Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Er erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte dieser eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist. Das Lied »A Jiddische Mame« wird gesungen von Vivian Kanner.
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»'Mameleben' ist ein lebendiges Stück Zeitgeschichte und ein wunderbares, kluges Buch voller Wärme, Witz und Empathie - ein Lesegenuss der ganz besonderen Art.« Simone Neidlinger / Aachener Zeitung Aachener Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Lerke von Saalfeld liest Michel Bergmanns Buch über seine 2021 verstorbene Mutter mit Respekt. Wie das Erleben und Überleben des Antisemitismus und des KZs die Mutter innerlich verhärtete, wie Ausgrenzung und Internierung sie zur dauernden Anklägerin auch gegen den Sohn machte, erzählt Bergmann laut Saalfeld mit Entsetzen, aber auch mit unerschütterlicher Mutterliebe. Besser konnte der Autor das Vermächtnis der Mutter kaum bewahren, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2023Alle Toten saßen mit am Tisch Traumata der Elterngeneration: Michel Bergmanns Roman "Mameleben oder das gestohlene Glück" m Tisch
"Während sie hinausschaut in die karge Landschaft des französischen Jura, wird ihr klar, dass sie seit über zehn Jahren nicht mehr die Herrin über ihr Schicksal ist. Dass sie fremdbestimmt wird, dass jeder ihrer Schritte aufgezwungen ist! Die Schule musste sie verlassen, Abitur konnte sie nicht machen, nach Paris musste sie fliehen, sich dort verstecken, schwarzarbeiten, den Vergnügungen eines jungen Lebens wie Varieté, Kino oder Tanz nur unter größter Gefährdung nachgehen. Sie ist siebenundzwanzig. Keine Stunde in den vergangenen zehn Jahren ohne Angst, ohne Herzklopfen. Und auch heute, im Schutz einer falschen Identität, ist sie wie aufgeschrecktes Wild, jederzeit bereit zur Flucht."
Charlotte, die Mutter des Autors Michel Bergmann, sitzt an der illegalen Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz, wo sie endlich Zuflucht findet. Ihr Sohn zeichnet ihr Leben als Roman nach, das "mameleben", was auf Jiddisch eine ehrenvolle Anrede für die Mutter ist, aber auch bedeutet: "Mutter, du sollst leben". Der Sohn wird 1945 als Kind internierter jüdischer Eltern in einem Lager bei Riehen bei Basel geboren, seine Kindheit verbringt er in Paris, die Jugendjahre in Frankfurt am Main. "Ich bin am Rand eines Massengrabs aufgewachsen", sagt er einmal, "alle Toten saßen mit am Tisch." Die Traumata der Elterngeneration übertragen sich auf ihre Kinder, prägen ihr Leben, bestimmen ihr Denken. Auch die Überlebenden leiden schwer an diesem Schicksal, sie haben ein "schlechtes Gewissen", dem Tode entronnen zu sein.
Und nun macht sich Michel Bergmann auf die Lebensspuren seiner Mutter, die 2001 gestorben ist, durch Freitod im Alter von 85 Jahren. Bergmann ist ein umtriebiger Schriftsteller, Drehbuchautor, Filmregisseur in allen Genres, von Otto Waalkes bis zur Fernsehserie "Der Rabbi und sein Kommissar". Schon in früheren Romanen beschäftigte er sich mit jüdischem Leben in Frankfurt, aber nun schlägt er nochmals einen besonderen Ton an, wenn es um das Vermächtnis der Mutter geht.
Der Sohn versucht eine Bilanz ihrer Existenz zu ziehen, und das ist nicht einfach. Ihr Leben lang macht die Mutter dem Sohn Vorwürfe, dass sie für ihn alles geopfert habe. Schon im Prolog des Romans stellt Bergmann die immerwährenden Vorwürfe zusammen: "Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich lieber nicht überlebt." "So, in die Disco willst du? Wir hatten auch Disco im Lager." "Für wen habe ich das alles durchgestanden?" "Da überlebt man, und das ist der Dank!" "Ich wünschte dir, dass du niemals das durchmachen musst, was ich durchgemacht habe." "So, schmeckt dir nicht? Soll ich dir sagen, was wir im Lager hatten?"
Der Sohn wächst in einem engen Gehäuse von Anklagen, Erniedrigungen, schlechter Laune, Beschimpfungen und Lebensekel auf. Und dennoch liebt der Sohn diese verbiesterte, verhärtete Mutter, die sich nie ihren Stolz nehmen ließ. Einmal hörte Charlotte in der Straßenbahn einen Mann abfällige Bemerkungen über Juden machen: "Sie zieht an der Klingelschnur, die Bahn hält kreischend, und sie sagt zu dem Mann: 'So, hier steigst du aus, du Stück Dreck!' Der Mann wird feuerrot und trollt sich. Dann klingelt sie wieder, und die Bahn fährt los. Ja, meine Mutter lässt sich nichts gefallen. 'Sie haben mich lange genug getreten, jetzt trete ich!'"
Deutschland ist für Charlotte ein "beschissenes Land", in dem sie nicht leben möchte, nur ihres jüdischen Mannes wegen ist sie zurückgegangen. Die Schweiz hasst sie ebenso abgrundtief, weil sie als Schwangere und mit ihrem Kleinkind bei Bombenalarm nicht in den Bunker durfte. Für sie gibt es keinen Ort der Geborgenheit. Ihre Ehemänner halten auch nicht, was sie versprochen haben, lassen sie allein zurück. Das Alter macht Charlotte immer verbitterter, und ihr Sohn ist für das ganze Unglück verantwortlich. Immer sind es die anderen, die ihr Leid zufügen, die ihr mit Missgunst begegnen und ihr das Leben zur Hölle machen.
Der Autor versteht es, diese trostlose Geschichte dennoch mit Witz, ironischer Selbstreflexion und feinsinnigem Humor zu erzählen, auch wenn sich die Mutter ganz ungehemmt und temperamentvoll "meschugge" verhält. Sie bleibt seine "mame", die er beschützen muss. Sie mag allen auf den Geist gehen, wie es das Klischee von der jüdischen Übermutter so oft beschrieben hat, nur kommt es dem Autor noch auf etwas anderes an: Die Jahre der Ausgrenzung, der Missachtung, der Internierung, der Flucht, der Demütigungen - all das hat sie innerlich zu Stein gefrieren lassen. Das Konzentrationslager ist keine moralische Besserungsanstalt, hat Ruth Klüger immer wieder betont, wer das überlebt hat, der kann kein guter Mensch werden. Ein hartes Urteil. Charlotte war im berüchtigten französischen Lager Gurs inhaftiert.
Das Alter macht die Mutter grausamer und gnadenloser. Als der Sohn die Beschwerde eines benachbarten Freundes über das ungebührliche Verhalten seiner Mutter entgegennehmen muss, atmet er tief durch, "was für eine Geschichte. Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie." Aus der Ambivalenz zwischen Entsetzen und Liebe kann sich Michel Bergmann nicht befreien, er bleibt gefesselt in der Zuneigung zu seiner Mutter.
Erst im hohen Alter, als die Mutter immer harscher wird, erlebt der Sohn einen seltenen Moment von Einsichtigkeit. Sie liegen zusammen im elterlichen Ehebett. Sie reden über das menschliche Dasein, der Sohn zitiert Adorno mit seinem Spruch, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Wider Erwarten widerspricht die Mutter nicht, wie sonst üblich, sie antwortet mit trauriger Stimme: "Du hast recht, Ich habe mich verlaufen, nein verlebt!" Der Sohn resümiert: "Ihr Glück wurde ihr gestohlen. So wie meiner Mutter ist es Millionen von Menschen gegangen, deren Schicksal durch Hitler, die Deutschen und ihren Krieg radikal verändert wurde, die ein Leben leben mussten, das sie nicht mehr selbst bestimmen konnten. (. . .) Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären anders. Und unsere Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt." LERKE VON SAALFELD
Michel Bergmann: "Mameleben oder das gestohlene Glück".
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 244 S., geb. 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Während sie hinausschaut in die karge Landschaft des französischen Jura, wird ihr klar, dass sie seit über zehn Jahren nicht mehr die Herrin über ihr Schicksal ist. Dass sie fremdbestimmt wird, dass jeder ihrer Schritte aufgezwungen ist! Die Schule musste sie verlassen, Abitur konnte sie nicht machen, nach Paris musste sie fliehen, sich dort verstecken, schwarzarbeiten, den Vergnügungen eines jungen Lebens wie Varieté, Kino oder Tanz nur unter größter Gefährdung nachgehen. Sie ist siebenundzwanzig. Keine Stunde in den vergangenen zehn Jahren ohne Angst, ohne Herzklopfen. Und auch heute, im Schutz einer falschen Identität, ist sie wie aufgeschrecktes Wild, jederzeit bereit zur Flucht."
Charlotte, die Mutter des Autors Michel Bergmann, sitzt an der illegalen Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz, wo sie endlich Zuflucht findet. Ihr Sohn zeichnet ihr Leben als Roman nach, das "mameleben", was auf Jiddisch eine ehrenvolle Anrede für die Mutter ist, aber auch bedeutet: "Mutter, du sollst leben". Der Sohn wird 1945 als Kind internierter jüdischer Eltern in einem Lager bei Riehen bei Basel geboren, seine Kindheit verbringt er in Paris, die Jugendjahre in Frankfurt am Main. "Ich bin am Rand eines Massengrabs aufgewachsen", sagt er einmal, "alle Toten saßen mit am Tisch." Die Traumata der Elterngeneration übertragen sich auf ihre Kinder, prägen ihr Leben, bestimmen ihr Denken. Auch die Überlebenden leiden schwer an diesem Schicksal, sie haben ein "schlechtes Gewissen", dem Tode entronnen zu sein.
Und nun macht sich Michel Bergmann auf die Lebensspuren seiner Mutter, die 2001 gestorben ist, durch Freitod im Alter von 85 Jahren. Bergmann ist ein umtriebiger Schriftsteller, Drehbuchautor, Filmregisseur in allen Genres, von Otto Waalkes bis zur Fernsehserie "Der Rabbi und sein Kommissar". Schon in früheren Romanen beschäftigte er sich mit jüdischem Leben in Frankfurt, aber nun schlägt er nochmals einen besonderen Ton an, wenn es um das Vermächtnis der Mutter geht.
Der Sohn versucht eine Bilanz ihrer Existenz zu ziehen, und das ist nicht einfach. Ihr Leben lang macht die Mutter dem Sohn Vorwürfe, dass sie für ihn alles geopfert habe. Schon im Prolog des Romans stellt Bergmann die immerwährenden Vorwürfe zusammen: "Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich lieber nicht überlebt." "So, in die Disco willst du? Wir hatten auch Disco im Lager." "Für wen habe ich das alles durchgestanden?" "Da überlebt man, und das ist der Dank!" "Ich wünschte dir, dass du niemals das durchmachen musst, was ich durchgemacht habe." "So, schmeckt dir nicht? Soll ich dir sagen, was wir im Lager hatten?"
Der Sohn wächst in einem engen Gehäuse von Anklagen, Erniedrigungen, schlechter Laune, Beschimpfungen und Lebensekel auf. Und dennoch liebt der Sohn diese verbiesterte, verhärtete Mutter, die sich nie ihren Stolz nehmen ließ. Einmal hörte Charlotte in der Straßenbahn einen Mann abfällige Bemerkungen über Juden machen: "Sie zieht an der Klingelschnur, die Bahn hält kreischend, und sie sagt zu dem Mann: 'So, hier steigst du aus, du Stück Dreck!' Der Mann wird feuerrot und trollt sich. Dann klingelt sie wieder, und die Bahn fährt los. Ja, meine Mutter lässt sich nichts gefallen. 'Sie haben mich lange genug getreten, jetzt trete ich!'"
Deutschland ist für Charlotte ein "beschissenes Land", in dem sie nicht leben möchte, nur ihres jüdischen Mannes wegen ist sie zurückgegangen. Die Schweiz hasst sie ebenso abgrundtief, weil sie als Schwangere und mit ihrem Kleinkind bei Bombenalarm nicht in den Bunker durfte. Für sie gibt es keinen Ort der Geborgenheit. Ihre Ehemänner halten auch nicht, was sie versprochen haben, lassen sie allein zurück. Das Alter macht Charlotte immer verbitterter, und ihr Sohn ist für das ganze Unglück verantwortlich. Immer sind es die anderen, die ihr Leid zufügen, die ihr mit Missgunst begegnen und ihr das Leben zur Hölle machen.
Der Autor versteht es, diese trostlose Geschichte dennoch mit Witz, ironischer Selbstreflexion und feinsinnigem Humor zu erzählen, auch wenn sich die Mutter ganz ungehemmt und temperamentvoll "meschugge" verhält. Sie bleibt seine "mame", die er beschützen muss. Sie mag allen auf den Geist gehen, wie es das Klischee von der jüdischen Übermutter so oft beschrieben hat, nur kommt es dem Autor noch auf etwas anderes an: Die Jahre der Ausgrenzung, der Missachtung, der Internierung, der Flucht, der Demütigungen - all das hat sie innerlich zu Stein gefrieren lassen. Das Konzentrationslager ist keine moralische Besserungsanstalt, hat Ruth Klüger immer wieder betont, wer das überlebt hat, der kann kein guter Mensch werden. Ein hartes Urteil. Charlotte war im berüchtigten französischen Lager Gurs inhaftiert.
Das Alter macht die Mutter grausamer und gnadenloser. Als der Sohn die Beschwerde eines benachbarten Freundes über das ungebührliche Verhalten seiner Mutter entgegennehmen muss, atmet er tief durch, "was für eine Geschichte. Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie." Aus der Ambivalenz zwischen Entsetzen und Liebe kann sich Michel Bergmann nicht befreien, er bleibt gefesselt in der Zuneigung zu seiner Mutter.
Erst im hohen Alter, als die Mutter immer harscher wird, erlebt der Sohn einen seltenen Moment von Einsichtigkeit. Sie liegen zusammen im elterlichen Ehebett. Sie reden über das menschliche Dasein, der Sohn zitiert Adorno mit seinem Spruch, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Wider Erwarten widerspricht die Mutter nicht, wie sonst üblich, sie antwortet mit trauriger Stimme: "Du hast recht, Ich habe mich verlaufen, nein verlebt!" Der Sohn resümiert: "Ihr Glück wurde ihr gestohlen. So wie meiner Mutter ist es Millionen von Menschen gegangen, deren Schicksal durch Hitler, die Deutschen und ihren Krieg radikal verändert wurde, die ein Leben leben mussten, das sie nicht mehr selbst bestimmen konnten. (. . .) Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären anders. Und unsere Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt." LERKE VON SAALFELD
Michel Bergmann: "Mameleben oder das gestohlene Glück".
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 244 S., geb. 25,- Euro.
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