Regina Scheer spannt in ihrem beeindruckenden Roman den Bogen von den 30er Jahren über den Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Sie erzählt von den Anfängen der DDR, als die von Faschismus und Stalinismus geschwächten linken Kräfte hier das bessere Deutschland schaffen wollten, von Erstarrung und Enttäuschung, von dem hoffnungsvollen Aufbruch Ende der 80er Jahre und von zerplatzten Lebensträumen.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Schade, schade, meint Elmar Krekeler, dass die Autorin ihren Dorfroman aus zu vielen gleichlautenden Stimmen zusammensetzt. Dass Dorfgeschichte mehr ist als ein Haufen Einzelschicksale, dass sich in einem typischen mecklenburgischen Flecken Lebenslinien treffen und zu etwas Größerem, Allgemeingültigen zusammenschließen können, vermag ihm Regina Scheer nämlich durchaus plausibel zu machen, indem sie hinhört, auf Geschichten, Schicksale und generationsübergreifende Zusammenhänge. Das leicht Mechanische an dem Wechselgesang der Stimmen im Buch, der Zwangsarbeiterin, des Kommunisten, des Opportunisten usw. kann Krekeler verzeihen, das Überbordende weniger.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2014Die Gerechte unter den Schriftstellerinnen
Die große Rekonstruktion: Regina Scheers Roman "Machandel" erzählt vom Krieg bis zur Wende und darüber hinaus. Sie fasst die deutsche Zeitgeschichte in ein faszinierendes Kaleidoskop.
Anspielungsreicher kann es nicht beginnen: Eine Frau läuft über herbstlich karge Felder zu einer Dorfkirche. Dort ist eine Engelsfigur restauriert worden. "Die Wurmlöcher hat der Restaurator versiegelt, nun sieht der Engel aus, wie er vor zweihundert Jahren ausgesehen haben mag, dick und rotbäckig, vergnügt auf den ersten Blick, aber dann sieht man die aufgerissenen Augen, den wie zum Schrei geöffneten kleinen Mund und fragt sich: Was hat der Engel gesehen? Was ist ihm geschehen?" Natürlich ist diese Beschreibung im ersten Absatz von Regina Scheers Roman "Machandel" ein Verweis auf Walter Benjamins berühmten "Engel der Geschichte".
Der Engel in Regina Scheers Geschichte war versehrt, nun hat man ihn oberflächlich geheilt, aber die Schäden im Inneren sind noch alle da. Genau so ergeht es auch den Protagonisten dieses Romans. Er hat fünf Stimmen, die über einen Zeitraum von sieben Jahrzehnten berichten: vom Zweiten Weltkrieg bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Fast alles, was erzählt wird, hat sich in Machandel abgespielt, einem kleinen mecklenburgischen Dorf. "Man muss nicht in einer großen Stadt leben", sagt eine Erzählerin im Roman. "Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen." An diesem fiktiven Ort exemplifiziert Regina Scheer die deutsche Nachkriegsgeschichte.
Sie ist aber nicht zu haben ohne den Krieg, und so ist das, was damals in Machandel geschah, auch zentrales Thema. Die spätere Teilung in DDR und BRD riss die Menschen auseinander; ein anderer wichtiger Strang von "Machandel" gilt darum der Frage, was mit einem jungen Fotografen passiert ist, der 1985 in den Westen gegangen ist. Seine Schwester Clara ist die Hauptfigur in Regina Scheers Roman, sie tritt in dreizehn der insgesamt fünfundzwanzig Kapitel als Erzählerin auf.
Trotzdem ist es nicht ihr Buch allein, denn nach jeder Erinnerung von Clara setzt eine andere Stimme ein: die von ihrem Vater Hans, der als verbitterter SED-Funktionär nach der Wende auf seinen Tod wartet; die von Herbert, dem besten Freund des ausgereisten Bruders; die von Emma, einer im Krieg aus Hamburg nach Machandel evakuierten Frau, die dort heimisch geworden ist; und die von Natalja, die aus dem Grab oder aus den Träumen kommt, denn die russische Zwangsarbeiterin ist 1994 in Machandel gestorben, wo sie nach dem Kriegsende geblieben war, weil sie Repressalien in ihrer Heimat befürchtete.
Erst dieses Stimmenkonzert ergibt die ganze Melodie von "Machandel", einem Roman, der bisweilen so poetisch ist, wie sein Titel klingt - Machandel ist das niederdeutsche Wort für Wacholder -, der aber immer wieder auch zeitbedingte Schilderungen eines Schreckens bietet, der neben dem Wohnort die einzige Konstante im Leben der Protagonisten darstellt. Natürlich ist er im NS-Deutschland tödlicher als in der DDR, doch die Verstörung von Menschen, die unverschuldet ins Mahlwerk der Geschichte geraten, bleibt gleich. Die Hilflosigkeit aller Beteiligten ist das vorherrschende Gefühl. Es ist aber auch das, was sie nicht ruhen lässt. Alle nehmen sie den Kampf an, nicht militant, sondern mit dem einzigen Mittel, das sie noch haben: Treue zu sich selbst.
Das macht "Machandel" zu einem bemerkenswerten Solitär im Reigen jener Bücher, die man gern unter "Wenderomane" subsumiert. Regina Scheer zeigt, dass sich die Menschen nicht verändern. Das mag man positiv oder negativ verstehen; auf jeden Fall lässt sie ihren Erzählern Gerechtigkeit insoweit widerfahren, dass sie keinen denunziert. "Machandel" ist eh viel mehr als ein Wenderoman im üblichen Verständnis, denn sein Zeitrahmen ist ja ungleich weiter gesteckt. Er stammt zudem, was es erstaunlicherweise bei diesem Thema bislang nur selten gab, von einer Frau, und das merkt man vor allem daran, dass hier nicht große Metaphysik betrieben, sondern mit empathischem Blick beschreiben wird, was vor 1989 auszuhalten war - und bedingt durch die Nachwehen immer noch auszuhalten ist.
"Machandel" ist der Debütroman von Regina Scheer, die bereits vierundsechzig Jahre alt ist, doch es ist nicht ihr erstes Buch. Seit 1972 schreibt die in Ost-Berlin geborene Autorin; zunächst war sie in der DDR Journalistin, dann Kulturwissenschaftlerin mit einem besonderen Schwerpunkt auf deutsch-jüdischer Geschichte. In die Figuren von "Machandel", besonders im Falle des Vaters von Clara, sind gleich mehrere Dutzend Zeitzeugengespräche eingegangen, die Regina Scheer in den neunziger Jahren im Rahmen eines zeithistorischen Projekts mit kommunistischen Veteranen geführt hat.
Und stets neu wirft der am fiktiven Ort mit fiktiven Figuren spielende Roman solche Anker in die Wirklichkeit aus - etwa beim Erzählen von 1944 in Berlin durch Bombenangriffe zerstörte Ausgrabungsfunde aus dem syrischen Tell Halaf, die in der Tat erst in jüngster Zeit durch akribische Arbeit aus den Bruchstücken wieder rekonstruiert werden konnten. Regina Scheer lässt ihre Clara an diesen Bemühungen teilhaben, und im Versuch, aus den Trümmern etwas zusammenzusetzen, spiegelt sich das Erzählprogramm des Romans. Es ist aber auch präsent in Claras wissenschaftlicher Beschäftigung mit alten Volksliedern, die nicht selten von einem zerstückelten Knaben singen, dessen Schwester die Knochen einsammelt und in einen Machandelbaum hängt, aus dem der Tote dann als Vogel aufersteht - frei wie nie zuvor.
Man sieht, wie sich hier Motivstränge autobiographischer, poetischer, literatur- und zeitgeschichtlicher Art durchdringen, um das Erzählkunstwerk "Machandel" zu ermöglichen. Es gibt dabei zahlreiche kaum merkliche Scharnierszenen, die die fünf verschiedenen Perspektiven miteinander verbinden, so etwa eine Todesnacht unmittelbar nach dem Krieg: "Was ist das für eine Nacht, dachte ich", berichtet Emma, "und als ich mit dem gefüllten Wassereimer aus dem Schloss kam, stand da Niko Morshonikidse und sagte: ,Krieg kaputt, Frau, Mann leben.' Es waren die einzigen deutschen Worte, die ich je von ihm hörte, mehr kannte er nicht, aber wir hatten ja unsere eigene Sprache. Er trug mir den Eimer zum Katen, über das Kopfsteinpflaster, aus dem die Wegranken im fahlen Morgenlicht plötzlich bedrohlich emporgewachsen schienen, die Kinder schliefen nicht, sie liefen mir entgegen, es war die Nacht, in der Heinz im Kvetsee ertrunken war." Dass diese Nacht fünfzig Seiten später noch einmal erzählt wird, erkennt man nur daran, dass darin erwähnt wird, wie Emma mit dem Wassereimer aus der Tür des Schlosses tritt. "Machandel" ist ein Puzzle, dessen Komplexität gar nicht überschätzt werden kann. Der Roman liest sich trotzdem oder gerade deswegen großartig.
Er tut es auch, weil er erfahrungsgesättigt ist - beispielsweise mit den Auseinandersetzungen des Staats und der Berliner Gethsemane-Gemeinde, an der Regina Scheer selbst als Beteiligte auf Seite der Protestierenden teilgenommen hat - und trotzdem kein Schlüsselroman sein will. Es sind Personen eigenen Rechts, die die Autorin beschreibt, bisweilen zwar Stellvertreter für einen Typus, doch immer konsequent aus ihren eigenen Erfahrungen heraus zu dem geworden, was sie sind. Und obwohl nur als Kombination individueller Schicksale erzählt, ist "Machandel" in der Summe auch Charakterstudie politischer Systeme. Der Roman bietet etwa eine beklemmende Episode, in der ein Mädchen auf Betreiben eines Opportunisten, dem es sich nicht länger hingeben will, als geistesschwach denunziert wird, womit es der NS-Psychiatrie ausgeliefert ist, in der es sterben wird. Der Opportunist aber führt sein Leben als willfähriger Informant während der DDR fort, und er fällt auch im wiedervereinigten Deutschland wieder auf die Füße.
Er ist die einzige Hauptfigur in "Machandel", die von Regina Scheer keine eigene Erzählstimme bekommt. Auch er ist sich treu geblieben, aber nur auf Kosten anderer. Solche Menschen gab es und gibt es, aber auch sie sich rechtfertigen zu lassen, das ist dieser Gerechten unter den Schriftstellerinnen nicht eingefallen.
ANDREAS PLATTHAUS
Regina Scheer: "Machandel". Roman.
Knaus Verlag, München 2014. 479 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die große Rekonstruktion: Regina Scheers Roman "Machandel" erzählt vom Krieg bis zur Wende und darüber hinaus. Sie fasst die deutsche Zeitgeschichte in ein faszinierendes Kaleidoskop.
Anspielungsreicher kann es nicht beginnen: Eine Frau läuft über herbstlich karge Felder zu einer Dorfkirche. Dort ist eine Engelsfigur restauriert worden. "Die Wurmlöcher hat der Restaurator versiegelt, nun sieht der Engel aus, wie er vor zweihundert Jahren ausgesehen haben mag, dick und rotbäckig, vergnügt auf den ersten Blick, aber dann sieht man die aufgerissenen Augen, den wie zum Schrei geöffneten kleinen Mund und fragt sich: Was hat der Engel gesehen? Was ist ihm geschehen?" Natürlich ist diese Beschreibung im ersten Absatz von Regina Scheers Roman "Machandel" ein Verweis auf Walter Benjamins berühmten "Engel der Geschichte".
Der Engel in Regina Scheers Geschichte war versehrt, nun hat man ihn oberflächlich geheilt, aber die Schäden im Inneren sind noch alle da. Genau so ergeht es auch den Protagonisten dieses Romans. Er hat fünf Stimmen, die über einen Zeitraum von sieben Jahrzehnten berichten: vom Zweiten Weltkrieg bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Fast alles, was erzählt wird, hat sich in Machandel abgespielt, einem kleinen mecklenburgischen Dorf. "Man muss nicht in einer großen Stadt leben", sagt eine Erzählerin im Roman. "Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen." An diesem fiktiven Ort exemplifiziert Regina Scheer die deutsche Nachkriegsgeschichte.
Sie ist aber nicht zu haben ohne den Krieg, und so ist das, was damals in Machandel geschah, auch zentrales Thema. Die spätere Teilung in DDR und BRD riss die Menschen auseinander; ein anderer wichtiger Strang von "Machandel" gilt darum der Frage, was mit einem jungen Fotografen passiert ist, der 1985 in den Westen gegangen ist. Seine Schwester Clara ist die Hauptfigur in Regina Scheers Roman, sie tritt in dreizehn der insgesamt fünfundzwanzig Kapitel als Erzählerin auf.
Trotzdem ist es nicht ihr Buch allein, denn nach jeder Erinnerung von Clara setzt eine andere Stimme ein: die von ihrem Vater Hans, der als verbitterter SED-Funktionär nach der Wende auf seinen Tod wartet; die von Herbert, dem besten Freund des ausgereisten Bruders; die von Emma, einer im Krieg aus Hamburg nach Machandel evakuierten Frau, die dort heimisch geworden ist; und die von Natalja, die aus dem Grab oder aus den Träumen kommt, denn die russische Zwangsarbeiterin ist 1994 in Machandel gestorben, wo sie nach dem Kriegsende geblieben war, weil sie Repressalien in ihrer Heimat befürchtete.
Erst dieses Stimmenkonzert ergibt die ganze Melodie von "Machandel", einem Roman, der bisweilen so poetisch ist, wie sein Titel klingt - Machandel ist das niederdeutsche Wort für Wacholder -, der aber immer wieder auch zeitbedingte Schilderungen eines Schreckens bietet, der neben dem Wohnort die einzige Konstante im Leben der Protagonisten darstellt. Natürlich ist er im NS-Deutschland tödlicher als in der DDR, doch die Verstörung von Menschen, die unverschuldet ins Mahlwerk der Geschichte geraten, bleibt gleich. Die Hilflosigkeit aller Beteiligten ist das vorherrschende Gefühl. Es ist aber auch das, was sie nicht ruhen lässt. Alle nehmen sie den Kampf an, nicht militant, sondern mit dem einzigen Mittel, das sie noch haben: Treue zu sich selbst.
Das macht "Machandel" zu einem bemerkenswerten Solitär im Reigen jener Bücher, die man gern unter "Wenderomane" subsumiert. Regina Scheer zeigt, dass sich die Menschen nicht verändern. Das mag man positiv oder negativ verstehen; auf jeden Fall lässt sie ihren Erzählern Gerechtigkeit insoweit widerfahren, dass sie keinen denunziert. "Machandel" ist eh viel mehr als ein Wenderoman im üblichen Verständnis, denn sein Zeitrahmen ist ja ungleich weiter gesteckt. Er stammt zudem, was es erstaunlicherweise bei diesem Thema bislang nur selten gab, von einer Frau, und das merkt man vor allem daran, dass hier nicht große Metaphysik betrieben, sondern mit empathischem Blick beschreiben wird, was vor 1989 auszuhalten war - und bedingt durch die Nachwehen immer noch auszuhalten ist.
"Machandel" ist der Debütroman von Regina Scheer, die bereits vierundsechzig Jahre alt ist, doch es ist nicht ihr erstes Buch. Seit 1972 schreibt die in Ost-Berlin geborene Autorin; zunächst war sie in der DDR Journalistin, dann Kulturwissenschaftlerin mit einem besonderen Schwerpunkt auf deutsch-jüdischer Geschichte. In die Figuren von "Machandel", besonders im Falle des Vaters von Clara, sind gleich mehrere Dutzend Zeitzeugengespräche eingegangen, die Regina Scheer in den neunziger Jahren im Rahmen eines zeithistorischen Projekts mit kommunistischen Veteranen geführt hat.
Und stets neu wirft der am fiktiven Ort mit fiktiven Figuren spielende Roman solche Anker in die Wirklichkeit aus - etwa beim Erzählen von 1944 in Berlin durch Bombenangriffe zerstörte Ausgrabungsfunde aus dem syrischen Tell Halaf, die in der Tat erst in jüngster Zeit durch akribische Arbeit aus den Bruchstücken wieder rekonstruiert werden konnten. Regina Scheer lässt ihre Clara an diesen Bemühungen teilhaben, und im Versuch, aus den Trümmern etwas zusammenzusetzen, spiegelt sich das Erzählprogramm des Romans. Es ist aber auch präsent in Claras wissenschaftlicher Beschäftigung mit alten Volksliedern, die nicht selten von einem zerstückelten Knaben singen, dessen Schwester die Knochen einsammelt und in einen Machandelbaum hängt, aus dem der Tote dann als Vogel aufersteht - frei wie nie zuvor.
Man sieht, wie sich hier Motivstränge autobiographischer, poetischer, literatur- und zeitgeschichtlicher Art durchdringen, um das Erzählkunstwerk "Machandel" zu ermöglichen. Es gibt dabei zahlreiche kaum merkliche Scharnierszenen, die die fünf verschiedenen Perspektiven miteinander verbinden, so etwa eine Todesnacht unmittelbar nach dem Krieg: "Was ist das für eine Nacht, dachte ich", berichtet Emma, "und als ich mit dem gefüllten Wassereimer aus dem Schloss kam, stand da Niko Morshonikidse und sagte: ,Krieg kaputt, Frau, Mann leben.' Es waren die einzigen deutschen Worte, die ich je von ihm hörte, mehr kannte er nicht, aber wir hatten ja unsere eigene Sprache. Er trug mir den Eimer zum Katen, über das Kopfsteinpflaster, aus dem die Wegranken im fahlen Morgenlicht plötzlich bedrohlich emporgewachsen schienen, die Kinder schliefen nicht, sie liefen mir entgegen, es war die Nacht, in der Heinz im Kvetsee ertrunken war." Dass diese Nacht fünfzig Seiten später noch einmal erzählt wird, erkennt man nur daran, dass darin erwähnt wird, wie Emma mit dem Wassereimer aus der Tür des Schlosses tritt. "Machandel" ist ein Puzzle, dessen Komplexität gar nicht überschätzt werden kann. Der Roman liest sich trotzdem oder gerade deswegen großartig.
Er tut es auch, weil er erfahrungsgesättigt ist - beispielsweise mit den Auseinandersetzungen des Staats und der Berliner Gethsemane-Gemeinde, an der Regina Scheer selbst als Beteiligte auf Seite der Protestierenden teilgenommen hat - und trotzdem kein Schlüsselroman sein will. Es sind Personen eigenen Rechts, die die Autorin beschreibt, bisweilen zwar Stellvertreter für einen Typus, doch immer konsequent aus ihren eigenen Erfahrungen heraus zu dem geworden, was sie sind. Und obwohl nur als Kombination individueller Schicksale erzählt, ist "Machandel" in der Summe auch Charakterstudie politischer Systeme. Der Roman bietet etwa eine beklemmende Episode, in der ein Mädchen auf Betreiben eines Opportunisten, dem es sich nicht länger hingeben will, als geistesschwach denunziert wird, womit es der NS-Psychiatrie ausgeliefert ist, in der es sterben wird. Der Opportunist aber führt sein Leben als willfähriger Informant während der DDR fort, und er fällt auch im wiedervereinigten Deutschland wieder auf die Füße.
Er ist die einzige Hauptfigur in "Machandel", die von Regina Scheer keine eigene Erzählstimme bekommt. Auch er ist sich treu geblieben, aber nur auf Kosten anderer. Solche Menschen gab es und gibt es, aber auch sie sich rechtfertigen zu lassen, das ist dieser Gerechten unter den Schriftstellerinnen nicht eingefallen.
ANDREAS PLATTHAUS
Regina Scheer: "Machandel". Roman.
Knaus Verlag, München 2014. 479 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
«Die große Rekonstruktion: Regina Scheers Roman 'Machandel' erzählt vom Krieg bis zur Wende und darüber hinaus. Sie fasst die deutsche Zeitgeschichte in ein faszinierendes Kaleidoskop.» Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Platthaus