Als der elfjährige Lev über Wochen ans Bett gefesselt ist, wird ausgerechnet die schlaue, aber von allen gemiedene Kato geschickt, um ihm die Hausaufgaben zu bringen. Zwischen dem ungleichen Paar entsteht eine unverbrüchliche Verbindung, die den beiden Heranwachsenden im kommunistischen Vielvölkerstaat Rumänien Halt bietet. Ein halbes Leben später läuft Lev noch immer die Pfade ihrer Kindheit ab, während Kato schon vor Jahren in den Westen aufgebrochen ist. Geblieben sind Lev nur ihre gezeichneten Postkarten aus ganz Europa. Bis ihn eines Tages eine Karte aus Zürich erreicht, darauf nur ein einziger Satz: »Wann kommst du?«
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Lennart Laberenz zeigt sich bezaubert von Iris Wolffs neuem Roman "Lichtungen", der erzählerisch den Norden Rumäniens, des Heimatlandes der in Berlin lebenden Autorin, erkundet. Vordergründig handelt er von der wechselvollen Beziehung zwischen Lev, der unzuverlässigen Erzählstimme, und Kato, mit der er seit Kindertagen verbunden ist. Zugleich ist der Roman jedoch, so der Rezensent, als formales Experiment angelegt, das nach dem Verhältnis von Landschaft und Vergangenheit sowie nach der Rolle von Erzählungen fragt: "Lichtung" wird dabei zur Metapher für Erinnerung und, weiß Laberenz, zur Allegorie auf das Schreiben selbst. Wie schon die früheren Romane Wolffs kann der Rezensent das Buch empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2024Ins Früher geführt
Im Roman "Lichtungen" erzählt Iris Wolff von einer rumäniendeutschen Liebe, die über Diktatur, Revolution und Trennung siegt.
Der Titel des neuen Romans von Iris Wolff lautet "Lichtungen". Dieses Wort fällt auf 250 Seiten nur ein einziges Mal und eher beiläufig: "In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie ganz alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig."
Dieser Absatz ist typisch - nicht nur für Iris Wolffs Sprache, die unkapriziös daherkommt und von größter Präzision ist, sondern mehr noch für ihr Interesse am Erzählen. Alle vier vorherigen Romane der 1977 im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) geborenen Autorin, von "Halber Stein" (2012) über "Leuchtende Schatten" und "So tun, als ob es regnet" bis zu "Die Unschärfe der Welt" (2020), sind zum wesentlichen Teil angesiedelt in den Landschaften ihrer Kindheit, die mit der Übersiedelung in die Bundesrepublik 1985 endete. Doch es sind dadurch nicht einfach persönliche Siebenbürger oder Banater Geschichten. Sondern Menschheitserfahrungen, die aufscheinen im Spiegel von Wolffs Herkunft, die ständig dem Risiko des Vergessens ausgesetzt ist, von dem sie ja auch in dem anfangs zitierten Abschnitt spricht. In den Figuren ihrer Bücher, daraus hat diese Autorin nie ein Geheimnis gemacht, sind die Erfahrungen ihrer Familie aufbewahrt, aber über- und umgeformt durch die eigenen des Schreibens, auch wenn Florentine, das poetische Gewissen des vielfach preisgekrönten Romans "Die Unschärfe der Welt", Worten gegenüber "ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen" empfindet. "Die Unschärfe der Aussagen", lesen wir dort weiter, "verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran."
Was heißt das für die Verfasserin? Dass Iris Wolff mit ihren Romanen gegen diese Einschätzung der eigenen Figur antritt. In "Lichtungen" wird das ganz deutlich: Darin wird von Leonhard, genannt Lev (wie das rumänische Wort für Löwe), erzählt, dem Sohn einer rumäniendeutschen Familie, die zur einen Hälfte aus dem Banat und zur anderen aus Siebenbürgen stammt. Als einziges Kind der zweiten Ehe seines früh verstorbenen Vaters ist Lev zu Hause ein Außenseiter, zumal die Mutter nicht von der väterlichen Familie akzeptiert wird, denn der Großvater mütterlicherseits hat das Land verlassen. Zuvor jedoch hatte er gemeinsam mit seinem jungen Enkel noch einen Kuraufenthalt absolviert, während dem Lev ein traumatisches Erlebnis widerfuhr.
Dieses Bild, so sagt Iris Wolff, habe am Anfang ihres Schreibens gestanden: "Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann." Doch bis es dahin kommt, sind schon fast zweihundert Seiten um. Nicht, weil die Vorgeschichte so viel Platz beansprucht hätte, sondern weil "Lichtungen" rückwärts erzählt: vom Enddreißiger Lev, der in Zürich seine frühere Mitschülerin Kato wiedertrifft, in die er sich als bettlägriges Kind verliebt hat, über den jungen Mann im noch von Ceausescu beherrschten Rumänien, der sich im Sägewerk verdingt und Kato verliert, bis eben zum Knaben, dessen erste Elementarerfahrung der Tod des Vaters ist und der im Leben darauf wartet, dass eintritt, was der geflohene Großvater ihm noch prophezeit hat: "Irgendwann, davon war Ferry überzeugt, würde es eine Frau in Levs Leben geben, die er nicht gehen lassen dürfe. Für die sich das Warten lohne, jedes Wagnis, jede Zeit." Die Geschichte dieser großen Liebe heißt "Lichtungen".
Auch deren einzelne Szenen sind über die Zeit verstreut, fast vierzig Jahre dies- und jenseits des Einschnitts der rumänischen Revolution von 1989, der aber selbst kein Kapitel bekommt. Nachher - das ist eine Welt, die Lev plötzlich offensteht, in der er aber nichts zu suchen hat, solange er nicht Kato sucht. Vorher - das ist das ländliche Rumänien, in dem die deutsche Volksgruppe auf Abruf lebt und die rumänische nur auf deren Auswanderung wartet. "Er spricht schon mit der Überlegenheit des Siegers", sagt der Großvater über einen Rumänen: "Er muss nur warten, wir werden freiwillig gehen; sobald wir können, werden wir gehen, es wird kein halten geben."
Iris Wolffs großes Thema ist die Erfahrung einer fremden Existenz in der eigenen Heimat. Als Angehörige der deutschen Volksgruppe erlebte und erlernte sie in Rumänien den Sprachzauber einer polyglotten Welt. Als Autorin hat sie heute diese Erfahrungen mit im Gepäck und macht aus ihnen Erzählungen. Den Roman "Die Unschärfe der Welt" begann Wolff mit einem Kapitel, das als Überschrift das rumänische Wort "zapada" (Schnee) trug, in "Lichtungen" ist nun jedem der von neun bis eins herabgezählten namenlosen Kapitel eine Art Motto vorangestellt, das jeweils einer anderen Sprache entstammt. Neun Idiome, die selbst Lichtungen sind: Man weiß nie, was man darin findet. Aber alles Zitierte ist wichtig für die Konzeption des Buchs und die Charakteristika seiner Figuren.
Die Liebe zwischen Lev und Kato ist eine große Leidenschaft, die den Doppelsinn dieses deutschen Wortes erfüllt: In der Leidenschaft steckt stets das Leid. Doch mit Ausnahme der Keimzelle des Romans, des "Unfalls", wie Wolff sie nennt, gibt es keine unmittelbare Gewalt, nur latente Bedrohung, erst durch die Büttel des Ceausescu-Regimes und dann durch die Freiheit, die sich Kato gegen sie herausnimmt, während Lev zurückscheut. "Lichtungen" ist mehr als ein weiterer Rumänien-Roman von Iris Wolff. Er ist das Psychogramm einer von unterschiedlichen Diktaturen versehrten Seele, die sich rettet, weil sie warten kann und am Schluss (der den Anfang des Romans darstellt) die gnadenloseste Diktatur abschüttelt: die des eigenen Gefühls, einem anderen Menschen nicht genug sein zu können.
"Lass uns keine Sätze mit 'früher' beginnen", regt Kato an, als sie Lev wiederbegegnet. Danach geht es im Roman immer weiter ins Früher zurück, denn "es gab ein Früher, in dem sie fast alles voneinander gewusst hatten, und das, was jetzt war, musste sich den Vergleich damit gefallen lassen". Wir als Publikum wissen da noch nichts darüber. Doch das wird sich ändern, und die Art, wie Iris Wolff uns dabei ins Früher führt, hält jeden Vergleich aus. Ein großartig gegenwärtiges Buch. ANDREAS PLATTHAUS
Iris Wolff: "Lichtungen". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Roman "Lichtungen" erzählt Iris Wolff von einer rumäniendeutschen Liebe, die über Diktatur, Revolution und Trennung siegt.
Der Titel des neuen Romans von Iris Wolff lautet "Lichtungen". Dieses Wort fällt auf 250 Seiten nur ein einziges Mal und eher beiläufig: "In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie ganz alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig."
Dieser Absatz ist typisch - nicht nur für Iris Wolffs Sprache, die unkapriziös daherkommt und von größter Präzision ist, sondern mehr noch für ihr Interesse am Erzählen. Alle vier vorherigen Romane der 1977 im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) geborenen Autorin, von "Halber Stein" (2012) über "Leuchtende Schatten" und "So tun, als ob es regnet" bis zu "Die Unschärfe der Welt" (2020), sind zum wesentlichen Teil angesiedelt in den Landschaften ihrer Kindheit, die mit der Übersiedelung in die Bundesrepublik 1985 endete. Doch es sind dadurch nicht einfach persönliche Siebenbürger oder Banater Geschichten. Sondern Menschheitserfahrungen, die aufscheinen im Spiegel von Wolffs Herkunft, die ständig dem Risiko des Vergessens ausgesetzt ist, von dem sie ja auch in dem anfangs zitierten Abschnitt spricht. In den Figuren ihrer Bücher, daraus hat diese Autorin nie ein Geheimnis gemacht, sind die Erfahrungen ihrer Familie aufbewahrt, aber über- und umgeformt durch die eigenen des Schreibens, auch wenn Florentine, das poetische Gewissen des vielfach preisgekrönten Romans "Die Unschärfe der Welt", Worten gegenüber "ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen" empfindet. "Die Unschärfe der Aussagen", lesen wir dort weiter, "verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran."
Was heißt das für die Verfasserin? Dass Iris Wolff mit ihren Romanen gegen diese Einschätzung der eigenen Figur antritt. In "Lichtungen" wird das ganz deutlich: Darin wird von Leonhard, genannt Lev (wie das rumänische Wort für Löwe), erzählt, dem Sohn einer rumäniendeutschen Familie, die zur einen Hälfte aus dem Banat und zur anderen aus Siebenbürgen stammt. Als einziges Kind der zweiten Ehe seines früh verstorbenen Vaters ist Lev zu Hause ein Außenseiter, zumal die Mutter nicht von der väterlichen Familie akzeptiert wird, denn der Großvater mütterlicherseits hat das Land verlassen. Zuvor jedoch hatte er gemeinsam mit seinem jungen Enkel noch einen Kuraufenthalt absolviert, während dem Lev ein traumatisches Erlebnis widerfuhr.
Dieses Bild, so sagt Iris Wolff, habe am Anfang ihres Schreibens gestanden: "Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann." Doch bis es dahin kommt, sind schon fast zweihundert Seiten um. Nicht, weil die Vorgeschichte so viel Platz beansprucht hätte, sondern weil "Lichtungen" rückwärts erzählt: vom Enddreißiger Lev, der in Zürich seine frühere Mitschülerin Kato wiedertrifft, in die er sich als bettlägriges Kind verliebt hat, über den jungen Mann im noch von Ceausescu beherrschten Rumänien, der sich im Sägewerk verdingt und Kato verliert, bis eben zum Knaben, dessen erste Elementarerfahrung der Tod des Vaters ist und der im Leben darauf wartet, dass eintritt, was der geflohene Großvater ihm noch prophezeit hat: "Irgendwann, davon war Ferry überzeugt, würde es eine Frau in Levs Leben geben, die er nicht gehen lassen dürfe. Für die sich das Warten lohne, jedes Wagnis, jede Zeit." Die Geschichte dieser großen Liebe heißt "Lichtungen".
Auch deren einzelne Szenen sind über die Zeit verstreut, fast vierzig Jahre dies- und jenseits des Einschnitts der rumänischen Revolution von 1989, der aber selbst kein Kapitel bekommt. Nachher - das ist eine Welt, die Lev plötzlich offensteht, in der er aber nichts zu suchen hat, solange er nicht Kato sucht. Vorher - das ist das ländliche Rumänien, in dem die deutsche Volksgruppe auf Abruf lebt und die rumänische nur auf deren Auswanderung wartet. "Er spricht schon mit der Überlegenheit des Siegers", sagt der Großvater über einen Rumänen: "Er muss nur warten, wir werden freiwillig gehen; sobald wir können, werden wir gehen, es wird kein halten geben."
Iris Wolffs großes Thema ist die Erfahrung einer fremden Existenz in der eigenen Heimat. Als Angehörige der deutschen Volksgruppe erlebte und erlernte sie in Rumänien den Sprachzauber einer polyglotten Welt. Als Autorin hat sie heute diese Erfahrungen mit im Gepäck und macht aus ihnen Erzählungen. Den Roman "Die Unschärfe der Welt" begann Wolff mit einem Kapitel, das als Überschrift das rumänische Wort "zapada" (Schnee) trug, in "Lichtungen" ist nun jedem der von neun bis eins herabgezählten namenlosen Kapitel eine Art Motto vorangestellt, das jeweils einer anderen Sprache entstammt. Neun Idiome, die selbst Lichtungen sind: Man weiß nie, was man darin findet. Aber alles Zitierte ist wichtig für die Konzeption des Buchs und die Charakteristika seiner Figuren.
Die Liebe zwischen Lev und Kato ist eine große Leidenschaft, die den Doppelsinn dieses deutschen Wortes erfüllt: In der Leidenschaft steckt stets das Leid. Doch mit Ausnahme der Keimzelle des Romans, des "Unfalls", wie Wolff sie nennt, gibt es keine unmittelbare Gewalt, nur latente Bedrohung, erst durch die Büttel des Ceausescu-Regimes und dann durch die Freiheit, die sich Kato gegen sie herausnimmt, während Lev zurückscheut. "Lichtungen" ist mehr als ein weiterer Rumänien-Roman von Iris Wolff. Er ist das Psychogramm einer von unterschiedlichen Diktaturen versehrten Seele, die sich rettet, weil sie warten kann und am Schluss (der den Anfang des Romans darstellt) die gnadenloseste Diktatur abschüttelt: die des eigenen Gefühls, einem anderen Menschen nicht genug sein zu können.
"Lass uns keine Sätze mit 'früher' beginnen", regt Kato an, als sie Lev wiederbegegnet. Danach geht es im Roman immer weiter ins Früher zurück, denn "es gab ein Früher, in dem sie fast alles voneinander gewusst hatten, und das, was jetzt war, musste sich den Vergleich damit gefallen lassen". Wir als Publikum wissen da noch nichts darüber. Doch das wird sich ändern, und die Art, wie Iris Wolff uns dabei ins Früher führt, hält jeden Vergleich aus. Ein großartig gegenwärtiges Buch. ANDREAS PLATTHAUS
Iris Wolff: "Lichtungen". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein flirrendes, verzauberndes Licht, wie es in die Tiefe und Ruhe eines dunklen Waldes einzufallen vermag, durchdringt den ganzen Roman von Iris Wolff und verleiht ihm seine besondere Schönheit und Würde.« Ursula Enke, Westpreußen, Sommer 2024 Ursula Enke Westpreußen 20240801
»Iris Wolff ist eine großartige Erzählerin. Sie versteht sich auf die Kunst der anschaulichen und subtilen Charakterzeichnung.« Deutschlandfunk Kultur