Westpreußen, deutsch-polnisches Grenzgebiet, Sommer 1874: Seit Generationen leben Juden und Deutsche, Polen und Zigeuner in dem kleinen Ort Neumühl friedlich zusammen. Doch Johann, national gesinnter Deutscher und Ältester der Baptistengemeinde, sieht sich in seinem Glauben und seinem Geschäft zunehmend bedroht. Schnell ist der Schuldige gefunden: Levin, reicher Mühlenbesitzer und Jude, ist Johann ein Dorn im Auge. Und so öffnet er eines Morgens die Dämme und schwemmt Levins Bootsmühle kurzerhand fort. Die deutschen Gerichte und die Volksstimmung glaubt er auf seiner Seite, doch bald wird er eines Besseren belehrt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2015Das sind Deutsche, das ist schlimmer als fromm
Im Westpreußen des Jahres 1874 herrscht ein hochaktuelles Durcheinander: Johannes Bobrowskis Roman "Levins Mühle"
"Ich kann wohl sagen, ich hatte wirklich Spaß am Erzählen", sagte Johannes Bobrowski im April 1965, knapp fünf Monate vor seinem plötzlichen und viel zu frühen Tod, in einem Interview mit dem Ost-Berliner "Sonntag" über seinen ersten Roman, der im vorangegangenen Herbst erschienen war. Dieses Vergnügen merkt man noch fünfzig Jahre danach dem Buch in jeder Zeile an, und das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Teile der westdeutschen Kritik die 1874 im südlichen Westpreußen angesiedelte Geschichte tatsächlich als Idylle oder Humoreske missverstanden. Die Geschichte beginnt auch ganz gemütlich, wobei aber jedem halbwegs erfahrenen Leser sehr schnell klar wird, dass sie reichlich ungemütlich weitergehen wird.
"34 Sätze über meinen Großvater" heißt Bobrowskis Roman im Untertitel (eine Hommage an die "34 Kapitel aus dem Leben des Tierstimmen-Imitators Ewald K." von Günter Bruno Fuchs), auch wenn der eigentliche Romanstoff aus der erweiterten Verwandtschaftsgeschichte Bobrowskis stammt und mit seinem Großvater nichts zu tun hat. Der Großvater des Romans aber ist eine Figur, die bis heute nicht ausgestorben ist und für die Schnurre oder Idylle so gar nicht taugt. Es handelt sich um jenen Typus des Unternehmers, der aufgrund seiner wirtschaftlichen Macht ein ganzes Dorf oder eine ganze Region beherrscht und nach seinen Vorstellungen zu gestalten versucht, wobei hier und da freundliches Geld in die richtigen Kanäle fließt, um politische Entscheidungen in die gewünschte Richtung zu lenken. "Da soll also doch wohl nicht jeder so leben, wie er will, sondern wie mein Großvater oder der Kossakowski oder der Tomaschewski das wollen. Es ist für den Betreffenden besser. Wenn er die Absicht hat, in Frieden zu leben." So was gibt's noch heute.
Um einen Provinzfürsten geht es also, der das Dorf Neumühl fest im Griff hat. Als der Roman beginnt, ist die Missetat schon geschehen, und jeder weiß eigentlich, wer sie begangen hat. Der Großvater hat eines Nachts die Mühle seines jüdischen Konkurrenten Levin, die ihm wirtschaftlich zu schaffen machte, durch Öffnung eines Stauwehrs einfach absaufen lassen. Ein Unfall eben, so etwas passiert. (Später steht noch ein Haus in Flammen, schon wieder ein Unfall.) Aber der Jude Levin will ihn dafür vor Gericht bringen, dieser Levin, der mit "dieser Marie" liiert ist, die wiederum die Tochter des Zigeuners Habedank ist, der auf Festen und anderswo auf Bestellung Musik macht. Zu Levins Seite gehören auch die beiden polnischen Arbeiter Korrinth und Nieswandt, die beim Großvater in der Mühle beschäftigt sind, der Zirkus von Scarletto mit Frau und Kindern und Tieren, der ewig umherziehende Weiszmantel, "der die Lieder weiß", auch der musikalisch begabte Ex-Lehrer Willuhn, den man seiner Trunksucht wegen aus dem Schuldienst entlassen hat. Künstlerkreise und Boheme also, könnte man zusammenfassend sagen, gescheiterte Existenzen.
Auf der Seite des Großvaters dagegen stehen der Landrat, der Pfarrer Glinski und seine Frau, der Baptistenprediger Feller oder die Ortsgrößen Kossakowski und Tomaschewski. Auch der tumbe Gendarm Krolikowski mit seinem falschen Amtsdeutsch, der später - selbst in korrupte Geschäfte verwickelt - von Schmugglern an einem Baum aufgehängt wird: ein sehr beiläufig erzählter Mord. Bobrowskis Geschichte ist schließlich am östlichen Rand des gerade erst drei Jahre alten Deutschen Reiches angesiedelt, in einer Region, deren Vorgeschichte ganz wesentlich durch den Deutschritterorden geprägt wurde. In dieser Region verhält es sich so: "Die Deutschen heißen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen."
Es geht also nicht nur um wirtschaftliche Macht und Provinzfürstentum, es geht auch um Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Dazu auch um den rechten Glauben: die Baptisten, die Adventisten, auf der anderen Seite "die Katholiken und die Polacken". Fromm ist man und deutsch noch viel mehr: "Das sind nämlich Deutsche, das ist schlimmer als fromm", wie es der Zigeuner Habedank einmal dem Juden Levin erklärt.
Man muss jedoch nicht befürchten, dass Bobrowski uns ein politisch korrektes Lehrstück auftischt, bei dem die Guten und die Bösen klar verteilt sind. Auf welcher Seite etwa die Frau des Großvaters steht, das werden wir nie so genau wissen. Seine Poetik legt der Erzähler gleich auf der ersten Seite offen: "Wenn man ganz genau weiß, was man erzählen will und wieviel davon, das ist, denke ich, nicht in Ordnung. Jedenfalls führt es zu nichts." Dieser Gefahr entgeht der Roman, der genug erzählerischen Überschuss mit sich führt, souverän.
Die Verhältnisse sind also komplizierter, nur eines ist glasklar: Der Großvater muss den anstehenden Prozess so weit wie möglich verschleppen, wenn nicht gar ganz verhindern. Dafür stehen ihm die richtigen Leute zur Verfügung, und schließlich klappt es auch: Levin gibt auf und verlässt das Dorf.
Das ist jedoch noch nicht das Ende. Am Ende nämlich verlässt auch der Großvater das Dorf, nachdem er seine Mühle verkauft hat, und zieht sich als Rentier ins nächste größere Örtchen zurück, 3000 Seelen. Ihm behagt nicht, dass die öffentliche Meinung, wie man heute sagen würde, sich gegen ihn gewendet hat. Das sind nicht nur diese Künstler und Bohemiens, sondern auch welche von "seinen Leuten". Das versteht der Großvater nicht, so wie andere nicht verstehen, "wie man sich anstellt, wenn man etwas hat und es behalten will, noch weniger, wie es einem zusetzt, wenn man mehr haben will, als man hat, schon gar nicht, wie einem zumute ist, der hier sitzt, in diesem Land, und weiß: er ist deutsch wie der Kaiser in Berlin, aber rundherum gibt es nur diese Polen und anderes Volk, Zigeuner und Juden, und nun, Weiszmantel, stell dir mal einen vor, bei dem alles zusammenkommt: behalten wollen, mehr haben wollen, besser sein wollen als alle anderen."
Ebendieser eine wird in diesem Roman uns vorgestellt, mitsamt dem anderen Volk rundherum und mitsamt den eigenen Leuten und denen, die eigentlich dazugehören sollten, es aber nicht tun: Josepha etwa, die Frau des Predigers Feller, der sich sein schönes Anwesen nicht einfach zusammengepredigt hat, sondern zu dem auch freundliche Gelder geflossen sind, Josepha also, die schließlich ins Wasser geht, und ihr Gatte weiß nicht, warum. "Feller errät es nicht. Dass einer an der Miserabilität der anderen stirbt. Ist auch schwer zu verstehen."
Der Erzähler, im auktorialen "Wir", mit viel Ironie, aber nicht mit Überheblichkeit ausgestattet, berichtet durchgängig im Präsens. Also kein Märchen aus uralten Zeiten. Dass der Wagenbach Verlag den Roman jetzt neu auflegt, ist keine Geste von Pietät und Gedenken allein. Zum einen hat Klaus Wagenbach, damals noch bei Fischer, das Manuskript selbst lektoriert. Zum anderen ist die Geschichte selbst hochaktuell. Wie Bobrowski sich diesem dubiosen Kriminalfall (dessen Auflösung jeder kennt und der doch nicht aufgeklärt wird) erzählerisch nähert, wie er Sprechweisen vorführen und Figuren ins Bild rücken kann, hat sehr viel mehr mit Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" zu tun als mit Grass' Danziger Geschichten. Johnson und Bobrowski, das belegt ein kurzer Briefwechsel, haben sich geschätzt. Es gab durchaus eine deutsche Nachkriegsliteratur von Rang. Dieser Roman gehört dazu.
JOCHEN SCHIMMANG
Johannes Bobrowski: "Levins Mühle". 34 Sätze über meinen Großvater.
Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach. Wagenbach Verlag, Berlin 2015. 229 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Westpreußen des Jahres 1874 herrscht ein hochaktuelles Durcheinander: Johannes Bobrowskis Roman "Levins Mühle"
"Ich kann wohl sagen, ich hatte wirklich Spaß am Erzählen", sagte Johannes Bobrowski im April 1965, knapp fünf Monate vor seinem plötzlichen und viel zu frühen Tod, in einem Interview mit dem Ost-Berliner "Sonntag" über seinen ersten Roman, der im vorangegangenen Herbst erschienen war. Dieses Vergnügen merkt man noch fünfzig Jahre danach dem Buch in jeder Zeile an, und das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Teile der westdeutschen Kritik die 1874 im südlichen Westpreußen angesiedelte Geschichte tatsächlich als Idylle oder Humoreske missverstanden. Die Geschichte beginnt auch ganz gemütlich, wobei aber jedem halbwegs erfahrenen Leser sehr schnell klar wird, dass sie reichlich ungemütlich weitergehen wird.
"34 Sätze über meinen Großvater" heißt Bobrowskis Roman im Untertitel (eine Hommage an die "34 Kapitel aus dem Leben des Tierstimmen-Imitators Ewald K." von Günter Bruno Fuchs), auch wenn der eigentliche Romanstoff aus der erweiterten Verwandtschaftsgeschichte Bobrowskis stammt und mit seinem Großvater nichts zu tun hat. Der Großvater des Romans aber ist eine Figur, die bis heute nicht ausgestorben ist und für die Schnurre oder Idylle so gar nicht taugt. Es handelt sich um jenen Typus des Unternehmers, der aufgrund seiner wirtschaftlichen Macht ein ganzes Dorf oder eine ganze Region beherrscht und nach seinen Vorstellungen zu gestalten versucht, wobei hier und da freundliches Geld in die richtigen Kanäle fließt, um politische Entscheidungen in die gewünschte Richtung zu lenken. "Da soll also doch wohl nicht jeder so leben, wie er will, sondern wie mein Großvater oder der Kossakowski oder der Tomaschewski das wollen. Es ist für den Betreffenden besser. Wenn er die Absicht hat, in Frieden zu leben." So was gibt's noch heute.
Um einen Provinzfürsten geht es also, der das Dorf Neumühl fest im Griff hat. Als der Roman beginnt, ist die Missetat schon geschehen, und jeder weiß eigentlich, wer sie begangen hat. Der Großvater hat eines Nachts die Mühle seines jüdischen Konkurrenten Levin, die ihm wirtschaftlich zu schaffen machte, durch Öffnung eines Stauwehrs einfach absaufen lassen. Ein Unfall eben, so etwas passiert. (Später steht noch ein Haus in Flammen, schon wieder ein Unfall.) Aber der Jude Levin will ihn dafür vor Gericht bringen, dieser Levin, der mit "dieser Marie" liiert ist, die wiederum die Tochter des Zigeuners Habedank ist, der auf Festen und anderswo auf Bestellung Musik macht. Zu Levins Seite gehören auch die beiden polnischen Arbeiter Korrinth und Nieswandt, die beim Großvater in der Mühle beschäftigt sind, der Zirkus von Scarletto mit Frau und Kindern und Tieren, der ewig umherziehende Weiszmantel, "der die Lieder weiß", auch der musikalisch begabte Ex-Lehrer Willuhn, den man seiner Trunksucht wegen aus dem Schuldienst entlassen hat. Künstlerkreise und Boheme also, könnte man zusammenfassend sagen, gescheiterte Existenzen.
Auf der Seite des Großvaters dagegen stehen der Landrat, der Pfarrer Glinski und seine Frau, der Baptistenprediger Feller oder die Ortsgrößen Kossakowski und Tomaschewski. Auch der tumbe Gendarm Krolikowski mit seinem falschen Amtsdeutsch, der später - selbst in korrupte Geschäfte verwickelt - von Schmugglern an einem Baum aufgehängt wird: ein sehr beiläufig erzählter Mord. Bobrowskis Geschichte ist schließlich am östlichen Rand des gerade erst drei Jahre alten Deutschen Reiches angesiedelt, in einer Region, deren Vorgeschichte ganz wesentlich durch den Deutschritterorden geprägt wurde. In dieser Region verhält es sich so: "Die Deutschen heißen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen."
Es geht also nicht nur um wirtschaftliche Macht und Provinzfürstentum, es geht auch um Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Dazu auch um den rechten Glauben: die Baptisten, die Adventisten, auf der anderen Seite "die Katholiken und die Polacken". Fromm ist man und deutsch noch viel mehr: "Das sind nämlich Deutsche, das ist schlimmer als fromm", wie es der Zigeuner Habedank einmal dem Juden Levin erklärt.
Man muss jedoch nicht befürchten, dass Bobrowski uns ein politisch korrektes Lehrstück auftischt, bei dem die Guten und die Bösen klar verteilt sind. Auf welcher Seite etwa die Frau des Großvaters steht, das werden wir nie so genau wissen. Seine Poetik legt der Erzähler gleich auf der ersten Seite offen: "Wenn man ganz genau weiß, was man erzählen will und wieviel davon, das ist, denke ich, nicht in Ordnung. Jedenfalls führt es zu nichts." Dieser Gefahr entgeht der Roman, der genug erzählerischen Überschuss mit sich führt, souverän.
Die Verhältnisse sind also komplizierter, nur eines ist glasklar: Der Großvater muss den anstehenden Prozess so weit wie möglich verschleppen, wenn nicht gar ganz verhindern. Dafür stehen ihm die richtigen Leute zur Verfügung, und schließlich klappt es auch: Levin gibt auf und verlässt das Dorf.
Das ist jedoch noch nicht das Ende. Am Ende nämlich verlässt auch der Großvater das Dorf, nachdem er seine Mühle verkauft hat, und zieht sich als Rentier ins nächste größere Örtchen zurück, 3000 Seelen. Ihm behagt nicht, dass die öffentliche Meinung, wie man heute sagen würde, sich gegen ihn gewendet hat. Das sind nicht nur diese Künstler und Bohemiens, sondern auch welche von "seinen Leuten". Das versteht der Großvater nicht, so wie andere nicht verstehen, "wie man sich anstellt, wenn man etwas hat und es behalten will, noch weniger, wie es einem zusetzt, wenn man mehr haben will, als man hat, schon gar nicht, wie einem zumute ist, der hier sitzt, in diesem Land, und weiß: er ist deutsch wie der Kaiser in Berlin, aber rundherum gibt es nur diese Polen und anderes Volk, Zigeuner und Juden, und nun, Weiszmantel, stell dir mal einen vor, bei dem alles zusammenkommt: behalten wollen, mehr haben wollen, besser sein wollen als alle anderen."
Ebendieser eine wird in diesem Roman uns vorgestellt, mitsamt dem anderen Volk rundherum und mitsamt den eigenen Leuten und denen, die eigentlich dazugehören sollten, es aber nicht tun: Josepha etwa, die Frau des Predigers Feller, der sich sein schönes Anwesen nicht einfach zusammengepredigt hat, sondern zu dem auch freundliche Gelder geflossen sind, Josepha also, die schließlich ins Wasser geht, und ihr Gatte weiß nicht, warum. "Feller errät es nicht. Dass einer an der Miserabilität der anderen stirbt. Ist auch schwer zu verstehen."
Der Erzähler, im auktorialen "Wir", mit viel Ironie, aber nicht mit Überheblichkeit ausgestattet, berichtet durchgängig im Präsens. Also kein Märchen aus uralten Zeiten. Dass der Wagenbach Verlag den Roman jetzt neu auflegt, ist keine Geste von Pietät und Gedenken allein. Zum einen hat Klaus Wagenbach, damals noch bei Fischer, das Manuskript selbst lektoriert. Zum anderen ist die Geschichte selbst hochaktuell. Wie Bobrowski sich diesem dubiosen Kriminalfall (dessen Auflösung jeder kennt und der doch nicht aufgeklärt wird) erzählerisch nähert, wie er Sprechweisen vorführen und Figuren ins Bild rücken kann, hat sehr viel mehr mit Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" zu tun als mit Grass' Danziger Geschichten. Johnson und Bobrowski, das belegt ein kurzer Briefwechsel, haben sich geschätzt. Es gab durchaus eine deutsche Nachkriegsliteratur von Rang. Dieser Roman gehört dazu.
JOCHEN SCHIMMANG
Johannes Bobrowski: "Levins Mühle". 34 Sätze über meinen Großvater.
Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach. Wagenbach Verlag, Berlin 2015. 229 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2015Nachrichten aus
dem Schattenland
Vor fünfzig Jahren starb Johannes Bobrowski, der
große Autor zwischen dem deutschen Osten und Westen
VON LOTHAR MÜLLER
In einer biografischen Notiz, die er 1959 für den Süddeutschen Rundfunk verfasste, hat Johannes Bobrowski seine Herkunftswelt so umrissen: „Geboren am 9. 4. 1917 in Tilsit, aus einer Familie, der unter anderem auch Joseph Conrad angehört, aufgewachsen in Dorf und Kleinstadt im ehemals nordöstlichen Winkel Deutschlands, wo Polen, Litauer, Letten, Reste des untergegangenen Pruzzenvolkes, Russen und Deutsche miteinander und durcheinander lebten – die Zigeuner dazu und mit ihnen allen die Judenheit.“
In dieser Herkunftswelt hat Bobrowski die Stoffe für seine Gedichte, Erzählungen und Romane gefunden, aber es gefiel ihm wenig, als „Vertreter eines gemäßigten Exotismus“ angesehen zu werden. Wie er seine Familiengeschichte auf die Seeluft Joseph Conrads hin öffnete, suchte er in der deutschen Literatur des Barock, bei Klopstock, bei Hölderlin, wie in der Weltliteratur, etwa bei Dylan Thomas, nach den Maßstäben für die Verwandlung seiner Stoffe in Literatur, für die Einzeichnung der „nordöstlichen Winkel Deutschlands“ in den internationalen Atlas der Poesie.
Als er am 2. September 1965 starb und wenige Tage später in Berlin-Friedrichshagen begraben wurde, war Bobrowski erst 48 Jahre alt. Seine Bücher waren in der Bundesrepublik wie in der DDR erschienen, 1962 hatte er den Preis der Gruppe 47 bei deren Tagung in Westberlin erhalten, im Frühjahr 1965 den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste in Ost-Berlin. Er war auf dem Weg zu werden, was er nicht sein wollte: ein repräsentativer Schriftsteller, der die imaginäre Planstelle des „gesamtdeutschen Autors“ besetzte.
Nun, fünfzig Jahre nach seinem Tod, ist in der Welt, der Bobrowski entstammte, der politische Atlas, in dem Litauen und Lettland in der Sowjetunion verschwunden waren, zerfallen. Deutschland bereitet sich auf den 25. Jahrestag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor. Eine der Voraussetzungen dafür war die endgültige Anerkennung der deutschen Ostgrenze, die Ratifizierung der politisch-historischen Einsicht, die Bobrowski seinen Darstellungen „der unglücklichen und schuldhaften Begegnung meines Volkes mit den Völkern des Ostens“ zugrunde gelegt hatte: „Es bleibt bei gelegentlichen Hervorbringungen, die von der Erinnerung genährt sind, von der unlösbaren Verwurzelung in einer Landschaft, die mit allem Recht verloren ist.“
Als Bobrowskis Roman „Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater“ 1964 zugleich in der Bundesrepublik und der DDR erschien, wurde er bei S. Fischer in Frankfurt am Main von dem Lektor Klaus Wagenbach betreut. In dem eigenen Verlag, den Wagenbach noch im selben Jahr in Berlin gründete, gehörte Bobrowski zu den Schlüsselfiguren. Jetzt ist bei Wagenbach eine Neuauflage des Romans erschienen, in dem der Großvater die Mühle des Juden Levin wegschwemmt, mit der berühmten Suche nach dem ersten Satz der Geschichte: „Die Drewenz ist ein Nebenfluss in Polen. Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich, nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.“
Günter de Bruyn hat 1966 eine freundschaftliche Parodie – oder besser eine Hommage, die zugleich eine Parodie ist – des Anfangs von „Levins Mühle“ geschrieben. Man findet sie in der Anthologie „Sarmatien in Berlin“, die Andreas Degen zur Wirkungsgeschichte Bobrowskis zusammengestellt hat. „Sarmatische Zeit“ (1961) und „Schattenland Ströme“ (1962) hießen die zu Lebzeiten erschienenen Gedichtbände. Sarmatien in Berlin, das ist die Erinnerung an den alten Namen der eurasischen Ebene zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Weichsel und Wolga.
In der Anthologie spricht Russland mit der Stimme Lew Kopelews, der 1941 am nordrussischen Ilmensee dem deutschen Nachrichtenregiment gegenübergestanden hatte, in dem der Gefreite Johannes Bobrowski Dienst tat. Kopelew dankt 1971 Gerhard Wolf für dessen Studie über Bobrowski. Über de Bruyn, Gerhard und Christa Wolf, Sarah Kirsch, über die Mitglieder des Friedrichshagener Dichterkreises, über Volker Braun und Heinz Czechowski bis hin zu Kathrin Schmidt, Ingo Schulze und Durs Grünbein verläuft eine der hier aufgezeigten Wirkungslinien.
Ihr stehen die Besucher und Leser von außerhalb der DDR gegenüber, darunter Günter Bruno Fuchs aus Westberlin und Hubert Fichte aus Hamburg, Günter Grass, der Bobrowski in die „Hundejahre“ hineinschreibt, Enzensberger, der ihn in ein „Sommergedicht“ einspinnt, Michael Hamburger aus England und, immer wieder, Christoph Meckel, der Bobrowski scharf gezeichnete Porträts in Prosa widmet. Und der junge Nicolas Born schreibt 1963 an Bobrowski: „Ich hoffe sehr, daß wir uns bei der nächsten Gelegenheit über das deutsche Problem der Judenvernichtung weiter unterhalten können. Verstehen Sie bitte, daß ich das alles hier und in den letzten Jahren geistig nicht so verarbeiten konnte wie andere Menschen.“
Respektvoll und reserviert war das Verhältnis zwischen Johannes Bobrowski und Paul Celan. Auch er ist in dieser Anthologie vertreten, mit dem Gedicht „Hüttenfenster“ – einem Einspruch gegen deutsche Autoren, die „mit mimetischer Panzerfaustklaue“ die Welt ihrer Opfer im Osten ins Gedicht holen.
Günter Grass schrieb
Bobrowski in seinen Roman
„Hundejahre“ hinein
Johannes Bobrowski:Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater. Roman. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 232 Seiten, 17,90 Euro.
Andreas Degen (Hrsg.):Sarmatien in Berlin. Autoren an, über und gegen Johannes Bobrowski. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2015. 192 S., 19,99 Euro.
Dichter-Duo: Johannes Bobrowski (rechts) und Günter Grass im September 1964 bei der Tagung der Gruppe 47 in Stockholm.
Foto: epd/akg-images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
dem Schattenland
Vor fünfzig Jahren starb Johannes Bobrowski, der
große Autor zwischen dem deutschen Osten und Westen
VON LOTHAR MÜLLER
In einer biografischen Notiz, die er 1959 für den Süddeutschen Rundfunk verfasste, hat Johannes Bobrowski seine Herkunftswelt so umrissen: „Geboren am 9. 4. 1917 in Tilsit, aus einer Familie, der unter anderem auch Joseph Conrad angehört, aufgewachsen in Dorf und Kleinstadt im ehemals nordöstlichen Winkel Deutschlands, wo Polen, Litauer, Letten, Reste des untergegangenen Pruzzenvolkes, Russen und Deutsche miteinander und durcheinander lebten – die Zigeuner dazu und mit ihnen allen die Judenheit.“
In dieser Herkunftswelt hat Bobrowski die Stoffe für seine Gedichte, Erzählungen und Romane gefunden, aber es gefiel ihm wenig, als „Vertreter eines gemäßigten Exotismus“ angesehen zu werden. Wie er seine Familiengeschichte auf die Seeluft Joseph Conrads hin öffnete, suchte er in der deutschen Literatur des Barock, bei Klopstock, bei Hölderlin, wie in der Weltliteratur, etwa bei Dylan Thomas, nach den Maßstäben für die Verwandlung seiner Stoffe in Literatur, für die Einzeichnung der „nordöstlichen Winkel Deutschlands“ in den internationalen Atlas der Poesie.
Als er am 2. September 1965 starb und wenige Tage später in Berlin-Friedrichshagen begraben wurde, war Bobrowski erst 48 Jahre alt. Seine Bücher waren in der Bundesrepublik wie in der DDR erschienen, 1962 hatte er den Preis der Gruppe 47 bei deren Tagung in Westberlin erhalten, im Frühjahr 1965 den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste in Ost-Berlin. Er war auf dem Weg zu werden, was er nicht sein wollte: ein repräsentativer Schriftsteller, der die imaginäre Planstelle des „gesamtdeutschen Autors“ besetzte.
Nun, fünfzig Jahre nach seinem Tod, ist in der Welt, der Bobrowski entstammte, der politische Atlas, in dem Litauen und Lettland in der Sowjetunion verschwunden waren, zerfallen. Deutschland bereitet sich auf den 25. Jahrestag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor. Eine der Voraussetzungen dafür war die endgültige Anerkennung der deutschen Ostgrenze, die Ratifizierung der politisch-historischen Einsicht, die Bobrowski seinen Darstellungen „der unglücklichen und schuldhaften Begegnung meines Volkes mit den Völkern des Ostens“ zugrunde gelegt hatte: „Es bleibt bei gelegentlichen Hervorbringungen, die von der Erinnerung genährt sind, von der unlösbaren Verwurzelung in einer Landschaft, die mit allem Recht verloren ist.“
Als Bobrowskis Roman „Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater“ 1964 zugleich in der Bundesrepublik und der DDR erschien, wurde er bei S. Fischer in Frankfurt am Main von dem Lektor Klaus Wagenbach betreut. In dem eigenen Verlag, den Wagenbach noch im selben Jahr in Berlin gründete, gehörte Bobrowski zu den Schlüsselfiguren. Jetzt ist bei Wagenbach eine Neuauflage des Romans erschienen, in dem der Großvater die Mühle des Juden Levin wegschwemmt, mit der berühmten Suche nach dem ersten Satz der Geschichte: „Die Drewenz ist ein Nebenfluss in Polen. Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich, nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.“
Günter de Bruyn hat 1966 eine freundschaftliche Parodie – oder besser eine Hommage, die zugleich eine Parodie ist – des Anfangs von „Levins Mühle“ geschrieben. Man findet sie in der Anthologie „Sarmatien in Berlin“, die Andreas Degen zur Wirkungsgeschichte Bobrowskis zusammengestellt hat. „Sarmatische Zeit“ (1961) und „Schattenland Ströme“ (1962) hießen die zu Lebzeiten erschienenen Gedichtbände. Sarmatien in Berlin, das ist die Erinnerung an den alten Namen der eurasischen Ebene zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Weichsel und Wolga.
In der Anthologie spricht Russland mit der Stimme Lew Kopelews, der 1941 am nordrussischen Ilmensee dem deutschen Nachrichtenregiment gegenübergestanden hatte, in dem der Gefreite Johannes Bobrowski Dienst tat. Kopelew dankt 1971 Gerhard Wolf für dessen Studie über Bobrowski. Über de Bruyn, Gerhard und Christa Wolf, Sarah Kirsch, über die Mitglieder des Friedrichshagener Dichterkreises, über Volker Braun und Heinz Czechowski bis hin zu Kathrin Schmidt, Ingo Schulze und Durs Grünbein verläuft eine der hier aufgezeigten Wirkungslinien.
Ihr stehen die Besucher und Leser von außerhalb der DDR gegenüber, darunter Günter Bruno Fuchs aus Westberlin und Hubert Fichte aus Hamburg, Günter Grass, der Bobrowski in die „Hundejahre“ hineinschreibt, Enzensberger, der ihn in ein „Sommergedicht“ einspinnt, Michael Hamburger aus England und, immer wieder, Christoph Meckel, der Bobrowski scharf gezeichnete Porträts in Prosa widmet. Und der junge Nicolas Born schreibt 1963 an Bobrowski: „Ich hoffe sehr, daß wir uns bei der nächsten Gelegenheit über das deutsche Problem der Judenvernichtung weiter unterhalten können. Verstehen Sie bitte, daß ich das alles hier und in den letzten Jahren geistig nicht so verarbeiten konnte wie andere Menschen.“
Respektvoll und reserviert war das Verhältnis zwischen Johannes Bobrowski und Paul Celan. Auch er ist in dieser Anthologie vertreten, mit dem Gedicht „Hüttenfenster“ – einem Einspruch gegen deutsche Autoren, die „mit mimetischer Panzerfaustklaue“ die Welt ihrer Opfer im Osten ins Gedicht holen.
Günter Grass schrieb
Bobrowski in seinen Roman
„Hundejahre“ hinein
Johannes Bobrowski:Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater. Roman. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 232 Seiten, 17,90 Euro.
Andreas Degen (Hrsg.):Sarmatien in Berlin. Autoren an, über und gegen Johannes Bobrowski. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2015. 192 S., 19,99 Euro.
Dichter-Duo: Johannes Bobrowski (rechts) und Günter Grass im September 1964 bei der Tagung der Gruppe 47 in Stockholm.
Foto: epd/akg-images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Durch diesen Autor habe ich zum ersten Mal erfahren, wie rein Literatur sein kann - im Sinne von reiner Malerei: ganz aus der Farbe gearbeitet, ohne Zeichnung.« Ingo Schulze über Levins Mühle in der Serie »Mein Jahrhundertbuch« in DIE ZEIT