Unveröffentlichte Geschichten des Bestsellerautors entdeckt: Erzählungen aus den zwanziger Jahren.Es war der Wendepunkt, bevor er zum Bestsellerautor wurde: Hans Fallada stellte sich 1925 nach Unterschlagungen, mit denen er seine Alkohol- und Morphiumsucht finanzierte, selbst der Polizei. Eine bislang verloren geglaubte Gerichtsakte fördert nun einen unerwarteten literarischen Fund zutage – fünf Geschichten von Fallada, die selbst vor damals tabuisierten Themen nicht haltmachen: Lilly, Marie und Thilde – drei starke Frauen, die sich gegen die vorgezeichneten Lebensmuster auflehnen, während die beiden Außenseiter Pogg und Robinson auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit Zuflucht in einer Gefängniszelle suchen. Bislang gänzlich unveröffentlichte oder nur in Teilen bekannte Geschichten, die Falladas verblüffende Modernität unterstreichen.-
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Die beiden neu entdeckten unter den fünf erschienenen Kurzgeschichten von Hans Fallada liefern keine neuen Einsichten zu Falladas Werk, bestätigen aber dessen schriftstellerisches Talent als "Gefühlschronist", meint Rezensent Christian Metz. Wie er aus den Begleittexten der Rechtsmedizinerin Johanna Preuß-Wössner und dem Fallada-Experten Peter Walther erfährt, ist der Fund der sorgfältigen Aktenführung eines literarisch interessierten Gerichtsgutachters zu verdanken. Die Geschichten erzählen, überwiegend aus weiblicher Perspektive, vom Umbruch in der "Gefühlskultur" in der Weimarer Republik; vom Bestreben, sich aus der für Frauen oft bedrohlichen Maschinerie der Triebe anders als durch die völlige Reglementierung des Körpers zu befreien - die entstehenden Dilemma-Situationen erinnern den Rezensenten an Alfred Döblin oder Irmgard Keun. In den beiden neuentdeckten Geschichten schließlich geht es um die Willkürherrschaft eines Einzelkindes und um radikale Einsamkeit. Keine "Sensationsfunde", aber "hochkonzentrierte Gefühlsfiktionen", schließt Metz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2021Der Apparat
der Liebe
Aus alten Gerichtsakten tauchen neue Erzählungen
von Hans Fallada auf. Sie sind umwerfend
VON THOMAS STEINFELD
Zu den rhetorischen Figuren, zu denen der Schriftsteller Hans Fallada immer wieder greift, wenn er eine Erzählung ihrem Höhepunkt zutreibt, gehört die Ellipse: das Abbrechen, das plötzliche Verstummen inmitten eines Satzes: „Und tausend Hände halten sie, tausend Krämpfe in ihrer Kehle, tausend Schmerzen in ihrem Leib … und nun ein Schmerz nur, schneidend, messerscharf, und Schwärze, immer schneller Schwärze, immer tiefere Schwärze, sie fällt, sie fällt …“
Selbstverständlich wissen die Leser, dass es um eine Vergewaltigung geht. Und ebenso selbstverständlich, wie sie sich ausmalen können, was auf dem Diwan in einem dunklen Zimmer geschieht, ist die Geschichte von „Lilly und ihrem Sklaven“ schon über mehrere Seiten auf die Tat zugelaufen, in der die kaltherzige Heldin, die ihre gesamte Umgebung um jeden Preis beherrschen will, selbst bezwungen wird. Aber so schreibt Hans Fallada. Und eher, als dass man sich über die Vorhersehbarkeit der Ereignisse zu mokieren hätte, wäre zu erkennen, dass das scheinbar Triviale in einem solchen Fall eine Errungenschaft darstellt: Denn vorausgesetzt ist ein Weltzustand, in dem Gemeinheit, Gewalt und Willkür regieren. Das Triviale ist ihm abgetrotzt.
Fünf Erzählungen Hans Falladas enthält der Band „Lilly und ihr Sklave“. Zwei von ihnen werden in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Die drei verbleibenden bieten Bearbeitungen von Texten, die bereits in anderer Gestalt erschienen sind. Zwei sind nur Skizzen von wenigen Seiten Länge. Die drei längeren Texte handeln von einer Form des Missbrauchs anderer Menschen, die gemeinhin als „Liebe“ bezeichnet wird.
„Lilly“ ist das verzogene Mädchen, das nach der Vergewaltigung bei einem todkranken, zynischen Schriftsteller in die Lehre geht, bis es auch ihn an Bosheit übertrifft. In der zweiten Geschichte trägt eine Lehrerin ihre sexuelle Autobiografie vor. Sie beginnt mit der Schändung der Schwester und endet in Gleichgültigkeit: „Ich bin der Täuschungen und der Umwege müde, ich mag mich nicht mehr narren lassen vom Apparat der Liebe. Ich bin müde.“ Und auch die Geschichte von der großen Leidenschaft geht, wie sie gehen muss: erst himmelhoch hinauf und dann abwärts, sehr langsam, sehr tief und quälend gründlich. Selbstredend ist die Idee von der Liebe damit nicht erledigt. Bald regt sie sich von Neuem.
„Nebeneinander gingen sie nach Haus, er in seinem blauen Kittel, schwarz von Ruß und Öl, sie in weißer Bluse und faltigem Rock, umsonst bemüht, Takt zu halten mit seinen weit gespannten Schritten.“ Hans Falladas Figuren sind Typen, eingeschlossen in sich selbst, in ihre Ehe, ihr familiäres Schicksal, in ihre Kleidung, ihren Beruf, ihre Herkunft, ihren Stand. Solche Menschen sieht man heute, falls überhaupt, nur noch selten: Es gibt keine Physiognomien mehr, über die sich ein ganzes Wesen erschließen ließe. Es fehlt das Ständische und mit ihm dessen leiblicher Ausdruck.
Bei Hans Fallada ist es noch gegenwärtig, im Übergang zu einer Welt, die mit der formalen Gleichheit ernst macht: Seine Helden, die weiblichen wie die männlichen, zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass in ihnen das Ständische mit dem Persönlichen kollidiert. Man wird bei ihm nicht Teil der Gesellschaft, ohne sich zugleich einem Zwang zu unterwerfen, und oft kommt dieser Zwang als archaische Gewalt daher, als physische Not, als Hunger, Prügel, Gefangenschaft. Und ist der Held einmal dieser Gewalt begegnet, so trifft sie ihn immer wieder.
Etliche dieser Erfahrungen teilte Hans Fallada, wie die beiden letzten kurzen Geschichten dieser Sammlung zeigen, mit seinen Helden. Auch die übrigen in diesem Buch enthaltenen Geschichten sind unmittelbar mit einer solchen Erfahrung verknüpft: Die fünf Erzählungen, von denen zwei bei dahin unbekannt waren, fanden sich im Frühjahr 2020 in einer Akte, die der Kieler Gerichtsmediziner Ernst Ziemke im Jahr 1926 angelegt hatte.
Rudolf Ditzen, der sich als Schriftsteller Hans Fallada nannte, hatte als Rechnungsführer eines holsteinischen Gutes mehrere Tausend Mark unterschlagen und das Geld innerhalb weniger Tage auf einer wilden Flucht durch Deutschland verprasst, in Bordellen und Kneipen, für Hotelzimmer und Reisen. Schließlich stellte er sich in Berlin der Polizei. „Ich habe unterschlagen, nicht, um Geld an mich zu bringen, sondern um eine lange Gefängnisstrafe zu erhalten“, schreibt er danach einer Verwandten. „Ich sehe darin meine einzige Rettung.“ Der Versuch, die Sozialisation seiner selbst durch Verschärfung des gesellschaftlichen Zwangs voranzutreiben, bringt indessen nicht die erhoffte Läuterung. Immerhin führt er in die Literatur.
Zu den bislang unbekannten Texten der Sammlung gehört ein Essay mit dem Titel „Robinson im Gefängnis“: Ein Mann sitzt in seiner Zelle und beginnt, die ihm abhandengekommene Welt in seiner Fantasie neu zu erschaffen, „schöner, da reiner; reiner, da unabgelenkt“, wie Robinson auf seiner Insel, nur dass die Insel allein in seinem Kopf besteht. Je größer aber die Einsamkeit des neuen Robinson wird, desto größer scheint sein Verlangen nach der verlorenen Welt zu sein: „Als könnte ich diese ganze große Sache lebendig machen, als sei sei sie eben erst geschehen“, wie es in einem späten, autobiografischen Text heißt, der den Titel „Wie ich Schriftsteller wurde“ trägt.
Hans Fallada unterschlug nicht nur ein paar Hundert Mark hier, ein paar Tausend Mark dort. Er unterschlug auch Erfahrungen, zum Nutzen und zur Freude seiner Leser, die Erfahrungen anderer Menschen und die eigenen. Er tat es, um sie erzählen zu können, schöner, reiner, als sie in ihrer wirklichen Gestalt je waren.
In dieser Hinsicht, als Beobachter, der seine gesamte Umgebung in Literatur verwandeln muss, ähnelt er den Flaneuren unter den Schriftstellern seiner Zeit. Nur dass er weniger distanziert als vielmehr gierig war, dass er sich in der Gosse wie auf dem Acker auskannte und dass seine Sammelgebiete nicht nur in der Großstadt lagen, sondern auch das Rittergut in Hinterpommern und die Regionalzeitung in Neumünster umfassten. Wie weit die Sammelgebiete tatsächlich reichten, lässt sich anhand eines kürzlich erschienenen Bandes mit dem Titel „Warnung vor Büchern“ ermessen, in dem, neben der Erinnerung „Wie ich Schriftsteller wurde“, etwa fünfzig kurze Texte Hans Falladas vereint sind. Sie umfassen die feuilletonistische Reflexion über das Schreiben von Dialogen und das einseitig wiedergegebene Telefongespräch, das eine Trikotagen-Verkäuferin mit einer Freundin führt, die Verbindungen zwischen Liebe und Geld betreffend. Zu ihnen gehört eine Erinnerung an eine beinahe fatale Begegnung mit der SA sowie ein später Versuch, das Genre der Kalendergeschichte wiederaufzunehmen.
Einige dieser Texte sind sentimental, andere auf die Pointe hingeschrieben. Aber in den meisten dieser Arbeiten hat Hans Fallada eine Geschichte zu erzählen, die auf eine Erkenntnis zielt. Aus der eigenen Ramponiertheit, aus seinen Erfahrungen, vor allem den schlechten, macht der Autor keinen Hehl, und er tut es auch dann nicht, wenn er in fremden Stimmen spricht: Wie anders sollte der Schriftsteller zu seinem Stoff gekommen sein? Und glücklicherweise scheint Hans Fallada gegen das Pathos der Menschlichkeit gefeit zu sein. Vor dem ebenso naheliegenden wie trüben Gedanken, man habe es doch allenthalben mit Schwerenötern zu tun, schützen ihn Klugheit und Witz.
Unter den literarischen Reflexionen, die der Band „Warnung vor Büchern“ enthält, findet sich ein Feuilleton mit der Überschrift „Was liest man eigentlich auf dem Lande?“ Es sei ein Irrtum zu glauben, dass Trivialromane nur von „Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen nebst körperlichem und seelischem Anhang“ gelesen würden. „Auch der reckenhafte Militarist versinkt in Träumen über den sylphenhaften Schleiergestalten der Kolportage.“
Ein Irrtum ist es aber auch zu glauben, dass die Kolportage grundsätzlich lüge. Die Nähe zum Gerücht, zum Tratsch und zu den faits divers, dem „Vermischten“ in der Zeitung, schließt Wahrheit und Wahrhaftigkeit keineswegs aus. Hans Falladas Geschichten tragen selbst Züge der Kolportage. Sie wollen gemeinverständlich sein, und sie scheuen vor dem ergriffenen Leser nicht zurück. Selten aber verbarg sich in der Darstellung eines Schluchzens so viel Wissen um den Zustand einer ganzen Gesellschaft.
In der Gefängnisstrafe sah
er seine einzige Rettung, in der
Zelle schrieb er unabgelenkt
Ein Irrtum zu glauben, dass
Kolportage immer lüge. Sie
schließt Wahrhaftigkeit nicht aus
Hans Fallada: Lilly und ihr Sklave. Mit unveröffentlichten Erzählungen. Herausgegeben von Johanna Preuß-Wössner und Peter Walther.
Aufbau, Berlin 2021.
272 Seiten, 22 Euro.
Hans Fallada:
Warnung vor Büchern.
Erzählungen und
Berichte. Herausgegeben von Carsten Gansel. Reclam, Ditzingen 2021. 384 Seiten, 7,80 Euro.
Als das Ständische noch stärker an Körpern und Kleidern der Leute abzulesen war: Ein Schuhputzer bedient eine Dame in den 1920er-Jahren auf dem Potsdamer Platz in Berlin.
Foto: picture alliance / akg-images
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der Liebe
Aus alten Gerichtsakten tauchen neue Erzählungen
von Hans Fallada auf. Sie sind umwerfend
VON THOMAS STEINFELD
Zu den rhetorischen Figuren, zu denen der Schriftsteller Hans Fallada immer wieder greift, wenn er eine Erzählung ihrem Höhepunkt zutreibt, gehört die Ellipse: das Abbrechen, das plötzliche Verstummen inmitten eines Satzes: „Und tausend Hände halten sie, tausend Krämpfe in ihrer Kehle, tausend Schmerzen in ihrem Leib … und nun ein Schmerz nur, schneidend, messerscharf, und Schwärze, immer schneller Schwärze, immer tiefere Schwärze, sie fällt, sie fällt …“
Selbstverständlich wissen die Leser, dass es um eine Vergewaltigung geht. Und ebenso selbstverständlich, wie sie sich ausmalen können, was auf dem Diwan in einem dunklen Zimmer geschieht, ist die Geschichte von „Lilly und ihrem Sklaven“ schon über mehrere Seiten auf die Tat zugelaufen, in der die kaltherzige Heldin, die ihre gesamte Umgebung um jeden Preis beherrschen will, selbst bezwungen wird. Aber so schreibt Hans Fallada. Und eher, als dass man sich über die Vorhersehbarkeit der Ereignisse zu mokieren hätte, wäre zu erkennen, dass das scheinbar Triviale in einem solchen Fall eine Errungenschaft darstellt: Denn vorausgesetzt ist ein Weltzustand, in dem Gemeinheit, Gewalt und Willkür regieren. Das Triviale ist ihm abgetrotzt.
Fünf Erzählungen Hans Falladas enthält der Band „Lilly und ihr Sklave“. Zwei von ihnen werden in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Die drei verbleibenden bieten Bearbeitungen von Texten, die bereits in anderer Gestalt erschienen sind. Zwei sind nur Skizzen von wenigen Seiten Länge. Die drei längeren Texte handeln von einer Form des Missbrauchs anderer Menschen, die gemeinhin als „Liebe“ bezeichnet wird.
„Lilly“ ist das verzogene Mädchen, das nach der Vergewaltigung bei einem todkranken, zynischen Schriftsteller in die Lehre geht, bis es auch ihn an Bosheit übertrifft. In der zweiten Geschichte trägt eine Lehrerin ihre sexuelle Autobiografie vor. Sie beginnt mit der Schändung der Schwester und endet in Gleichgültigkeit: „Ich bin der Täuschungen und der Umwege müde, ich mag mich nicht mehr narren lassen vom Apparat der Liebe. Ich bin müde.“ Und auch die Geschichte von der großen Leidenschaft geht, wie sie gehen muss: erst himmelhoch hinauf und dann abwärts, sehr langsam, sehr tief und quälend gründlich. Selbstredend ist die Idee von der Liebe damit nicht erledigt. Bald regt sie sich von Neuem.
„Nebeneinander gingen sie nach Haus, er in seinem blauen Kittel, schwarz von Ruß und Öl, sie in weißer Bluse und faltigem Rock, umsonst bemüht, Takt zu halten mit seinen weit gespannten Schritten.“ Hans Falladas Figuren sind Typen, eingeschlossen in sich selbst, in ihre Ehe, ihr familiäres Schicksal, in ihre Kleidung, ihren Beruf, ihre Herkunft, ihren Stand. Solche Menschen sieht man heute, falls überhaupt, nur noch selten: Es gibt keine Physiognomien mehr, über die sich ein ganzes Wesen erschließen ließe. Es fehlt das Ständische und mit ihm dessen leiblicher Ausdruck.
Bei Hans Fallada ist es noch gegenwärtig, im Übergang zu einer Welt, die mit der formalen Gleichheit ernst macht: Seine Helden, die weiblichen wie die männlichen, zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass in ihnen das Ständische mit dem Persönlichen kollidiert. Man wird bei ihm nicht Teil der Gesellschaft, ohne sich zugleich einem Zwang zu unterwerfen, und oft kommt dieser Zwang als archaische Gewalt daher, als physische Not, als Hunger, Prügel, Gefangenschaft. Und ist der Held einmal dieser Gewalt begegnet, so trifft sie ihn immer wieder.
Etliche dieser Erfahrungen teilte Hans Fallada, wie die beiden letzten kurzen Geschichten dieser Sammlung zeigen, mit seinen Helden. Auch die übrigen in diesem Buch enthaltenen Geschichten sind unmittelbar mit einer solchen Erfahrung verknüpft: Die fünf Erzählungen, von denen zwei bei dahin unbekannt waren, fanden sich im Frühjahr 2020 in einer Akte, die der Kieler Gerichtsmediziner Ernst Ziemke im Jahr 1926 angelegt hatte.
Rudolf Ditzen, der sich als Schriftsteller Hans Fallada nannte, hatte als Rechnungsführer eines holsteinischen Gutes mehrere Tausend Mark unterschlagen und das Geld innerhalb weniger Tage auf einer wilden Flucht durch Deutschland verprasst, in Bordellen und Kneipen, für Hotelzimmer und Reisen. Schließlich stellte er sich in Berlin der Polizei. „Ich habe unterschlagen, nicht, um Geld an mich zu bringen, sondern um eine lange Gefängnisstrafe zu erhalten“, schreibt er danach einer Verwandten. „Ich sehe darin meine einzige Rettung.“ Der Versuch, die Sozialisation seiner selbst durch Verschärfung des gesellschaftlichen Zwangs voranzutreiben, bringt indessen nicht die erhoffte Läuterung. Immerhin führt er in die Literatur.
Zu den bislang unbekannten Texten der Sammlung gehört ein Essay mit dem Titel „Robinson im Gefängnis“: Ein Mann sitzt in seiner Zelle und beginnt, die ihm abhandengekommene Welt in seiner Fantasie neu zu erschaffen, „schöner, da reiner; reiner, da unabgelenkt“, wie Robinson auf seiner Insel, nur dass die Insel allein in seinem Kopf besteht. Je größer aber die Einsamkeit des neuen Robinson wird, desto größer scheint sein Verlangen nach der verlorenen Welt zu sein: „Als könnte ich diese ganze große Sache lebendig machen, als sei sei sie eben erst geschehen“, wie es in einem späten, autobiografischen Text heißt, der den Titel „Wie ich Schriftsteller wurde“ trägt.
Hans Fallada unterschlug nicht nur ein paar Hundert Mark hier, ein paar Tausend Mark dort. Er unterschlug auch Erfahrungen, zum Nutzen und zur Freude seiner Leser, die Erfahrungen anderer Menschen und die eigenen. Er tat es, um sie erzählen zu können, schöner, reiner, als sie in ihrer wirklichen Gestalt je waren.
In dieser Hinsicht, als Beobachter, der seine gesamte Umgebung in Literatur verwandeln muss, ähnelt er den Flaneuren unter den Schriftstellern seiner Zeit. Nur dass er weniger distanziert als vielmehr gierig war, dass er sich in der Gosse wie auf dem Acker auskannte und dass seine Sammelgebiete nicht nur in der Großstadt lagen, sondern auch das Rittergut in Hinterpommern und die Regionalzeitung in Neumünster umfassten. Wie weit die Sammelgebiete tatsächlich reichten, lässt sich anhand eines kürzlich erschienenen Bandes mit dem Titel „Warnung vor Büchern“ ermessen, in dem, neben der Erinnerung „Wie ich Schriftsteller wurde“, etwa fünfzig kurze Texte Hans Falladas vereint sind. Sie umfassen die feuilletonistische Reflexion über das Schreiben von Dialogen und das einseitig wiedergegebene Telefongespräch, das eine Trikotagen-Verkäuferin mit einer Freundin führt, die Verbindungen zwischen Liebe und Geld betreffend. Zu ihnen gehört eine Erinnerung an eine beinahe fatale Begegnung mit der SA sowie ein später Versuch, das Genre der Kalendergeschichte wiederaufzunehmen.
Einige dieser Texte sind sentimental, andere auf die Pointe hingeschrieben. Aber in den meisten dieser Arbeiten hat Hans Fallada eine Geschichte zu erzählen, die auf eine Erkenntnis zielt. Aus der eigenen Ramponiertheit, aus seinen Erfahrungen, vor allem den schlechten, macht der Autor keinen Hehl, und er tut es auch dann nicht, wenn er in fremden Stimmen spricht: Wie anders sollte der Schriftsteller zu seinem Stoff gekommen sein? Und glücklicherweise scheint Hans Fallada gegen das Pathos der Menschlichkeit gefeit zu sein. Vor dem ebenso naheliegenden wie trüben Gedanken, man habe es doch allenthalben mit Schwerenötern zu tun, schützen ihn Klugheit und Witz.
Unter den literarischen Reflexionen, die der Band „Warnung vor Büchern“ enthält, findet sich ein Feuilleton mit der Überschrift „Was liest man eigentlich auf dem Lande?“ Es sei ein Irrtum zu glauben, dass Trivialromane nur von „Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen nebst körperlichem und seelischem Anhang“ gelesen würden. „Auch der reckenhafte Militarist versinkt in Träumen über den sylphenhaften Schleiergestalten der Kolportage.“
Ein Irrtum ist es aber auch zu glauben, dass die Kolportage grundsätzlich lüge. Die Nähe zum Gerücht, zum Tratsch und zu den faits divers, dem „Vermischten“ in der Zeitung, schließt Wahrheit und Wahrhaftigkeit keineswegs aus. Hans Falladas Geschichten tragen selbst Züge der Kolportage. Sie wollen gemeinverständlich sein, und sie scheuen vor dem ergriffenen Leser nicht zurück. Selten aber verbarg sich in der Darstellung eines Schluchzens so viel Wissen um den Zustand einer ganzen Gesellschaft.
In der Gefängnisstrafe sah
er seine einzige Rettung, in der
Zelle schrieb er unabgelenkt
Ein Irrtum zu glauben, dass
Kolportage immer lüge. Sie
schließt Wahrhaftigkeit nicht aus
Hans Fallada: Lilly und ihr Sklave. Mit unveröffentlichten Erzählungen. Herausgegeben von Johanna Preuß-Wössner und Peter Walther.
Aufbau, Berlin 2021.
272 Seiten, 22 Euro.
Hans Fallada:
Warnung vor Büchern.
Erzählungen und
Berichte. Herausgegeben von Carsten Gansel. Reclam, Ditzingen 2021. 384 Seiten, 7,80 Euro.
Als das Ständische noch stärker an Körpern und Kleidern der Leute abzulesen war: Ein Schuhputzer bedient eine Dame in den 1920er-Jahren auf dem Potsdamer Platz in Berlin.
Foto: picture alliance / akg-images
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»Es geht in diesen frühen Erzählungen um die Suche nach der Liebe. Interessanterweise nimmt Fallada dabei meist eine weibliche Perspektive ein. Er lässt seine Protagonistinnen von ihren Versuchen erzählen, das Glück in der Liebe zu finden.« WDR 3 20210525