Aus dem Englischen von Karin Kersten, Caroline Neubaur, Holger Fliessbach. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003. 148 Seiten, 9,90 Euro.
Tobias Kniebe
EIN GROSSER SPASS
Die Lacher des Jahres steckten in dieser Verfilmung des halb autobiografischen Romans „How To Build A Girl“ von Caitlin Moran. Ein 16-jähriges Arbeiterklasse-Mädchen auf dem holprigen Weg zur scharfzüngigsten und lustigsten Feministin Englands. Mit Rock’n’Roll, Klassenkampf, Sex und Selbsterkenntnis. Da will man dann auch gleich die Vorlage lesen.
Johanna – Eine (un)gewöhliche Heldin. Regie Coky Giedroyc, mit Beanie Feldstein. Amazon Prime, iTunes etc., 4,99 Euro.
Caitlin Moran: All About A Girl. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Carl’s Books, 2015. 299 Seiten, 18,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mit diesem Buch von Ibrahim X. Kendi ergaben die ganzen wütenden Debatten über Rassismus und Cancel Culture auf einmal eine tieferen Sinn. Fast eine Autobiografie, aber nebenbei versteht man die philosophischen Grundlagen der neuen Anti-Rassismus-Diskurse, ihre Vorstellung von Macht – und warum sie aus Gründen der Kohärenz mit einem Fundamentalangriff auf das bisherige wissenschaftliche Denken einhergehen.
Ibrahim X. Kendi: How To Be An Anti-Racist. Aus dem Engl. von Alina Schmidt, btb Verlag 2020. 416 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Das Sortieren von Dingen in die wunderschönen, nachhaltig produzierten Ordner und Folder der Mappenmanufaktur hat im Lockdown für jene innere Klarheit gesorgt, die man sich von Kunst oft wünscht. Mappenmanufaktur.com
Andrian Kreye
EIN GENUSS
In einem normalen Jahr wäre der südafrikanische Jazz-Pianist Nduduzo Makhathini live mit seinen Band-Ritualen, hymnischen Harmonien und frenetischen Improvisationen ein Star geworden. Sein erstes internationales Album ist der Beweis.
Nduduzo Makhathini: Modes of Communication. Blue Note, CD ca. 15 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Ella Fitzgeralds Grundeinstellung war bis ins Alter „frisch verliebt“. Nicht im Backfischmodus des Pop in Jungs. Ins Leben, in die Musik. Und in Berlin. Das Live-Album, das die Sängerin dort 1960 aufnahm war ein Höhepunkt. Zwei Jahre später kam sie wieder. Die Aufnahme, die nun von diesem Abend herauskam gehört zum Bestgelaunten in der Geschichte des Jazz.
Ella Fitzgerald: The Lost Berlin Tapes. Verve, CD ca. 16, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Liebreiz und Streichersätze sind im Jazz eine Zumutung. Auch Gitarrist Pat Metheny hat damit Schindluder getrieben. Doch diesmal gelingt ihm damit Ultra-Ästhetik.
Pat Metheny: From This Place. Nonesuch, CD ca. 14, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Fünfzig Jahre vor Black Lives Matter inspirierte Martin Luther King Herbie Hancock zu einem „politischen Statement aus Musik“ mit coolem Jazz-Nonett. Das gibt es nun als audiophile Neuauflage in der wunderbaren „Tone Poet“-Serie auf Vinyl.
Herbie Hancock: The Prisoner. Blue Note, Vinyl ca. 35 Euro.
Alex Rühle
EINE HERAUSFORDERUNG
Romane, die versuchen, den Klimawandel zu thematisieren, läppern sich meist zu Parsprotode – wie soll eine einzige Geschichte ein derart globales Problemkonglomerat veranschaulichen? John Freeman hat stattdessen 43 Autorinnen und Autoren gebeten, Essays, Erzählungen, Reportagen aus ihren jeweiligen Weltgegenden zu schreiben. Margaret Atwood schickt ein dystopisches Gedicht aus Kanada, in dem plötzlich extrem trockene Sommer die Ernten zu Staub verwandeln. Burundi, Island, Haiti, Nigeria. Laurent Goff, Sjón, Gaël Faye. Alle spüren sie längst den Wandel, und die kondensierten, jeweils lokal verortbaren Texte ergeben das Mosaik eines riesigen, winzigen blauen Tropfens Erde, der viel zu fragil für die Pandemie namens Mensch ist.
Tales of two Planets, hg. v. John Freeman. Penguin, London. 320 Seiten, 11,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Eine Kulturgeschichte der DDR, kundig und witzig, immer auf Seiten der Verdrängten, Verstummten, mit Blick fürs Skurrile (der Starindianer Gojko Mitić) wie Tragische. Selten so viele Namen notiert, die man jetzt aber unbedingt mal lesen muss: Erich Arendt. Chaim Noll. Oh, und die Gedichte von Inge Müller! Schatzkarte und Reiseführer in eine untergegangene Welt, zugleich ein Antidot gegen Ostalgie und die „Täternähe der deutschen Innerlichkeit“ (Hans Sahl).
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens. Tropen, Berlin 2020. 426 Seiten, 24 Euro.
Felix Stephan
EIN LIEBESBEWEIS
Von Europa als Idee ist oft die Rede, von Europa als ménage à trois aber nur hier: Orlando Figes erzählt anhand dreier Biografien vom Urknall der Moderne als genuin europäischer Angelegenheit. Die Opernsängerin Pauline Viardot, ihren Ehemann Louis Viardot und Turgeniew gründen Europa gewissermaßen nebenbei.
Orlando Figes: Die Europäer. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin, Berlin 2020. 640 Seiten, 34 Euro.
EIN GENUSS
War Flaubert der größte Romancier aller Zeiten? Die Antwort ist womöglich hier zu finden, in Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Éducation sentimentale“.
Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2020, 800 Seiten, 42 Euro.
EINE HILFE
Apropos „Lehrjahre der Männlichkeit“: Niemand schreibt derzeit so erhellend über sein Leben als Mann wie der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner.
Ben Lerner: Die Topeka Schule. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp, Berlin 2020. 395 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
An den Skandal, dass die Gedichte von Elke Erb jahrelang praktisch vergriffen waren, hatte man sich fast gewöhnt. Jetzt gibt es endlich eine neue Sammlung.
Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2020. 210 Seiten, 20 Euro.
Claudia Tieschky
EIN LIEBESBEWEIS
Keiner kann ständig kochen. Gegen den Entzug hilft lesen. Bill Buford, früher Redakteur beim New Yorker, der 2006 seine Abenteuer als Küchen-Picaro in Italien („Hitze“) niederschrieb, zieht nun in „Dreck“ aus, um die französische Küche zu verstehen. Man könnte natürlich auch Alexandre Dumas’ irres „Wörterbuch der Kochkunst“ von 1873 lesen. Aber Bufords Mischung aus Erfahrungsgier und Snobismus ist amüsanter – und perfekt wiedergegeben übrigens in der Stimme von Wiglaf Droste, der „Hitze“ als Hörbuch einsprach.
Bill Buford: Dreck. Übersetzung von Sabine Hübner, Hanser. München 2020. 511 Seiten, 26 Euro. und Bill Buford: Hitze, gekürzte Lesung mit Wiglaf Droste, Hörverlag, München 2008. 4h 5min, 13,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses elegante, kalte Leben schreibender Großstädter der vordigitalen Zeit, erzählt im Jahr 1976 in umwerfend lakonischen Skizzen und Fragmenten. Dazwischen eine erinnerte Emigranten-Vergangenheit. Kann man bei klarstem Verstand irrlichtern, sich in ein anderes Foto von sich selbst denken? Aber ja.
Renata Adler: Rennboot. Aus dem Englischen von Marianne Frisch. Suhrkamp, Berlin 2014. 241 Seiten, 19,95 Euro.
EIN GENUSS
Glenn Gould: So you want to write a fugue? Sozusagen eine Anleitung zum Selbermachen. Weihnachtsmusik für dysfunktionale Zeiten: https://www.youtube.com/watch?v=HkxU6LdSGdY
Alexander Gorkow
EINE WIEDERENTDECKUNG
19 Jahre währte die Liebe zwischen Nadeschda und Ossip Mandelstam unter dem Terror Stalins, bis der Dichter in Sibirien starb. Die neue Übersetzung der „Erinnerungen“ Nadeschda Mandelstams durch Ursula Keller ist ein Schatz; er zeigt die Autorin in der Beobachtung der Schergen und Schleimer als große Reporterin. Nichts bleibt verborgen, auch nicht die mitunter im Schrecken zuckende Komik.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 785 S., 44 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.“ Schmerzhaft, schön und klar erklärt Annie Ernaux in „Die Jahre“ das Wesen des Memoirs. Im nun nachgereichten Band „Die Scham“ glänzt Ernaux erneut in großer, genauer Lakonie.
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 111 Seiten, 18 Euro.
EIN GENUSS
50 grandiose Miniaturen zur deutschen Dichtkunst; luzide, respektlos, immer wieder auch schwer zum Piepen. Die Zielgruppe ist gewaltig: Wer meint, nicht nur gerne zu lesen, sondern auch gut zu schreiben, sollte sich in dieses Buch versenken. #supportyourlocalbookstore
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz – Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt, 650 Seiten, 34 Euro.
Sonja Zekri
EINE WIEDERENTDECKUNG
Burhan Qurbani verlegt den Fall des Franz Biberkopf als Flüchtlingsdrama in den Drogenkiez der Hasenheide. Drei Stunden dauert der Trip aus Farben, Musik und Männerliebe. Über allem: Albrecht Schuch als Reinhold, ein Psychopath mit Laktoseintoleranz.
„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani, DVD (Universal).
EIN AUFREGER
Zwanglos über Kannibalismus schreiben? Geht, die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata macht es vor. „Das Seidenraupenzimmer“ ist eine entgleiste Reise in die Kindheit und die Suche nach dem utopischen Ort Pohapipinpopopia.
Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau, Berlin 2020, 256 Seiten, 20 Euro.
EIN GENUSS
Ein Buch über Lotto, Südsee, Zucker, kurz, über das Begehren. Dorothee Elmiger fügt Literatur, Kino und Geschichte zu einem sinnlichen Tagtraum zusammen.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser, München 2020. 272 S., 23 Euro.
EINE HILFE:
So hängt das also alles zusammen: globales Geld und Häuserkampf, Rendite und Entmietungsschikane. Wolfgang Schorlaus Ermittler trifft in Berlin unter anderem auf eindrucksvolle Kleinsäugetiere.
Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 416 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Über Flauberts anderen Romanen thront neben 'Madame Bovary' die 'Éducation sentimentale' ('Lehrjahre der Männlichkeit'), Flauberts moralische Geschichte über die Männer seiner Generation; sein epochal-kunstvoller Groß- und Desillusionierungsroman mit den vielen beeindruckenden szenischen Tableaus und nicht zuletzt der autobiografischen Grundierung." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 10.12.21
"Funkelnd, frisch und zugleich subtil ... Der Roman, ist wie die Übersetzung, ein absolutes Meisterwerk." Gert Scobel, ZDFkultur 'Dein Buch', 08.10.21
"Eine grandiose Neuübersetzung." Maxim Biller, Süddeutsche Zeitung, 29.12.20
"Eine tolle Neuübersetzung von Elisabeth Edl." Jan Küveler, Die Welt, 29.11.20
"Luxusproblem der Lektüre: Die Anmerkungen machen dem Roman Konkurrenz. Beides nicht zu übertreffen." Ursula März, Die Zeit, 19.11.20
"Elisabeth Edl hat sich der Genauigkeit und dem Rhythmus von Flauberts Prosa aufs Schönste angeschmiegt. ... Ganz zu schweigen von ihrem großartigen Anmerkungsteil, der nicht nur politische Zeithintergründe liefert und eine Vielzahl realer historischer Figuren erklärt, sondern selbst eine Art Flaubert-Wörterbuch ist, eine Werkschau im Kleinen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 13.11.20
"Flauberts Klassiker bietet einen grandiosen Einblick in die Zeit des 19. Jahrhunderts. ... Elisabeth Edls Neuübersetzung ist nun dichter am Original als alle bisherigen. Sie hat sich Flauberts Ethos der Genauigkeit auf die Fahnen geschrieben. Und das ist ein Gewinn." Wolfgang Schneider, Deutschlandfunk Kultur, 28.10.20
"Edls Nachworte könnte man als Einführungsbände jeweils auskoppeln, so reich und fundiert sind sie." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 29.10.20
"Eine großartige Übersetzung von Elisabeth Edl. ... Man bemerkt die Sprachkunst in der Übersetzung ... Ein Genuss." Thedel von Wallmoden, NDR Kultur, 12.10.20
"Elisabeth Edl hat auf großartige Weise übersetzt. Es ist ihr gelungen, diesen ganz und gar in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts verankerten Roman zu einem vollkommen gegenwärtigen Buch zu machen." Ernst Osterkamp, Die Welt, 24.10.20
"Dieser Flaubert wird auf Jahrzehnte der unsere sein. ... Ihre Sensibilität für die Musikalität von Flauberts Sprache, der ja seine Sätze laut deklamierte, sie über die Kehle gleiten ließ, stellt Elisabeth Edl besonders in der berühmten Passage unter Beweis, da Frédéric und die Cocotte Rosanette im Wald von Fontainebleau spazieren ... Hier ist man Flauberts Traum vom Buch über nichts, das nur Musik wäre, nahe." Jürgen Ritte, Süddeutsche Zeitung, 19.10.20
"Schon rein äußerlich eine prachtvolle neue deutsche Ausgabe. ... Gedruckt und ausgestattet wie zu Zeiten, als es noch einen Unterschied zwischen Hard- und Paperbacks gegeben hat: wunderbares Papier, Leinen, zwei verschiedenfarbene Lesebändchen, ein ausführliches, kenntnisreiches Nachwort, verlässliche und ausführliche Anmerkungen." Stephan Wackwitz, Die Tageszeitung, 13.10.20
"Elisabeth Edl hat 'L'Éducation sentimentale' in ein makelloses Deutsch übersetzt." Elmar Krekeler, Die Welt, 10.10.20
"Das ist die gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es seit Schönes 'Faust' und Birus' 'Divan' hierzulande zu kaufen gibt. Das 70-seitige Nachwort ist eine brillante Monografie für sich. 150 Seiten umfassende Anmerkungen mit traumhaft gut gemachten Hinweisen zu Text und Textgeschichte ... Erstmals liegt eine Übersetzung vor, die dem Präzisions- und Rhythmus-Fanatiker Flaubert vollauf gerecht wird." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Die 'Lehrjahre' gehören zu den wenigen Romanen, die wahrhaft die Totalität einer Epoche darstellen." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Es ist Flauberts Stil, der uns direkt ins Geschehen zieht, es sind die bis in Detail durchkomponierten Satzverläufe, eine Vielfalt der Register.... So frisch, federnd und plastisch liest sich die 'Education' bei Elisabeth Edl, dass man beim Wiederlesen des Buches nach drei Dekaden glaubt, das Buch zum ersten Mal zu verstehen." Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.20
"Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. ... In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen." Georg Oswald, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.20
"Funkelnd, frisch und zugleich subtil ... Der Roman, ist wie die Übersetzung, ein absolutes Meisterwerk." Gert Scobel, ZDFkultur 'Dein Buch', 08.10.21
"Eine grandiose Neuübersetzung." Maxim Biller, Süddeutsche Zeitung, 29.12.20
"Eine tolle Neuübersetzung von Elisabeth Edl." Jan Küveler, Die Welt, 29.11.20
"Luxusproblem der Lektüre: Die Anmerkungen machen dem Roman Konkurrenz. Beides nicht zu übertreffen." Ursula März, Die Zeit, 19.11.20
"Elisabeth Edl hat sich der Genauigkeit und dem Rhythmus von Flauberts Prosa aufs Schönste angeschmiegt. ... Ganz zu schweigen von ihrem großartigen Anmerkungsteil, der nicht nur politische Zeithintergründe liefert und eine Vielzahl realer historischer Figuren erklärt, sondern selbst eine Art Flaubert-Wörterbuch ist, eine Werkschau im Kleinen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 13.11.20
"Flauberts Klassiker bietet einen grandiosen Einblick in die Zeit des 19. Jahrhunderts. ... Elisabeth Edls Neuübersetzung ist nun dichter am Original als alle bisherigen. Sie hat sich Flauberts Ethos der Genauigkeit auf die Fahnen geschrieben. Und das ist ein Gewinn." Wolfgang Schneider, Deutschlandfunk Kultur, 28.10.20
"Edls Nachworte könnte man als Einführungsbände jeweils auskoppeln, so reich und fundiert sind sie." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 29.10.20
"Eine großartige Übersetzung von Elisabeth Edl. ... Man bemerkt die Sprachkunst in der Übersetzung ... Ein Genuss." Thedel von Wallmoden, NDR Kultur, 12.10.20
"Elisabeth Edl hat auf großartige Weise übersetzt. Es ist ihr gelungen, diesen ganz und gar in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts verankerten Roman zu einem vollkommen gegenwärtigen Buch zu machen." Ernst Osterkamp, Die Welt, 24.10.20
"Dieser Flaubert wird auf Jahrzehnte der unsere sein. ... Ihre Sensibilität für die Musikalität von Flauberts Sprache, der ja seine Sätze laut deklamierte, sie über die Kehle gleiten ließ, stellt Elisabeth Edl besonders in der berühmten Passage unter Beweis, da Frédéric und die Cocotte Rosanette im Wald von Fontainebleau spazieren ... Hier ist man Flauberts Traum vom Buch über nichts, das nur Musik wäre, nahe." Jürgen Ritte, Süddeutsche Zeitung, 19.10.20
"Schon rein äußerlich eine prachtvolle neue deutsche Ausgabe. ... Gedruckt und ausgestattet wie zu Zeiten, als es noch einen Unterschied zwischen Hard- und Paperbacks gegeben hat: wunderbares Papier, Leinen, zwei verschiedenfarbene Lesebändchen, ein ausführliches, kenntnisreiches Nachwort, verlässliche und ausführliche Anmerkungen." Stephan Wackwitz, Die Tageszeitung, 13.10.20
"Elisabeth Edl hat 'L'Éducation sentimentale' in ein makelloses Deutsch übersetzt." Elmar Krekeler, Die Welt, 10.10.20
"Das ist die gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es seit Schönes 'Faust' und Birus' 'Divan' hierzulande zu kaufen gibt. Das 70-seitige Nachwort ist eine brillante Monografie für sich. 150 Seiten umfassende Anmerkungen mit traumhaft gut gemachten Hinweisen zu Text und Textgeschichte ... Erstmals liegt eine Übersetzung vor, die dem Präzisions- und Rhythmus-Fanatiker Flaubert vollauf gerecht wird." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Die 'Lehrjahre' gehören zu den wenigen Romanen, die wahrhaft die Totalität einer Epoche darstellen." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 08.10.20
"Es ist Flauberts Stil, der uns direkt ins Geschehen zieht, es sind die bis in Detail durchkomponierten Satzverläufe, eine Vielfalt der Register.... So frisch, federnd und plastisch liest sich die 'Education' bei Elisabeth Edl, dass man beim Wiederlesen des Buches nach drei Dekaden glaubt, das Buch zum ersten Mal zu verstehen." Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.20
"Elisabeth Edls Übersetzung liest sich, als wäre der Roman auf Deutsch geschrieben worden. ... In dieser Form, in dieser Fassung ist der Roman für unsere Gegenwart wiedergewonnen." Georg Oswald, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.20