Ein Zelt auf einem Hausdach in Berlin - es ist Sommer und Levi ist abgehauen. Zwar wohnt ein paar Stockwerke unter seinem Lager immer noch sein Vater, aber von dem hat er noch nie viel mitbekommen. Und jetzt, nachdem er die Urne seiner Mutter auf der Beerdigung gestohlen hat, kann er sich sowieso nicht mehr blicken lassen. Tigerschatten springen zwischen den Dächern, sitzen Levi im Nacken und streifen um die Urne - derselbe Tiger, der seine Mutter getötet hat, davon ist Levi überzeugt. Im Kampf mit dem Verlust sucht der Junge sich seine eigenen Verbündeten: Da ist der mysteriöse Vincent und da ist Kolja, der Kioskbesitzer, für den Gedächtnisschwund noch immer die beste Art ist, sein Leben zu bewältigen. Was beginnt, ist ein Trip durch die Großstadt, der sich wie ein Roadmovie anfühlt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2019Unter dem Pflaster liegt der Ozean
Carmen Buttjer schickt ihren jugendlichen Helden durch die nächtliche Stadt
Was für ein großartiger Anfang! Schon in der ersten Szene von Carmen Buttjers starkem und eigenwilligem Debütroman "Levi" scheinen die ganze Phantasie, Wut und Dünnhäutigkeit ihres jungen Helden auf. Der klare und lakonische Sprachklang zieht den Leser sofort in seinen Bann, ein Sound, der an Salinger und Mark Twain denken lässt. Denn Levi, der während der Beerdigung seiner Mutter den Boden unter den Füßen verliert und an der groben Gleichgültigkeit seines Vaters und der ganzen Trauergesellschaft verzweifelt, ist ein Seelenverwandter von Holden Caulfield und von Huckleberry Finn, der lieber "zur Hölle geht", als von seiner inneren Moral abzuweichen.
Levi ist elf, mit seiner Familie vor kurzem wieder einmal umgezogen, diesmal nach Berlin, vorher lebten sie in London und Paris. Eigentlich sind ihm alle diese Städte egal, in seiner Phantasie wachsen sie zu einem einzigen Riesendschungel zusammen, mit Häusern, so hoch wie Mammutbäume. Es ist Sommer, und Levi irrt allein durch die Straßen, in denen es aussieht, als lehnten sich die Menschen in der heißen Luft an, "und sobald sich einer von ihnen rührte, schien er damit nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen zu bewegen, als wären alle durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden".
Neugierig und ein bisschen ängstlich bewegt sich Levi durch diese surreal-bedrohliche Marionettenwelt, in der nachts die Schatten zu Tigern werden und die Gerüche sich plötzlich ändern. Seine grandios erzählte, lebensgefährliche Abenteuerreise markiert das - zu frühe - Ende einer Kindheit, denn Levi ist erst elf. Doch ganz neue Gedanken, zweifelnde, trotzige und sehr selbstbewusste, beginnen in seinem Kopf zu kreisen. Mit der Urne seiner Mutter im Rucksack, die er bei der Beerdigung gestohlen hat, ist er abgehauen, zunächst auf das Dach des eignenen Hauses, wo er sich ein Zelt baut. Doch das funktioniert nicht lange.
Carmen Buttjers Debüt ist ein eindrucksvoller Großstadtroman, eine Odyssee mit großartigen Bildern, in denen, sparsam instrumentiert und damit umso wirkungsvoller, sich die Stadt um die eigene Achse zu drehen scheint. Levi hört unter den Straßen leise den Ozean rauschen und sieht bei starkem Regen Haie ihre stumpfen Schnauzen gegen die Abflussgitter drängen. Die Krallen der Tigerschatten, die ihm nachts durch die Stadt folgen, kratzen leise auf dem Pflaster, und jede Kontur scheint wie mit einem Zeichenstift nachgezogen und neu akzentuiert. Levis Einsamkeit eröffnet ihm ganz neue Gefühle, die ihn nicht nur in wilde Phantasien katapultieren, sondern ihn vor allem die Wirklichkeit neu sehen lassen.
Die anonyme Großstadt zeigt sich im Roman aber auch von ihrer zärtlichen, überraschend fürsorglichen Seite. So wird der schweigsame Nachbar Levis erster Freund, der ihn im Auto auf seine zwielichtigen Geschäftstouren mitnimmt und ihm zuhört - eine für den Jungen völlig neue Erfahrung. Und auch Kolja, der den Kiosk in Levis Straße betreibt, nimmt ihn ernst, denn er spürt, welcher Druck auf dem Jungen lastet. Eigentlich ist Kolja Kriegsfotograf, nur wuchsen ihm irgendwann die Gewalt und das Sterben seiner Freunde über den Kopf. Jeden Tag versucht er von neuem, alles zu vergessen - auf dieser Ebene verstehen sich Levi und Kolja wortlos.
Wie Huckleberry Finn, der eigentlich sanfte Rebell wider Willen, wehrt sich Levi mit radikalen Mitteln gegen die Zumutungen seines Lebens, gegen den gewaltsamen Tod der Mutter und die aggressive Hilflosigkeit des Vaters. Dabei spiegelt er wie ein Seismograph die Ressentiments der Menschen, die ihm, einem Kind gegenüber, ganz ungeniert und offen sind. Gerade dass er sich oft kindlich benimmt, die Umwelt ihn auch so wahrnimmt, er aber durch die Wucht der Ereignisse immer mehr gezwungen wird, ganz unkindliche Entscheidungen zu treffen, macht das Besondere dieser Figur aus.
Carmen Buttjer, 1988 geboren und in Finnland aufgewachsen, lebt in Berlin und schreibt für die "Vogue" Kolumnen unter dem Titel "Wenn ich von Sex rede". Es geht darin um den Eigenwillen von Phantasie und Gefühlen, mithin um Menschen, "die aneinander vorbeischreddern und durch das Feuer streunen". Genau davon erzählt ihr Roman, wobei die fein austarierte, wandlungsfähige Erzählperspektive und die präzise Sprache ihm existentielle Schärfe verleihen: Levi ist verletzlich, entschlossen und die liebenswerteste Figur, die seit Wolfgang Herrndorfs "Tschick" die literarische Bühne betreten hat.
NICOLE HENNEBERG
Carmen Buttjer: "Levi".
Roman.
Verlag Galiani, Berlin 2019. 257 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Carmen Buttjer schickt ihren jugendlichen Helden durch die nächtliche Stadt
Was für ein großartiger Anfang! Schon in der ersten Szene von Carmen Buttjers starkem und eigenwilligem Debütroman "Levi" scheinen die ganze Phantasie, Wut und Dünnhäutigkeit ihres jungen Helden auf. Der klare und lakonische Sprachklang zieht den Leser sofort in seinen Bann, ein Sound, der an Salinger und Mark Twain denken lässt. Denn Levi, der während der Beerdigung seiner Mutter den Boden unter den Füßen verliert und an der groben Gleichgültigkeit seines Vaters und der ganzen Trauergesellschaft verzweifelt, ist ein Seelenverwandter von Holden Caulfield und von Huckleberry Finn, der lieber "zur Hölle geht", als von seiner inneren Moral abzuweichen.
Levi ist elf, mit seiner Familie vor kurzem wieder einmal umgezogen, diesmal nach Berlin, vorher lebten sie in London und Paris. Eigentlich sind ihm alle diese Städte egal, in seiner Phantasie wachsen sie zu einem einzigen Riesendschungel zusammen, mit Häusern, so hoch wie Mammutbäume. Es ist Sommer, und Levi irrt allein durch die Straßen, in denen es aussieht, als lehnten sich die Menschen in der heißen Luft an, "und sobald sich einer von ihnen rührte, schien er damit nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen zu bewegen, als wären alle durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden".
Neugierig und ein bisschen ängstlich bewegt sich Levi durch diese surreal-bedrohliche Marionettenwelt, in der nachts die Schatten zu Tigern werden und die Gerüche sich plötzlich ändern. Seine grandios erzählte, lebensgefährliche Abenteuerreise markiert das - zu frühe - Ende einer Kindheit, denn Levi ist erst elf. Doch ganz neue Gedanken, zweifelnde, trotzige und sehr selbstbewusste, beginnen in seinem Kopf zu kreisen. Mit der Urne seiner Mutter im Rucksack, die er bei der Beerdigung gestohlen hat, ist er abgehauen, zunächst auf das Dach des eignenen Hauses, wo er sich ein Zelt baut. Doch das funktioniert nicht lange.
Carmen Buttjers Debüt ist ein eindrucksvoller Großstadtroman, eine Odyssee mit großartigen Bildern, in denen, sparsam instrumentiert und damit umso wirkungsvoller, sich die Stadt um die eigene Achse zu drehen scheint. Levi hört unter den Straßen leise den Ozean rauschen und sieht bei starkem Regen Haie ihre stumpfen Schnauzen gegen die Abflussgitter drängen. Die Krallen der Tigerschatten, die ihm nachts durch die Stadt folgen, kratzen leise auf dem Pflaster, und jede Kontur scheint wie mit einem Zeichenstift nachgezogen und neu akzentuiert. Levis Einsamkeit eröffnet ihm ganz neue Gefühle, die ihn nicht nur in wilde Phantasien katapultieren, sondern ihn vor allem die Wirklichkeit neu sehen lassen.
Die anonyme Großstadt zeigt sich im Roman aber auch von ihrer zärtlichen, überraschend fürsorglichen Seite. So wird der schweigsame Nachbar Levis erster Freund, der ihn im Auto auf seine zwielichtigen Geschäftstouren mitnimmt und ihm zuhört - eine für den Jungen völlig neue Erfahrung. Und auch Kolja, der den Kiosk in Levis Straße betreibt, nimmt ihn ernst, denn er spürt, welcher Druck auf dem Jungen lastet. Eigentlich ist Kolja Kriegsfotograf, nur wuchsen ihm irgendwann die Gewalt und das Sterben seiner Freunde über den Kopf. Jeden Tag versucht er von neuem, alles zu vergessen - auf dieser Ebene verstehen sich Levi und Kolja wortlos.
Wie Huckleberry Finn, der eigentlich sanfte Rebell wider Willen, wehrt sich Levi mit radikalen Mitteln gegen die Zumutungen seines Lebens, gegen den gewaltsamen Tod der Mutter und die aggressive Hilflosigkeit des Vaters. Dabei spiegelt er wie ein Seismograph die Ressentiments der Menschen, die ihm, einem Kind gegenüber, ganz ungeniert und offen sind. Gerade dass er sich oft kindlich benimmt, die Umwelt ihn auch so wahrnimmt, er aber durch die Wucht der Ereignisse immer mehr gezwungen wird, ganz unkindliche Entscheidungen zu treffen, macht das Besondere dieser Figur aus.
Carmen Buttjer, 1988 geboren und in Finnland aufgewachsen, lebt in Berlin und schreibt für die "Vogue" Kolumnen unter dem Titel "Wenn ich von Sex rede". Es geht darin um den Eigenwillen von Phantasie und Gefühlen, mithin um Menschen, "die aneinander vorbeischreddern und durch das Feuer streunen". Genau davon erzählt ihr Roman, wobei die fein austarierte, wandlungsfähige Erzählperspektive und die präzise Sprache ihm existentielle Schärfe verleihen: Levi ist verletzlich, entschlossen und die liebenswerteste Figur, die seit Wolfgang Herrndorfs "Tschick" die literarische Bühne betreten hat.
NICOLE HENNEBERG
Carmen Buttjer: "Levi".
Roman.
Verlag Galiani, Berlin 2019. 257 S., geb., 20,- [Euro].
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Buttjers sprachlicher intelligenz ist es zu verdanken, dass die Düsternis ihrer Geschichte nicht wie Blei zwischen den Zeilen hängt. Man glaubt, beim Lesen in eine Graphic Novel einzutauchen. (...) Zu Recht wurde Buttjer bereits eine Verwandtschaft zu Mark Twain, J.D. Salinger und nicht zuletzt zu Wolfgang Herrndorf (...) bescheinigt. Lange nicht mehr fanden Innen- und Außenwelt in einem Berlin-Roman auf so poetische und packende Weise zueinander. Cosima Lutz Berliner Morgenpost 20191026