"Daniel Kehlmann", das war unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen, "scheint alles zu können." Und es stimmt: Er schreibt mit Verve und Erfolg nicht nur Romane, sondern auch über sie."Lob" versammelt seine jüngsten Texte zur Literatur - Rezensionen, Reden, Essays, aber auch eigene Prosastücke, die von Literatur erzählen und, mal mit Bewunderung, mal mit Nachsicht, von ihren jungen und alten Meistern. Doch klug und kenntnisreich von Shakespeare, Kleist oder Thomas Mann, von Beckett, Brecht und Bernhard, von Imre Kertész, Max Goldt oder Stephen King reden ist das eine. Das andere sind die "sehr ernsten Scherze" über alltägliche wie ästhetische Fragen: Soll man von der wohlgepolsterten Demütigung der ersten Lesereisen berichten? Und zugeben, dass alles, was in Büchern steht, einem sowohl wirklicher als auch wahrer erscheint als die aufdringliche, laute und auch ein wenig Angst einflößende Welt? Man soll und muss - auch das zeigt dieses Hörbuch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2010Das Bewusstsein schärfen für die Rätsel der Existenz
Sein Schreibideal ist zugleich auch ein Lebensziel: Daniel Kehlmanns kritische Schriften preisen mit hellem Witz die Klugheit und Klarheit seiner literarischen Vorbilder und plädieren für die Vieldeutigkeit der großen Klassiker.
Man kann sich natürlich fragen, ob Bücher wie dieses tatsächlich notwendig sind. Es versammelt die kleinen und kleinsten Schriften zur Literatur, die Daniel Kehlmann seit 2006 vorgelegt hat, darunter auch manche Rezensionen, die zuerst in dieser Zeitung erschienen sind. Bisher Unveröffentlichtes ist nicht dabei; der umfangreichste Text, die im November 2006 an der Universität Göttingen gehaltenen Poetikvorlesungen, ist ohnehin bereits als eigenes Bändchen publiziert worden. Man hätte diesem locker gesetzten Buch also gern die Zeit gegönnt, weiter zu reifen und an Substanz zu gewinnen; Kehlmanns "Leiden und Größe der Meister" ist es jedenfalls nicht geworden. Aber die vielen Kehlmann-Aficionados bedürfen eben der Fan-Produkte, und als solches tut es ausgezeichnete Dienste. Denn es zeichnet ein angenehmes und nützliches Bild des Autors.
Der Leser des Buches tut gut daran, dessen Titel ernst zu nehmen: Lob. Daniel Kehlmann ist, wenn er über Literatur schreibt, ein Virtuose des Lobs und versteht es ausgezeichnet, die Vorzüge der Schriftsteller, mit denen er sich beschäftigt, zu erfassen und auf den Begriff zu bringen. Zu seinen Stärken gehört also eine entschiedene Neigung zur Positivität. Daraus resultiert aber auch seine Schwäche: Wo er verwirft und verurteilt, was er nicht oft, dann aber mit Überzeugung tut, wird er rasch banal. Denn dort verlässt ihn seine größte schriftstellerische Tugend: die subtile Differenzierungsfähigkeit angesichts des Einzelnen und Inkommensurablen. Sie wird dann einem pauschalisierenden Verwerfungsgestus zum Opfer gebracht.
Man kann das gut an der Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen 2009 studieren, die den Band abschließt. Dort dimmt Kehlmann das Licht so stark herunter, bis er seine Zuhörer in jener Finsternis, in der alle Katzen grau sind, in ein merkwürdig totalitär verfasstes Land, "die deutschen Theater" genannt, schicken kann, in dem ein großer Diktator namens "das Regietheater" sein Unwesen treibt. Mir ist, so weit die deutsche Zunge reicht, weiß Gott schon mancher Regieschrott auf die Nerven gegangen, das von Kehlmann gezeichnete Land kenne ich dennoch nicht. Was an dieser Rede verstimmt, sind nicht Kehlmanns Ärger und sein Geschmack, sondern ist der schriftstellerische Gestus der Entdifferenzierung und Verallgemeinerung.
Lob also! In seiner mit hell leuchtender Sympathie verfassten Kleistpreis-Laudatio auf Max Goldt skizziert Kehlmann ein Lebensziel, das zugleich ein Schreibideal ist: "Klug und klar durch die Welt gehen, aufmerksam und ohne Groll, begleitet von hellem Witz und einer Intelligenz, die kein Vorurteil duldet und keine Phrase". Tatsächlich, so wünschen wir uns unsere Schriftsteller - und mit ebendieser Aufmerksamkeit, diesem hellen Witz und dieser vorurteilsfreien Intelligenz nähert sich Kehlmann den Autoren, denen seine Bewunderung gilt: Truman Capote, J.M. Coetzee, Roberto Bolaño, Knut Hamsun, Samuel Beckett, Imre Kertész. Es ist diese Haltung, aus der er ihnen das Geheimnis ihrer schriftstellerischen Unvergleichlichkeit und die Techniken abgewinnt, auf denen ihre individuelle Nuance beruht. Die Präzision, mit der er dabei verfährt, beruht auf einer eminenten literarischen Metiersicherheit, die diejenige des genuinen Schriftstellers ist; sie fragt nicht nach politischen Haltungen, sondern nach Schreibhaltungen, und dieser praktischen Vertrautheit mit den literarischen Verfahren ist es auch zu verdanken, dass man Kehlmanns Rezensionen mit Gewinn wiederliest.
Charakteristisch hierfür ist Kehlmanns Besprechung von Coetzees "Tagebuch eines schlimmen Jahres", in der er nach der Analyse des komplexen Zusammenspiels der erzählerischen Ebenen konstatiert, es handle sich um einen "bedeutenden Roman", um dann aber doch mit dem Satz zu schließen, als "Verehrer dieses vielleicht größten lebenden Schriftstellers englischer Sprache" wünsche man sich dessen nächstes Buch "doch wieder ein wenig vieldeutiger, hofft man, daß die hier so säuberlich durch Trennlinien abgegrenzten Ebenen dann wieder in eins fallen und es wieder mehr Fragen gibt als Antworten". Mit "Sommer des Lebens", Coetzees nächstem Buch, ist Kehlmanns Wunsch so glanzvoll in Erfüllung gegangen, als habe der eine die Bitte des anderen um erzählerische Vieldeutigkeit tatsächlich vernommen.
Die Schärfung des Bewusstseins für die Vieldeutigkeit, Komplexität und Rätselhaftigkeit des menschlichen Daseins ist es, was Kehlmann an großer Literatur fasziniert; deshalb seine Bewunderung für die Undurchsichtigkeit der Motive des Helden von Knut Hamsuns "Hunger", deshalb sein Plädoyer für das auf der souveränen Beherrschung der erzählerischen Konventionen beruhende "hochexperimentelle Ungetüm" von Roberto Bolaños Roman "2666", deshalb seine Erinnerung an den "Witz und die dunkle Poesie" von Samuel Becketts Roman "Molloy". Und natürlich sind auch seine Reden auf Shakespeare, Kleist und Thomas Mann große Plädoyers für eine Literatur der Vieldeutigkeit, die das Oszillierende, Unenträtselbare und Ausweichende in jeglicher menschlichen Existenz in den Blick nimmt.
So entwickelt denn Kehlmann, indem er sein Lob der Literatur formuliert, letztlich auch seine eigene Schreibästhetik. Vielleicht tut er dies, wenn er über andere Autoren schreibt, sogar schlüssiger und ernsthafter, als wenn er dazu gezwungen wird, über sich selbst zu schreiben. Dann neigt nämlich auch er dazu, ins ästhetische Spiel auszuweichen, wie in dem nicht ganz ohne selbstverliebte Virtuosität inszenierten Selbstgespräch der Göttinger Poetikvorlesung, dessen Essenz sich freilich am Ende doch in einigen robusten Kernformeln zusammenfassen lässt, etwa in dem Bekenntnis zu Romanen als "großen Träumen, in denen alles möglich ist", oder zu einer Poetik des "Spiels mit Wirklichkeit" und des "Brechens von Wirklichkeit" und schließlich zum "gebrochenen Realismus der Gattung". Solche Formeln besagen alles oder eben auch nichts.
Interessanter sind Kehlmanns Beobachtungen zum konkreten Schreibprozess selbst, in denen sich immer dasjenige zu erkennen gibt, was ich seine Metiersicherheit genannt habe. Das gilt zum Beispiel für seine klugen Bemerkungen zur Entwicklung des Schreibens aus der Kraft zur bildlichen Vorstellung, aus dem Visualisierungsvermögen des Autors. Auf ihm beruhen die Stimmigkeit jedes Details in der Erzählung und damit die Schlüssigkeit der Darstellung insgesamt, denn: "Details sind alles." Dass Kehlmann ein Meister in der Plazierung von Details und in der Stimulation der Visualisierungsfähigkeit ist, wird jeder seiner Leser gern eingestehen.
Im Übrigen wirkt Kehlmanns Prosa merkwürdig alterslos; man merkt diesen Texten nicht an, wie jung dieser Autor letztlich noch ist, und auch dies beweist seine Könnerschaft. Allerdings erkennt man seine Jugend immer dann, wenn er nicht lobt, sondern verwirft und dabei seinen Sinn für die Details verliert. Wenn er von der "wohlfeilen Verquältheit deutscher Gegenwartsliteratur" redet und "Lautpoesie und soziales Engagement" als die "zwei bedrückenden Eckpfeiler des radikalen Realismus" verwirft, dann wird man dies jedenfalls mit heiterer Gelassenheit unter der Rubrik "Literarischer Generationenkampf" verbuchen und darauf vertrauen wollen, dass er künftig auch auf diesem Gelände die Details zu ihrem Recht kommen lassen wird. Sonst aber: Lob dem Lobenden.
ERNST OSTERKAMP
Daniel Kehlmann: "Lob". Über Literatur. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 191 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sein Schreibideal ist zugleich auch ein Lebensziel: Daniel Kehlmanns kritische Schriften preisen mit hellem Witz die Klugheit und Klarheit seiner literarischen Vorbilder und plädieren für die Vieldeutigkeit der großen Klassiker.
Man kann sich natürlich fragen, ob Bücher wie dieses tatsächlich notwendig sind. Es versammelt die kleinen und kleinsten Schriften zur Literatur, die Daniel Kehlmann seit 2006 vorgelegt hat, darunter auch manche Rezensionen, die zuerst in dieser Zeitung erschienen sind. Bisher Unveröffentlichtes ist nicht dabei; der umfangreichste Text, die im November 2006 an der Universität Göttingen gehaltenen Poetikvorlesungen, ist ohnehin bereits als eigenes Bändchen publiziert worden. Man hätte diesem locker gesetzten Buch also gern die Zeit gegönnt, weiter zu reifen und an Substanz zu gewinnen; Kehlmanns "Leiden und Größe der Meister" ist es jedenfalls nicht geworden. Aber die vielen Kehlmann-Aficionados bedürfen eben der Fan-Produkte, und als solches tut es ausgezeichnete Dienste. Denn es zeichnet ein angenehmes und nützliches Bild des Autors.
Der Leser des Buches tut gut daran, dessen Titel ernst zu nehmen: Lob. Daniel Kehlmann ist, wenn er über Literatur schreibt, ein Virtuose des Lobs und versteht es ausgezeichnet, die Vorzüge der Schriftsteller, mit denen er sich beschäftigt, zu erfassen und auf den Begriff zu bringen. Zu seinen Stärken gehört also eine entschiedene Neigung zur Positivität. Daraus resultiert aber auch seine Schwäche: Wo er verwirft und verurteilt, was er nicht oft, dann aber mit Überzeugung tut, wird er rasch banal. Denn dort verlässt ihn seine größte schriftstellerische Tugend: die subtile Differenzierungsfähigkeit angesichts des Einzelnen und Inkommensurablen. Sie wird dann einem pauschalisierenden Verwerfungsgestus zum Opfer gebracht.
Man kann das gut an der Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen 2009 studieren, die den Band abschließt. Dort dimmt Kehlmann das Licht so stark herunter, bis er seine Zuhörer in jener Finsternis, in der alle Katzen grau sind, in ein merkwürdig totalitär verfasstes Land, "die deutschen Theater" genannt, schicken kann, in dem ein großer Diktator namens "das Regietheater" sein Unwesen treibt. Mir ist, so weit die deutsche Zunge reicht, weiß Gott schon mancher Regieschrott auf die Nerven gegangen, das von Kehlmann gezeichnete Land kenne ich dennoch nicht. Was an dieser Rede verstimmt, sind nicht Kehlmanns Ärger und sein Geschmack, sondern ist der schriftstellerische Gestus der Entdifferenzierung und Verallgemeinerung.
Lob also! In seiner mit hell leuchtender Sympathie verfassten Kleistpreis-Laudatio auf Max Goldt skizziert Kehlmann ein Lebensziel, das zugleich ein Schreibideal ist: "Klug und klar durch die Welt gehen, aufmerksam und ohne Groll, begleitet von hellem Witz und einer Intelligenz, die kein Vorurteil duldet und keine Phrase". Tatsächlich, so wünschen wir uns unsere Schriftsteller - und mit ebendieser Aufmerksamkeit, diesem hellen Witz und dieser vorurteilsfreien Intelligenz nähert sich Kehlmann den Autoren, denen seine Bewunderung gilt: Truman Capote, J.M. Coetzee, Roberto Bolaño, Knut Hamsun, Samuel Beckett, Imre Kertész. Es ist diese Haltung, aus der er ihnen das Geheimnis ihrer schriftstellerischen Unvergleichlichkeit und die Techniken abgewinnt, auf denen ihre individuelle Nuance beruht. Die Präzision, mit der er dabei verfährt, beruht auf einer eminenten literarischen Metiersicherheit, die diejenige des genuinen Schriftstellers ist; sie fragt nicht nach politischen Haltungen, sondern nach Schreibhaltungen, und dieser praktischen Vertrautheit mit den literarischen Verfahren ist es auch zu verdanken, dass man Kehlmanns Rezensionen mit Gewinn wiederliest.
Charakteristisch hierfür ist Kehlmanns Besprechung von Coetzees "Tagebuch eines schlimmen Jahres", in der er nach der Analyse des komplexen Zusammenspiels der erzählerischen Ebenen konstatiert, es handle sich um einen "bedeutenden Roman", um dann aber doch mit dem Satz zu schließen, als "Verehrer dieses vielleicht größten lebenden Schriftstellers englischer Sprache" wünsche man sich dessen nächstes Buch "doch wieder ein wenig vieldeutiger, hofft man, daß die hier so säuberlich durch Trennlinien abgegrenzten Ebenen dann wieder in eins fallen und es wieder mehr Fragen gibt als Antworten". Mit "Sommer des Lebens", Coetzees nächstem Buch, ist Kehlmanns Wunsch so glanzvoll in Erfüllung gegangen, als habe der eine die Bitte des anderen um erzählerische Vieldeutigkeit tatsächlich vernommen.
Die Schärfung des Bewusstseins für die Vieldeutigkeit, Komplexität und Rätselhaftigkeit des menschlichen Daseins ist es, was Kehlmann an großer Literatur fasziniert; deshalb seine Bewunderung für die Undurchsichtigkeit der Motive des Helden von Knut Hamsuns "Hunger", deshalb sein Plädoyer für das auf der souveränen Beherrschung der erzählerischen Konventionen beruhende "hochexperimentelle Ungetüm" von Roberto Bolaños Roman "2666", deshalb seine Erinnerung an den "Witz und die dunkle Poesie" von Samuel Becketts Roman "Molloy". Und natürlich sind auch seine Reden auf Shakespeare, Kleist und Thomas Mann große Plädoyers für eine Literatur der Vieldeutigkeit, die das Oszillierende, Unenträtselbare und Ausweichende in jeglicher menschlichen Existenz in den Blick nimmt.
So entwickelt denn Kehlmann, indem er sein Lob der Literatur formuliert, letztlich auch seine eigene Schreibästhetik. Vielleicht tut er dies, wenn er über andere Autoren schreibt, sogar schlüssiger und ernsthafter, als wenn er dazu gezwungen wird, über sich selbst zu schreiben. Dann neigt nämlich auch er dazu, ins ästhetische Spiel auszuweichen, wie in dem nicht ganz ohne selbstverliebte Virtuosität inszenierten Selbstgespräch der Göttinger Poetikvorlesung, dessen Essenz sich freilich am Ende doch in einigen robusten Kernformeln zusammenfassen lässt, etwa in dem Bekenntnis zu Romanen als "großen Träumen, in denen alles möglich ist", oder zu einer Poetik des "Spiels mit Wirklichkeit" und des "Brechens von Wirklichkeit" und schließlich zum "gebrochenen Realismus der Gattung". Solche Formeln besagen alles oder eben auch nichts.
Interessanter sind Kehlmanns Beobachtungen zum konkreten Schreibprozess selbst, in denen sich immer dasjenige zu erkennen gibt, was ich seine Metiersicherheit genannt habe. Das gilt zum Beispiel für seine klugen Bemerkungen zur Entwicklung des Schreibens aus der Kraft zur bildlichen Vorstellung, aus dem Visualisierungsvermögen des Autors. Auf ihm beruhen die Stimmigkeit jedes Details in der Erzählung und damit die Schlüssigkeit der Darstellung insgesamt, denn: "Details sind alles." Dass Kehlmann ein Meister in der Plazierung von Details und in der Stimulation der Visualisierungsfähigkeit ist, wird jeder seiner Leser gern eingestehen.
Im Übrigen wirkt Kehlmanns Prosa merkwürdig alterslos; man merkt diesen Texten nicht an, wie jung dieser Autor letztlich noch ist, und auch dies beweist seine Könnerschaft. Allerdings erkennt man seine Jugend immer dann, wenn er nicht lobt, sondern verwirft und dabei seinen Sinn für die Details verliert. Wenn er von der "wohlfeilen Verquältheit deutscher Gegenwartsliteratur" redet und "Lautpoesie und soziales Engagement" als die "zwei bedrückenden Eckpfeiler des radikalen Realismus" verwirft, dann wird man dies jedenfalls mit heiterer Gelassenheit unter der Rubrik "Literarischer Generationenkampf" verbuchen und darauf vertrauen wollen, dass er künftig auch auf diesem Gelände die Details zu ihrem Recht kommen lassen wird. Sonst aber: Lob dem Lobenden.
ERNST OSTERKAMP
Daniel Kehlmann: "Lob". Über Literatur. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 191 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist leicht, sich ein falsches Bild von Daniel Kehlmann zu machen. Schuld daran ist nicht zuletzt - pardon, diesen peinlichen Augenblick müssen wir jetzt leider zusammen durchstehen - sein Äußeres: Diese glatten Haare über dem viel zu jungen Gesicht, die leicht verträumten, weichen Augen, dieser ewige Rollkragenpullover! Daniel Kehlmann sieht, sprechen wir es offen aus, wie ein ewiger Musterschüler aus: wie jemand also, der im Klassenzimmer immer als Erster die Hand zur Höhe reckt. Der brave Daniel brilliert eigentlich in allen Fächern (außer im Turnen). Sein jüngster Essayband, der dann auch noch den schülerhaften Titel "Lob" trägt, verfestigt auf den ersten dummen Blick dazu dieses falsche Bild. Kehlmann findet gut, wen man als gebildeter Mensch im deutschen Sprachraum eben so gut findet - Max Goldt et cetera. Ja und?
Die Wahrheit ist indessen, dass der WELT-Literaturpreisträger nur so aussieht wie ein Musterschüler. Unter seinem Rollkragenpullover aber hat er eine Zwille verborgen, und die verwendet er, um der deutschen Ernsthaftigkeit von hinten heimlich und gemein eins nach dem anderen auf die geben. Außerdem hat dieser vermeintliche Musterschüler ein Geheimnis: Er kann über den Schulhof wegschweben, einfach so, jedenfalls manchmal. Dazu gleich mehr. Zunächst zu den Papierkügelchen.
Also, in einer Geburtstagsansprache zu Ehren von Imre Kértesz, in der Kehlmann viele kluge und ergreifende und auch ein paar adrette Dinge sagt, findet man ganz nebenbei die Formulierung, hier gehe es nicht um die Forderung "nach Aufarbeitung, nach Erinnerungs- oder Trauerarbeit und ähnlichem Kitsch". Kitsch! Aua, das hat gesessen. Aber Kehlmann spannt seine Zwille schon wieder: Als er eine Hommage an Beckett schreibt - auch sie voll kluger und interessanter Beobachtungen - fällt an einer Stelle nebenhin die Bemerkung: Beckett habe keineswegs "das Schweigen selbst, das Schreien der leidenden Kreatur oder die transzendentale Obdachlosigkeit zum Ausdruck gebracht, wie es der Interpretenkitsch mehrerer Jahrzehnte behauptet". Ping, getroffen! Nein, Kehlmann ist nicht brav. Er ist eigentlich und bei Lichte besehen das Gegenteil von brav. Dieser Schriftsteller kann betuliches Geschwätz auf den Tod nicht ausstehen, nur ist er viel zu gut erzogen, als dass er mit angelegter Lanze auf dem hohen Ross der Polemik dagegen zu Felde ziehen würde. Lieber holt er seine kleine Schleuder unter dem Pullover hervor, spannt den Gummi und zieht kichernd ab.
Dann sind da auch noch die Papierflieger. Nehmen wir Thomas Mann, den großen Unausstehlichen. Über ihn ist schon alles gesagt - mit Ausnahme von dem, was Kehlmann über ihn zu sagen hat: Ratsch, reißt er eine Seite mit dem üblichen Blabla ("ironisch, unnahbar, der Goethe des 20. Jahrhunderts") aus dem Fachbuch für Germanistik, faltet sie ordentlich zusammen - und siehe da, wo Kehlmanns Papierflugzeug landet: "Thomas Mann ist unter allen Autoren der Klassischen Moderne der pathetischste, der gefühlunmittelbarste; nur ist er distanzierter als die anderen, weil er mehr zu verbergen hat. Seine Ironie verhüllt einen Erzähler des Rausches und der Entgrenzung, der jede Hauptfigur zuverlässig in eine Lage führt, in der sie die Kontrolle über das eigene Leben verliert." Übrigens und nicht nur nebenbei: Endlich sagt’s hier mal einer, dass das schönste und wunderbarste Buch, das der Zauberer geschrieben hat, nicht die "Buddenbrooks" sind, nicht der "Zauberberg" ist, auch nicht der düstergewaltige "Doktor Faustus", sondern "Joseph und seine Brüder". Kehlmann kommentiert: "... das ungelesene Hauptwerk, der ignorierte Jahrhundertroman, der so leicht der deutschen Literatur eine andere Richtung hätte weisen können ... ein Epos über die Herauslösung des Individuums aus dem archaischen Kollektiv und die dabei wie nebenher sich ereignende Erfindung Gottes - und all das so verspielt und voll Leichtigkeit erzählt, als koste es keine Anstrengung."
Damit wären wir nun bei dem Geheimnis des vermeintlichen Musterschülers Kehlmann angelangt: Dieser Satansbraten und Luftikus geht immer wieder das Wagnis ein, gar nichts zu wiegen. Er erhebt sich - in seinen literarischen Texten sowieso, aber manchmal eben auch in diesen Essays - über alles Erdenschwere, ist geistreich und albern, ist verspielt und bis in die Haarspitzen vergnügt. Der schönste und ergreifendste Essay in diesem Buch, für den hiermit (dank der von Gottes Gnaden an Rezensenten verliehenen diktatorischen Vollmacht) allerstrengster Lesebefehl ergeht, handelt von Shakespeare, genauer: von dessen "Sturm". Ach, wie viele Theateraufführungen haben wir schon über uns ergehen lassen müssen, in denen Prospero ein Faschist, Caliban ein unglückliches Opfer des Kolonialismus und der Luftgeist Ariel ein Symbol der entfremdeten westlichen Technologie war! Schwamm drüber, Kehlmann hält sich mit solchem Unfug gar nicht auf und kommt gleich zum Wesen der Dinge: Prospero ist natürlich Shakespeare selbst, der alte Magier, der noch ein letztes Mal auf die Bühne tritt, um sein Publikum zu verzaubern. Ariel, das flatterhafte Wesen - ein "Spuk von großer Macht und schrecklicher Flüchtigkeit" - ist des Dichters Talent. Und Caliban? Verkörpert einfach alles Schwere: "Kein Monster, auch wenn er so genannt wird, eher ein Spießer, nicht das Böse, eher das Schleppende und das ewig verstockte Ressentiment."
Voilà, das ist die ganze Ästhetik des Daniel Kehlmann. Geschichten erzählend, bricht dieser Schriftsteller die Gesetze der Wirklichkeit, wie es ihm eben in den Kram passt - er fliegt über die Welt weg, in der wir "hölzern, unfrei, uns selbst peinlich und ein Ärgernis" herumhampeln - und bekennt sich dabei ganz offen zum magischen Realismus der südamerikanischen Romanciers. Wie seltsam, dass allerhand Calibans, die als professionelle Literaturkritiker tätig sind, das so selten bemerken: Sie schimpfen Kehlmann überwiegend einen Realisten. Zum Glück trägt er unter seinem Musterschülerrollkragenpullover eine Geheim- und Wunderwaffe, mit der er sich gegen Zumutungen zur Wehr setzen kann.
PS: Selbstverständlich ist in "Lob" auch jene Skandalrede enthalten, in der Kehlmann bei den Salzburger Festspielen sein Kunstbanausentum offenbarte, als er sich gegen das "Regietheater" aussprach. Wir sind natürlich viel zu feige, hier zu schreiben, dass er mit jedem Wort Recht hat. Von uns haben Sie das also nicht gehört.
Von Hannes Stein
Die Wahrheit ist indessen, dass der WELT-Literaturpreisträger nur so aussieht wie ein Musterschüler. Unter seinem Rollkragenpullover aber hat er eine Zwille verborgen, und die verwendet er, um der deutschen Ernsthaftigkeit von hinten heimlich und gemein eins nach dem anderen auf die geben. Außerdem hat dieser vermeintliche Musterschüler ein Geheimnis: Er kann über den Schulhof wegschweben, einfach so, jedenfalls manchmal. Dazu gleich mehr. Zunächst zu den Papierkügelchen.
Also, in einer Geburtstagsansprache zu Ehren von Imre Kértesz, in der Kehlmann viele kluge und ergreifende und auch ein paar adrette Dinge sagt, findet man ganz nebenbei die Formulierung, hier gehe es nicht um die Forderung "nach Aufarbeitung, nach Erinnerungs- oder Trauerarbeit und ähnlichem Kitsch". Kitsch! Aua, das hat gesessen. Aber Kehlmann spannt seine Zwille schon wieder: Als er eine Hommage an Beckett schreibt - auch sie voll kluger und interessanter Beobachtungen - fällt an einer Stelle nebenhin die Bemerkung: Beckett habe keineswegs "das Schweigen selbst, das Schreien der leidenden Kreatur oder die transzendentale Obdachlosigkeit zum Ausdruck gebracht, wie es der Interpretenkitsch mehrerer Jahrzehnte behauptet". Ping, getroffen! Nein, Kehlmann ist nicht brav. Er ist eigentlich und bei Lichte besehen das Gegenteil von brav. Dieser Schriftsteller kann betuliches Geschwätz auf den Tod nicht ausstehen, nur ist er viel zu gut erzogen, als dass er mit angelegter Lanze auf dem hohen Ross der Polemik dagegen zu Felde ziehen würde. Lieber holt er seine kleine Schleuder unter dem Pullover hervor, spannt den Gummi und zieht kichernd ab.
Dann sind da auch noch die Papierflieger. Nehmen wir Thomas Mann, den großen Unausstehlichen. Über ihn ist schon alles gesagt - mit Ausnahme von dem, was Kehlmann über ihn zu sagen hat: Ratsch, reißt er eine Seite mit dem üblichen Blabla ("ironisch, unnahbar, der Goethe des 20. Jahrhunderts") aus dem Fachbuch für Germanistik, faltet sie ordentlich zusammen - und siehe da, wo Kehlmanns Papierflugzeug landet: "Thomas Mann ist unter allen Autoren der Klassischen Moderne der pathetischste, der gefühlunmittelbarste; nur ist er distanzierter als die anderen, weil er mehr zu verbergen hat. Seine Ironie verhüllt einen Erzähler des Rausches und der Entgrenzung, der jede Hauptfigur zuverlässig in eine Lage führt, in der sie die Kontrolle über das eigene Leben verliert." Übrigens und nicht nur nebenbei: Endlich sagt’s hier mal einer, dass das schönste und wunderbarste Buch, das der Zauberer geschrieben hat, nicht die "Buddenbrooks" sind, nicht der "Zauberberg" ist, auch nicht der düstergewaltige "Doktor Faustus", sondern "Joseph und seine Brüder". Kehlmann kommentiert: "... das ungelesene Hauptwerk, der ignorierte Jahrhundertroman, der so leicht der deutschen Literatur eine andere Richtung hätte weisen können ... ein Epos über die Herauslösung des Individuums aus dem archaischen Kollektiv und die dabei wie nebenher sich ereignende Erfindung Gottes - und all das so verspielt und voll Leichtigkeit erzählt, als koste es keine Anstrengung."
Damit wären wir nun bei dem Geheimnis des vermeintlichen Musterschülers Kehlmann angelangt: Dieser Satansbraten und Luftikus geht immer wieder das Wagnis ein, gar nichts zu wiegen. Er erhebt sich - in seinen literarischen Texten sowieso, aber manchmal eben auch in diesen Essays - über alles Erdenschwere, ist geistreich und albern, ist verspielt und bis in die Haarspitzen vergnügt. Der schönste und ergreifendste Essay in diesem Buch, für den hiermit (dank der von Gottes Gnaden an Rezensenten verliehenen diktatorischen Vollmacht) allerstrengster Lesebefehl ergeht, handelt von Shakespeare, genauer: von dessen "Sturm". Ach, wie viele Theateraufführungen haben wir schon über uns ergehen lassen müssen, in denen Prospero ein Faschist, Caliban ein unglückliches Opfer des Kolonialismus und der Luftgeist Ariel ein Symbol der entfremdeten westlichen Technologie war! Schwamm drüber, Kehlmann hält sich mit solchem Unfug gar nicht auf und kommt gleich zum Wesen der Dinge: Prospero ist natürlich Shakespeare selbst, der alte Magier, der noch ein letztes Mal auf die Bühne tritt, um sein Publikum zu verzaubern. Ariel, das flatterhafte Wesen - ein "Spuk von großer Macht und schrecklicher Flüchtigkeit" - ist des Dichters Talent. Und Caliban? Verkörpert einfach alles Schwere: "Kein Monster, auch wenn er so genannt wird, eher ein Spießer, nicht das Böse, eher das Schleppende und das ewig verstockte Ressentiment."
Voilà, das ist die ganze Ästhetik des Daniel Kehlmann. Geschichten erzählend, bricht dieser Schriftsteller die Gesetze der Wirklichkeit, wie es ihm eben in den Kram passt - er fliegt über die Welt weg, in der wir "hölzern, unfrei, uns selbst peinlich und ein Ärgernis" herumhampeln - und bekennt sich dabei ganz offen zum magischen Realismus der südamerikanischen Romanciers. Wie seltsam, dass allerhand Calibans, die als professionelle Literaturkritiker tätig sind, das so selten bemerken: Sie schimpfen Kehlmann überwiegend einen Realisten. Zum Glück trägt er unter seinem Musterschülerrollkragenpullover eine Geheim- und Wunderwaffe, mit der er sich gegen Zumutungen zur Wehr setzen kann.
PS: Selbstverständlich ist in "Lob" auch jene Skandalrede enthalten, in der Kehlmann bei den Salzburger Festspielen sein Kunstbanausentum offenbarte, als er sich gegen das "Regietheater" aussprach. Wir sind natürlich viel zu feige, hier zu schreiben, dass er mit jedem Wort Recht hat. Von uns haben Sie das also nicht gehört.
Von Hannes Stein
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kurzen Prozess macht Christopher Schmidt mit Daniel Kehlmanns Texten über allerlei Autoren, deren Argumente nach Ansicht des Kritikers nämlich kaum einer intensiveren Prüfung standhalten. Am Ende ist es aus Schmidts Sicht meist "junkerhafte Besserwisserei", mit der Daniel Kehlmann Seitenhiebe gegen alles austeilt, das sich "fortschrittlich wähnt". Manchmal gar hört der Kritiker diesen Autor in seinen Texten aufheulen "wie einen kastrierten Hauslehrer". Auch findet Schmidt Kehlmanns Konservatismus ziemlich kokett. Richtig schlimm wird es für ihn dann in Kehlmanns Selbstinterview für seine Poetik-Vorlesung. Darin danke er sich selbst sogar artig für seine klugen Fragen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Daniel Kehlmann ist nun eindeutig ein Leser nach Borges-Art: ein grandioser Überblicker. Süddeutsche Zeitung