Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt - auf die eine oder andere Weise.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2020Willkommen im Dschungel
Sie lebt mit Schnecken und Asseln, macht das Internet zu einem besseren Ort und ist Expertin für Nähe und Distanz: Warum Jasmin Schreiber die Schriftstellerin der Stunde ist.
Von Jörg Thomann
Wer noch immer nicht kapiert hat, wie das mit dem Social Distancing so läuft, mit dem rücksichtsvollen Abstandhalten in einer verängstigten Gesellschaft, dem würde Chloé gewiss weiterhelfen. Chloé ist die Schäferhündin von Jasmin Schreiber, und sie mag keine fremden Männer. Will man also vermeiden, misstrauisch angeknurrt oder angebellt zu werden, dann hält man im Zweifelsfall noch etwas mehr Distanz als die allseits empfohlenen anderthalb bis zwei Meter, wenn man Chloés Frauchen interviewt. Schreiber ist das nur recht, sie zählt zur Corona-Risikogruppe und ist jetzt besonders auf der Hut. Also treffen wir uns nicht irgendwo auf einen Kaffee, sondern zu einem zwar entspannten, doch sozial distanzierten Spaziergang durch Schreibers Frankfurter Wohnviertel. Nur ab und an kommt es zwischen uns zu einem kleinen Ausweichmanöver, wenn Chloé einen verlockenden Duft auf der anderen Gehwegseite erspürt.
Erstaunlich zahlreich sind die Menschen, die an diesem Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein und Vogelgezwitscher im Kiez unterwegs sind. Wären sie dies auch bei Twitter, dann wüssten sie wahrscheinlich, dass es sich bei der Frau mit den dunklen Locken, dem grauen Mantel, den Leggings und dem Hund an der Leine um die Schriftstellerin der Stunde handelt.
Jasmin Schreibers Debütroman "Marianengraben" steht in der vierten Woche in der Bestsellerliste. Es geht viel um den Tod in dem Buch, aber noch mehr um das Leben und wie man es sich zurückerobert. Über der Trauer um ihren geliebten kleinen Bruder ist die Protagonistin Paula in einer Depression versunken, metaphorisch bis zum Grund des elf Kilometer tiefen Marianengrabens. Durch Zufall gerät sie an einen knorrigen Rentner und dessen verhaltensauffälligen Hund, und wie dieses unwahrscheinliche Dreiergespann alsbald zusammenwächst, das kommt für die Leser weniger überraschend als für Paula selbst, die mit der Balance von "Nähe und Distanz" ein Problem hat: "Ich hasse Menschen nicht, so ist das nicht. Ich interessiere mich sogar sehr für sie, allerdings nicht unbedingt aus der Nähe", sinniert sie. Wie Mikroorganismen würde sie, die Biologin, ihre Mitmenschen "lieber aus der Ferne und mit Deckglas dazwischen" beobachten.
Schreiber konnte nicht ahnen, dass ihre Buchpremiere in eine Zeit fallen würde, in der fast alle Menschen einander gezwungenermaßen aus der liebsten Perspektive Paulas betrachten: aus der Ferne, wie mit einem Deckglas dazwischen, einem Smartphone- oder Computerbildschirm. Und dass die Fragen nach Nähe und Distanz, nach Leben und Tod sich noch einmal in viel größerer Dringlichkeit stellen würden als noch Wochen zuvor.
Für Schreiber als Schriftstellerin bedeutet dies, wie für viele Kollegen, dass sich ihre Tage nun völlig anders gestalten als erträumt. Drei Lesungen hat sie noch machen können, dann war's vorbei mit dem direkten Publikumskontakt und den Honoraren. Und auch mit der netten, auf Twitter dokumentierten Idee der Autorin, in einige ihrer Bücher, die in Frankfurter Buchläden auslagen, Zettelchen mit persönlichen Botschaften oder Zeichnungen zu schmuggeln. Keine große Sache, doch Schreiber widmete sich ihr mit der für sie typischen Hingabe, Kreativität und nahezu kindlichen Freude. Cleveres Marketing - Schreiber hat in Teilzeit einen PR-Job - war es außerdem: Die zu Glückskeksen umgewidmeten Bücher waren rasch weg.
"Mein erstes Buch, und die Promo-Phase säuft in einer Pandemie ab. Wenn es läuft, dann läuft es", twitterte Schreiber vor ein paar Wochen. Zum Erstaunen manches altgedienten Angestellten des Kulturbetriebs soff das Buch selbst überhaupt nicht ab: Die 10 000 Exemplare der Erstauflage - eine ungewöhnlich hohe Zahl für einen Debütroman - waren zwei Wochen, bevor das Buch überhaupt herauskam, bereits komplett verkauft. Schreibers Buch "kommt ohne Feuilletonkritik aus, ohne Zeitschriftartikel, ohne klassisches Marketing", stellte der Deutschlandfunk leicht pikiert fest und verortete den Erfolg gewiss nicht zu Unrecht im Internet, wo Jasmin Schreiber seit langem viele Leute kennen - zumindest aus der Ferne, mit einem Deckglas dazwischen. 33 000 Menschen folgen ihr allein auf Twitter.
Schreiber, 1988 in Frankfurt geboren, ist einer jener schlauen, engagierten, wortgewandten, witzigen, oft jungen und oft weiblichen Menschen, die das mitunter verschreckende Medium Twitter mit einem Leben füllen, das mit dem sogenannten echten locker mithalten kann. Zu dieser digitalen gesellschaftlichen Avantgarde, die untereinander gut vernetzt ist, zählen große Namen wie Igor Levit und Sasa Stanisic ebenso wie solche, die sich hinter kuriosen Pseudonymen verstecken; Schreiber etwa agierte lange nur unter dem Namen "Seeräuberbatman".
Mit ihren Twitter- und Instagram-Accounts deckt sie ein verblüffend breites Spektrum ab: Alltagsphilosophin, verschrobene Einsiedlerin, Entertainerin, Anwältin der Entrechteten, Illustratorin, Telekolleg-Dozentin (Schwerpunkt Zoologie), Feministin, selbstredend, sowie - aus der Sicht wohl nicht weniger ihrer Follower - allerbeste Freundin.
"Ich hätte es gern, dass ich ein bisschen geordneter twittern würde, jetzt, wo mir zum Beispiel auch die ganzen Kulturredakteure folgen", erzählt Schreiber. "Dann reiße ich mich einen Tag zusammen - und am nächsten Morgen twittere ich, dass mein Hund seine Kotze gefressen hat." Just mit solchen Einblicken in ihr privates, unvollkommenes Dasein jedoch hat sich Schreiber so viel Sympathie erarbeitet, dass ihr auch die momentan recht hochtourige Eigen-PR für ihren Roman niemand übelnehmen kann. "Ich denke immer: Jasmin, nicht so viel über dein Buch twittern. Aber dann finde ich doch wieder was und denke: Oh, ist das aufregend. Und dann geht's wieder los", sagt Schreiber. Zum Beispiel, wenn wieder eine bewegte Buchhändlerin ihrer Kundschaft Schreibers Buch ans Herz gelegt hat: "Ich bin da wie ein verrückter Welpe, der einen Quietschball sieht. Es ist immer der gleiche Quietschball, aber er rastet jedes Mal wieder aus."
Tatsächlich führt Jasmin Schreiber allen gerade verzweifelnden Kulturschaffenden vor, wie das geht: seine Werke in Zeiten von Corona zu verkaufen. Emotional, digital, direkt. Als jemand, der im Netz praktisch aufgewachsen ist, hat Schreiber einen unschlagbaren Startvorteil: Ihre Familie war in den Neunzigern ein Testhaushalt für Kabel-Internet und konnte frühzeitig Filme streamen - ein Angebot, das sich bei den anderen Testfamilien, wie Schreiber berichtet, nicht recht durchsetzte. Bei ihr persönlich aber schon. Seit 2012 ist sie bei Twitter, hat dort auf ihrem Erst- und Zweit-Account 90 000 Tweets verfasst, hinzu kommen Instagram-Posts und Blog-Artikel. Wer ins digitale Schaffen Schreibers eintauchen will, könnte sich tage-, ja wochenlang darin verlieren.
Die gut 250 Seiten von "Marianengraben" hingegen lassen sich problemlos in zwei, drei Stunden lesen. Es ist eine tragikomische Buddy Story, ein Coming-of-Age-Roman und literarischer Roadtrip, das Ganze wirkt überaus verfilmbar; erste Verhandlungen über die Rechte laufen. Dass hinter ihrer Protagonistin Paula sie sich selbst verberge, weist Schreiber von sich. Ihr eigener kleiner Bruder ist ja auch quicklebendig, und dass diese Information manchen Journalisten, mit dem sie in den vergangenen Wochen sprach, augenscheinlich irritierte, irritierte wiederum Schreiber, die sich dann dachte: "Bist du gerade enttäuscht, weil mein Bruder noch lebt?" Gewisse Parallelen sind gleichwohl unverkennbar: Jasmin und Paula sind ungefähr im gleichen Alter, sie sind Biologinnen mit Vorliebe für Insekten, sie leben in Frankfurt und kämpfen beide mit einer Depression.
Über ihre Erkrankung spricht Schreiber sehr offen, gerade erst gemeinsam mit dem Kollegen Benjamin Maack bei einer der Video-Lesungen, die sie seit kurzem organisiert: im Stream übertragen aus den Wohnungen der Autoren, die stets - wieder trifft Spaß auf PR - im Pyjama antreten, die Erlöse gingen an die Depressionshilfe. Schreiber erzählte, dass sie sich in schlechten Phasen inmitten gutgelaunter Menschenmassen wie ein Alien fühle und dass sie ihre Depression als schlafendes Monster betrachte, das bei jedem unbedachten Schritt erwachen könne. Als wegen Corona ihre Lesungen gecancelt wurden, wandte sie sich an ihre Follower mit der Bitte, trotzdem ihr Buch zu kaufen: "Ich kann nix außer Schreiben und Depression, und das Letztere macht keinen Spaß (und sichert auch keinen Lebensunterhalt)."
Das ist natürlich pure Koketterie bei einer so vielfältig talentierten und engagierten Person wie Schreiber. Sie hat - als Journalistenschülerin, die sie auch einmal war - mit der Tarnidentität der Hausfrau Melanie in rechtsextremen Netzwerken recherchiert. Sie hat mit Flüchtlingen gearbeitet, und regelmäßig fotografiert sie sogenannte Sternenkinder, totgeborene Babies, deren Eltern sie so eine Erinnerung verschafft. 2018 wurde sie als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet. Versucht sie sich an einem Roman, dann gelingt ihr auch dies. Beim Eichborn-Verlag setzte sie durch, ihr Buch ohne Plastik und Folienveredelung herauszubringen; der Verlag will nun grundsätzlich auf Klebeetiketten verzichten und den Preis auf die Einbände seiner Bücher drucken. Wieder die Welt ein klein wenig besser gemacht.
Als sie Ende 2019 von einer Followerin gefragt wurde, wie man das alles, als Depressive, nur schaffen könne, fühlte sich Jasmin Schreiber zu einer Klarstellung verpflichtet: Sie bekomme zwar vieles hin, doch ebenso vieles, für die Außenwelt unsichtbar, auch nicht, darunter alltäglichste Verrichtungen. Und wenn sie das Gefühl habe, "zu einem depressiven Popstar stilisiert zu werden", dann wolle sie nur rufen: "Leute, ich habe seit drei Tagen nicht geduscht." Depression, sagt sie im Gespräch, "ist nicht so, dass man in einem schönen Oversize-Pulli traurig am Fenster sitzt und Tee trinkt. Es ist eher so: Du liegst inmitten von Pizzakartons und isst Senf mit Joghurt, weil du dich nicht in den Supermarkt traust."
Mit solchen Bekenntnissen macht sie anderen Mut, sich selbst jedoch in gewissem Grade schutzlos. Doch sie sagt: "Über diese Sachen mag ich erzählen, weil ich weiß, dass es für Betroffene wichtig ist, sie zu hören. Und weil ich selbst oft in einer Situation war, wo ich gesagt habe: Da würde ich gern mal mehr wissen." Bei aller Offenheit beharrt Schreiber darauf, dass selbst langjährige Twitter-Anhänger sie nicht wirklich kennen; von einer "Scheinnähe" spricht sie, dank der sie Distanz wahren könne. "Wenn man so viele Follower hat, ist es wichtig, eine Art Vexierspiel zu spielen. Zu oszillieren zwischen Realität und Fiktion. Ich muss mich selbst schützen und dafür sorgen, dass das Bild von mir als Person nicht zu scharf wird", sagt sie. So lüge sie zum Beispiel "prinzipiell über meinen Beziehungsstand: Ich erzähle von Dates, die ein Jahr zurückliegen, und sage, ich bin Single, wenn ich's nicht bin."
An einer Sache aber besteht kein Zweifel, auch bei Schreiber selbst nicht mehr: Ihr Beruf ist jetzt Schriftstellerin. "Ich habe jahrelang viele Dinge ausprobiert und bin immer wieder beim Schreiben gelandet. Es ist auch das Einzige, wo ich stillsitzen kann", sagt sie, bei der neben einer Hochbegabung auch ADHS diagnostiziert wurde. "Nicht mal beim Serienschauen kann ich das." Im Frühjahr nächsten Jahres kommt ihr erstes Sachbuch heraus, der Vertrag für den zweiten Roman ist ebenfalls schon unterschrieben. Vor kurzem ist Schreiber bei einer Anfrage an ihre Agentin zum ersten Mal als "Prominente" bezeichnet worden, was sie belustigt hat. Tatsächlich, sagt sie, würde sie es gern vermeiden, "gesichtsbekannt" zu werden. Ein Plan, der schon angesichts der vielen von ihr persönlich im Netz veröffentlichten Selbstporträts freilich wenig aussichtsreich scheint.
Der Seeräuberbatman jedenfalls wird seine treuen Follower auch weiterhin in sein Wohnzimmer laden, welches mit etlichen Pflanzen und Terrarien zum kleinen Großstadtdschungel geworden ist. Gottesanbeterin Athene ist leider gerade eines natürlichen Todes gestorben, dafür haben sich zu den mehr als tausend Asseln, den Schnecken und dem anderen Getier zahlreiche neue Mitbewohner gesellt. Die per Post angereisten afrikanischen Riesentausendfüßer dürfen sich mit ihren schwarzglänzenden Leibern zur Faszination oder zum Entsetzen ihrer Zuschauer in kurzen Videos auf Schreibers Hand kringeln.
Ihr privates Tropenparadies ist für Schreiber jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zu ihrem großen Ziel, das wiederum mit Distanz zu tun hat. "Meine Idealvorstellung vom Leben", sagt sie, bevor sie sich mit Chloé wieder aufmacht in ihre Home-Office-Räuberhöhle, "ist ein Häuschen im Wald. Wo ich schreiben und niemand mich erreichen kann, von dem ich es nicht will." W-Lan sollte die Hütte aber schon haben.
Jasmin Schreiber, "Marianengraben", Eichborn, 257 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie lebt mit Schnecken und Asseln, macht das Internet zu einem besseren Ort und ist Expertin für Nähe und Distanz: Warum Jasmin Schreiber die Schriftstellerin der Stunde ist.
Von Jörg Thomann
Wer noch immer nicht kapiert hat, wie das mit dem Social Distancing so läuft, mit dem rücksichtsvollen Abstandhalten in einer verängstigten Gesellschaft, dem würde Chloé gewiss weiterhelfen. Chloé ist die Schäferhündin von Jasmin Schreiber, und sie mag keine fremden Männer. Will man also vermeiden, misstrauisch angeknurrt oder angebellt zu werden, dann hält man im Zweifelsfall noch etwas mehr Distanz als die allseits empfohlenen anderthalb bis zwei Meter, wenn man Chloés Frauchen interviewt. Schreiber ist das nur recht, sie zählt zur Corona-Risikogruppe und ist jetzt besonders auf der Hut. Also treffen wir uns nicht irgendwo auf einen Kaffee, sondern zu einem zwar entspannten, doch sozial distanzierten Spaziergang durch Schreibers Frankfurter Wohnviertel. Nur ab und an kommt es zwischen uns zu einem kleinen Ausweichmanöver, wenn Chloé einen verlockenden Duft auf der anderen Gehwegseite erspürt.
Erstaunlich zahlreich sind die Menschen, die an diesem Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein und Vogelgezwitscher im Kiez unterwegs sind. Wären sie dies auch bei Twitter, dann wüssten sie wahrscheinlich, dass es sich bei der Frau mit den dunklen Locken, dem grauen Mantel, den Leggings und dem Hund an der Leine um die Schriftstellerin der Stunde handelt.
Jasmin Schreibers Debütroman "Marianengraben" steht in der vierten Woche in der Bestsellerliste. Es geht viel um den Tod in dem Buch, aber noch mehr um das Leben und wie man es sich zurückerobert. Über der Trauer um ihren geliebten kleinen Bruder ist die Protagonistin Paula in einer Depression versunken, metaphorisch bis zum Grund des elf Kilometer tiefen Marianengrabens. Durch Zufall gerät sie an einen knorrigen Rentner und dessen verhaltensauffälligen Hund, und wie dieses unwahrscheinliche Dreiergespann alsbald zusammenwächst, das kommt für die Leser weniger überraschend als für Paula selbst, die mit der Balance von "Nähe und Distanz" ein Problem hat: "Ich hasse Menschen nicht, so ist das nicht. Ich interessiere mich sogar sehr für sie, allerdings nicht unbedingt aus der Nähe", sinniert sie. Wie Mikroorganismen würde sie, die Biologin, ihre Mitmenschen "lieber aus der Ferne und mit Deckglas dazwischen" beobachten.
Schreiber konnte nicht ahnen, dass ihre Buchpremiere in eine Zeit fallen würde, in der fast alle Menschen einander gezwungenermaßen aus der liebsten Perspektive Paulas betrachten: aus der Ferne, wie mit einem Deckglas dazwischen, einem Smartphone- oder Computerbildschirm. Und dass die Fragen nach Nähe und Distanz, nach Leben und Tod sich noch einmal in viel größerer Dringlichkeit stellen würden als noch Wochen zuvor.
Für Schreiber als Schriftstellerin bedeutet dies, wie für viele Kollegen, dass sich ihre Tage nun völlig anders gestalten als erträumt. Drei Lesungen hat sie noch machen können, dann war's vorbei mit dem direkten Publikumskontakt und den Honoraren. Und auch mit der netten, auf Twitter dokumentierten Idee der Autorin, in einige ihrer Bücher, die in Frankfurter Buchläden auslagen, Zettelchen mit persönlichen Botschaften oder Zeichnungen zu schmuggeln. Keine große Sache, doch Schreiber widmete sich ihr mit der für sie typischen Hingabe, Kreativität und nahezu kindlichen Freude. Cleveres Marketing - Schreiber hat in Teilzeit einen PR-Job - war es außerdem: Die zu Glückskeksen umgewidmeten Bücher waren rasch weg.
"Mein erstes Buch, und die Promo-Phase säuft in einer Pandemie ab. Wenn es läuft, dann läuft es", twitterte Schreiber vor ein paar Wochen. Zum Erstaunen manches altgedienten Angestellten des Kulturbetriebs soff das Buch selbst überhaupt nicht ab: Die 10 000 Exemplare der Erstauflage - eine ungewöhnlich hohe Zahl für einen Debütroman - waren zwei Wochen, bevor das Buch überhaupt herauskam, bereits komplett verkauft. Schreibers Buch "kommt ohne Feuilletonkritik aus, ohne Zeitschriftartikel, ohne klassisches Marketing", stellte der Deutschlandfunk leicht pikiert fest und verortete den Erfolg gewiss nicht zu Unrecht im Internet, wo Jasmin Schreiber seit langem viele Leute kennen - zumindest aus der Ferne, mit einem Deckglas dazwischen. 33 000 Menschen folgen ihr allein auf Twitter.
Schreiber, 1988 in Frankfurt geboren, ist einer jener schlauen, engagierten, wortgewandten, witzigen, oft jungen und oft weiblichen Menschen, die das mitunter verschreckende Medium Twitter mit einem Leben füllen, das mit dem sogenannten echten locker mithalten kann. Zu dieser digitalen gesellschaftlichen Avantgarde, die untereinander gut vernetzt ist, zählen große Namen wie Igor Levit und Sasa Stanisic ebenso wie solche, die sich hinter kuriosen Pseudonymen verstecken; Schreiber etwa agierte lange nur unter dem Namen "Seeräuberbatman".
Mit ihren Twitter- und Instagram-Accounts deckt sie ein verblüffend breites Spektrum ab: Alltagsphilosophin, verschrobene Einsiedlerin, Entertainerin, Anwältin der Entrechteten, Illustratorin, Telekolleg-Dozentin (Schwerpunkt Zoologie), Feministin, selbstredend, sowie - aus der Sicht wohl nicht weniger ihrer Follower - allerbeste Freundin.
"Ich hätte es gern, dass ich ein bisschen geordneter twittern würde, jetzt, wo mir zum Beispiel auch die ganzen Kulturredakteure folgen", erzählt Schreiber. "Dann reiße ich mich einen Tag zusammen - und am nächsten Morgen twittere ich, dass mein Hund seine Kotze gefressen hat." Just mit solchen Einblicken in ihr privates, unvollkommenes Dasein jedoch hat sich Schreiber so viel Sympathie erarbeitet, dass ihr auch die momentan recht hochtourige Eigen-PR für ihren Roman niemand übelnehmen kann. "Ich denke immer: Jasmin, nicht so viel über dein Buch twittern. Aber dann finde ich doch wieder was und denke: Oh, ist das aufregend. Und dann geht's wieder los", sagt Schreiber. Zum Beispiel, wenn wieder eine bewegte Buchhändlerin ihrer Kundschaft Schreibers Buch ans Herz gelegt hat: "Ich bin da wie ein verrückter Welpe, der einen Quietschball sieht. Es ist immer der gleiche Quietschball, aber er rastet jedes Mal wieder aus."
Tatsächlich führt Jasmin Schreiber allen gerade verzweifelnden Kulturschaffenden vor, wie das geht: seine Werke in Zeiten von Corona zu verkaufen. Emotional, digital, direkt. Als jemand, der im Netz praktisch aufgewachsen ist, hat Schreiber einen unschlagbaren Startvorteil: Ihre Familie war in den Neunzigern ein Testhaushalt für Kabel-Internet und konnte frühzeitig Filme streamen - ein Angebot, das sich bei den anderen Testfamilien, wie Schreiber berichtet, nicht recht durchsetzte. Bei ihr persönlich aber schon. Seit 2012 ist sie bei Twitter, hat dort auf ihrem Erst- und Zweit-Account 90 000 Tweets verfasst, hinzu kommen Instagram-Posts und Blog-Artikel. Wer ins digitale Schaffen Schreibers eintauchen will, könnte sich tage-, ja wochenlang darin verlieren.
Die gut 250 Seiten von "Marianengraben" hingegen lassen sich problemlos in zwei, drei Stunden lesen. Es ist eine tragikomische Buddy Story, ein Coming-of-Age-Roman und literarischer Roadtrip, das Ganze wirkt überaus verfilmbar; erste Verhandlungen über die Rechte laufen. Dass hinter ihrer Protagonistin Paula sie sich selbst verberge, weist Schreiber von sich. Ihr eigener kleiner Bruder ist ja auch quicklebendig, und dass diese Information manchen Journalisten, mit dem sie in den vergangenen Wochen sprach, augenscheinlich irritierte, irritierte wiederum Schreiber, die sich dann dachte: "Bist du gerade enttäuscht, weil mein Bruder noch lebt?" Gewisse Parallelen sind gleichwohl unverkennbar: Jasmin und Paula sind ungefähr im gleichen Alter, sie sind Biologinnen mit Vorliebe für Insekten, sie leben in Frankfurt und kämpfen beide mit einer Depression.
Über ihre Erkrankung spricht Schreiber sehr offen, gerade erst gemeinsam mit dem Kollegen Benjamin Maack bei einer der Video-Lesungen, die sie seit kurzem organisiert: im Stream übertragen aus den Wohnungen der Autoren, die stets - wieder trifft Spaß auf PR - im Pyjama antreten, die Erlöse gingen an die Depressionshilfe. Schreiber erzählte, dass sie sich in schlechten Phasen inmitten gutgelaunter Menschenmassen wie ein Alien fühle und dass sie ihre Depression als schlafendes Monster betrachte, das bei jedem unbedachten Schritt erwachen könne. Als wegen Corona ihre Lesungen gecancelt wurden, wandte sie sich an ihre Follower mit der Bitte, trotzdem ihr Buch zu kaufen: "Ich kann nix außer Schreiben und Depression, und das Letztere macht keinen Spaß (und sichert auch keinen Lebensunterhalt)."
Das ist natürlich pure Koketterie bei einer so vielfältig talentierten und engagierten Person wie Schreiber. Sie hat - als Journalistenschülerin, die sie auch einmal war - mit der Tarnidentität der Hausfrau Melanie in rechtsextremen Netzwerken recherchiert. Sie hat mit Flüchtlingen gearbeitet, und regelmäßig fotografiert sie sogenannte Sternenkinder, totgeborene Babies, deren Eltern sie so eine Erinnerung verschafft. 2018 wurde sie als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet. Versucht sie sich an einem Roman, dann gelingt ihr auch dies. Beim Eichborn-Verlag setzte sie durch, ihr Buch ohne Plastik und Folienveredelung herauszubringen; der Verlag will nun grundsätzlich auf Klebeetiketten verzichten und den Preis auf die Einbände seiner Bücher drucken. Wieder die Welt ein klein wenig besser gemacht.
Als sie Ende 2019 von einer Followerin gefragt wurde, wie man das alles, als Depressive, nur schaffen könne, fühlte sich Jasmin Schreiber zu einer Klarstellung verpflichtet: Sie bekomme zwar vieles hin, doch ebenso vieles, für die Außenwelt unsichtbar, auch nicht, darunter alltäglichste Verrichtungen. Und wenn sie das Gefühl habe, "zu einem depressiven Popstar stilisiert zu werden", dann wolle sie nur rufen: "Leute, ich habe seit drei Tagen nicht geduscht." Depression, sagt sie im Gespräch, "ist nicht so, dass man in einem schönen Oversize-Pulli traurig am Fenster sitzt und Tee trinkt. Es ist eher so: Du liegst inmitten von Pizzakartons und isst Senf mit Joghurt, weil du dich nicht in den Supermarkt traust."
Mit solchen Bekenntnissen macht sie anderen Mut, sich selbst jedoch in gewissem Grade schutzlos. Doch sie sagt: "Über diese Sachen mag ich erzählen, weil ich weiß, dass es für Betroffene wichtig ist, sie zu hören. Und weil ich selbst oft in einer Situation war, wo ich gesagt habe: Da würde ich gern mal mehr wissen." Bei aller Offenheit beharrt Schreiber darauf, dass selbst langjährige Twitter-Anhänger sie nicht wirklich kennen; von einer "Scheinnähe" spricht sie, dank der sie Distanz wahren könne. "Wenn man so viele Follower hat, ist es wichtig, eine Art Vexierspiel zu spielen. Zu oszillieren zwischen Realität und Fiktion. Ich muss mich selbst schützen und dafür sorgen, dass das Bild von mir als Person nicht zu scharf wird", sagt sie. So lüge sie zum Beispiel "prinzipiell über meinen Beziehungsstand: Ich erzähle von Dates, die ein Jahr zurückliegen, und sage, ich bin Single, wenn ich's nicht bin."
An einer Sache aber besteht kein Zweifel, auch bei Schreiber selbst nicht mehr: Ihr Beruf ist jetzt Schriftstellerin. "Ich habe jahrelang viele Dinge ausprobiert und bin immer wieder beim Schreiben gelandet. Es ist auch das Einzige, wo ich stillsitzen kann", sagt sie, bei der neben einer Hochbegabung auch ADHS diagnostiziert wurde. "Nicht mal beim Serienschauen kann ich das." Im Frühjahr nächsten Jahres kommt ihr erstes Sachbuch heraus, der Vertrag für den zweiten Roman ist ebenfalls schon unterschrieben. Vor kurzem ist Schreiber bei einer Anfrage an ihre Agentin zum ersten Mal als "Prominente" bezeichnet worden, was sie belustigt hat. Tatsächlich, sagt sie, würde sie es gern vermeiden, "gesichtsbekannt" zu werden. Ein Plan, der schon angesichts der vielen von ihr persönlich im Netz veröffentlichten Selbstporträts freilich wenig aussichtsreich scheint.
Der Seeräuberbatman jedenfalls wird seine treuen Follower auch weiterhin in sein Wohnzimmer laden, welches mit etlichen Pflanzen und Terrarien zum kleinen Großstadtdschungel geworden ist. Gottesanbeterin Athene ist leider gerade eines natürlichen Todes gestorben, dafür haben sich zu den mehr als tausend Asseln, den Schnecken und dem anderen Getier zahlreiche neue Mitbewohner gesellt. Die per Post angereisten afrikanischen Riesentausendfüßer dürfen sich mit ihren schwarzglänzenden Leibern zur Faszination oder zum Entsetzen ihrer Zuschauer in kurzen Videos auf Schreibers Hand kringeln.
Ihr privates Tropenparadies ist für Schreiber jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zu ihrem großen Ziel, das wiederum mit Distanz zu tun hat. "Meine Idealvorstellung vom Leben", sagt sie, bevor sie sich mit Chloé wieder aufmacht in ihre Home-Office-Räuberhöhle, "ist ein Häuschen im Wald. Wo ich schreiben und niemand mich erreichen kann, von dem ich es nicht will." W-Lan sollte die Hütte aber schon haben.
Jasmin Schreiber, "Marianengraben", Eichborn, 257 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.03.2020Ritt auf dem
Asteroiden
Jasmin Schreibers Bestseller
„Marianengraben“
Es gibt Autoren, die schreiben über Trauer, Tod und Schuldgefühle so, wie man es gerne selber könnte: einfach, aber präzise, mit Formulierungen, die sich, sobald man sie liest, wahr anfühlen, auch wenn man sie selbst nie gefunden hätte. Im Falle von „Marianengraben“, dem Debütroman von Jasmin Schreiber, liegt die Sache anders. Bei Schreiber klingt Trauer eher wie die „tiefste Stelle des Weltmeeres“, „ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff“. Wie „ein alter Rechner, der nur noch Fehlermeldungen auswarf, die aber alle keinen Inhalt hatten“. „Marianengraben“ liest sich ein bisschen wie die Tagebucheinträge aus der Zeit, als der Hund gestorben ist. Oder die Gedichte, die man schrieb, als man Liebeskummer hatte. Gefühlig, aufrichtig, kitschig.
Der Roman erzählt die Geschichte von Paula und ihrer Trauer nach dem Tod ihres kleinen Bruders. Tim ist ertrunken, im Urlaub mit den Eltern, und nun ist Paula im metaphorischen Marianengraben: nicht mehr Mensch, sondern „ein Menschenkostüm, das Nichts enthält,“ ganz unten angekommen, „elftausend Meter tief.“ Meterzahlen sind wichtig in „Marianengraben“. Die Tiefe unter dem Meeresspiegel gibt in den Kapitelüberschriften an, wie es Paula gerade geht: 11.000 Meter zu Beginn, als sie ihre Vorhänge nicht mehr öffnet, nicht einmal mehr weinen kann. 9950 Meter, als sie Helmut trifft, einen harte-Schale-weicher-Kern-Typ, der um seine Ex-Frau trauert. 7800 Meter, als ihr gemeinsamer Roadtrip in Helmuts Wohnmobil beginnt, Richtung Österreich, in die Berge. Dort will Helmut die Asche seiner Ex-Frau verstreuen, das hatte er ihr versprochen. Paula und Helmut verstehen sich, weil niemand sie versteht. Schreiber schreibt: „Wenn Trauer eine Sprache wäre, hatte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genau so flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt.“ 6480 Meter, als sie an einem Bergsee im Allgäu ein Picknick machen. „Marianengraben“ ist ein Roadmovie: sattgrüne Wiesen, nackte Füße in tiefen, kalten Bergseen, klare Luft, die mit den Haaren spielt, Landhäuser mit kirschroten Ziegeldächern und Blumenkästen. Bilder mit Blendenreflexen und Instagramfiltern. Obwohl in Marianengraben viel gestorben wird – es sterben Hunde, Hühner, Brüder, Schwestern, Ehepartner, Eltern, Omas – kennt die Welt hier nur eine Richtung: bergauf, ins Licht, an die Wasseroberfläche, zum bittersüßen Happy End. Ein Roman, der beteuert, dass am Ende alles gut wird, und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.
Schreiber ist ehrenamtlich Sterbegleiterin, kennt also die Bilder, die Menschen schaffen, wenn die Realität unaussprechlich scheint. So wird in „Marianengraben“ die Depression nicht nur zum tiefsten Punkt des Meeres, sondern der Tod auch zum „ewigen Ozean mit leuchtenden Quallen und blinkenden Tintenfischen“, dem „Sonnenwagen des Helios“, oder sogar dem Ort der „großen Könige der Vergangenheit“. Ein „Ritt auf einem Asteroiden“, in einer „Galaxie, zu der wir keinen Zugang hatten.“ Einen Erkenntnisgewinn liefern diese Bilder nicht. Wie Kalendersprüche verschleiern sie, anstatt zu beleuchten. Sie gleiten ab in den Kitsch, anstatt Neues zu schaffen. Berühren kann „Marianengraben“ trotzdem: Weil es zeigt, wie groß die Trauer sein kann und wie dürftig die Worte dafür. Für diese Erkenntnis allerdings könnte man auch das alte Tagebuch lesen.
JANNE KNÖDLER
Jasmin Schreiber: Marianengraben. Roman. Eichborn Verlag, Köln 2020. 250 Seiten, 20 Euro.
Der Tod firmiert hier als
ewiger „Ozean
mit leuchtenden Quallen“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Asteroiden
Jasmin Schreibers Bestseller
„Marianengraben“
Es gibt Autoren, die schreiben über Trauer, Tod und Schuldgefühle so, wie man es gerne selber könnte: einfach, aber präzise, mit Formulierungen, die sich, sobald man sie liest, wahr anfühlen, auch wenn man sie selbst nie gefunden hätte. Im Falle von „Marianengraben“, dem Debütroman von Jasmin Schreiber, liegt die Sache anders. Bei Schreiber klingt Trauer eher wie die „tiefste Stelle des Weltmeeres“, „ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff“. Wie „ein alter Rechner, der nur noch Fehlermeldungen auswarf, die aber alle keinen Inhalt hatten“. „Marianengraben“ liest sich ein bisschen wie die Tagebucheinträge aus der Zeit, als der Hund gestorben ist. Oder die Gedichte, die man schrieb, als man Liebeskummer hatte. Gefühlig, aufrichtig, kitschig.
Der Roman erzählt die Geschichte von Paula und ihrer Trauer nach dem Tod ihres kleinen Bruders. Tim ist ertrunken, im Urlaub mit den Eltern, und nun ist Paula im metaphorischen Marianengraben: nicht mehr Mensch, sondern „ein Menschenkostüm, das Nichts enthält,“ ganz unten angekommen, „elftausend Meter tief.“ Meterzahlen sind wichtig in „Marianengraben“. Die Tiefe unter dem Meeresspiegel gibt in den Kapitelüberschriften an, wie es Paula gerade geht: 11.000 Meter zu Beginn, als sie ihre Vorhänge nicht mehr öffnet, nicht einmal mehr weinen kann. 9950 Meter, als sie Helmut trifft, einen harte-Schale-weicher-Kern-Typ, der um seine Ex-Frau trauert. 7800 Meter, als ihr gemeinsamer Roadtrip in Helmuts Wohnmobil beginnt, Richtung Österreich, in die Berge. Dort will Helmut die Asche seiner Ex-Frau verstreuen, das hatte er ihr versprochen. Paula und Helmut verstehen sich, weil niemand sie versteht. Schreiber schreibt: „Wenn Trauer eine Sprache wäre, hatte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genau so flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt.“ 6480 Meter, als sie an einem Bergsee im Allgäu ein Picknick machen. „Marianengraben“ ist ein Roadmovie: sattgrüne Wiesen, nackte Füße in tiefen, kalten Bergseen, klare Luft, die mit den Haaren spielt, Landhäuser mit kirschroten Ziegeldächern und Blumenkästen. Bilder mit Blendenreflexen und Instagramfiltern. Obwohl in Marianengraben viel gestorben wird – es sterben Hunde, Hühner, Brüder, Schwestern, Ehepartner, Eltern, Omas – kennt die Welt hier nur eine Richtung: bergauf, ins Licht, an die Wasseroberfläche, zum bittersüßen Happy End. Ein Roman, der beteuert, dass am Ende alles gut wird, und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.
Schreiber ist ehrenamtlich Sterbegleiterin, kennt also die Bilder, die Menschen schaffen, wenn die Realität unaussprechlich scheint. So wird in „Marianengraben“ die Depression nicht nur zum tiefsten Punkt des Meeres, sondern der Tod auch zum „ewigen Ozean mit leuchtenden Quallen und blinkenden Tintenfischen“, dem „Sonnenwagen des Helios“, oder sogar dem Ort der „großen Könige der Vergangenheit“. Ein „Ritt auf einem Asteroiden“, in einer „Galaxie, zu der wir keinen Zugang hatten.“ Einen Erkenntnisgewinn liefern diese Bilder nicht. Wie Kalendersprüche verschleiern sie, anstatt zu beleuchten. Sie gleiten ab in den Kitsch, anstatt Neues zu schaffen. Berühren kann „Marianengraben“ trotzdem: Weil es zeigt, wie groß die Trauer sein kann und wie dürftig die Worte dafür. Für diese Erkenntnis allerdings könnte man auch das alte Tagebuch lesen.
JANNE KNÖDLER
Jasmin Schreiber: Marianengraben. Roman. Eichborn Verlag, Köln 2020. 250 Seiten, 20 Euro.
Der Tod firmiert hier als
ewiger „Ozean
mit leuchtenden Quallen“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein Buch, das Geborgenheit bietet und Hoffnung schenkt." Yasmina Banaszczuk "Helmut ist ab sofort (neben der Queen) mein Rolemodel fürs Altsein. Ich liebe seine nonchalante Renitenz - und wie zärtlich unsentimental wir ihn hier kennenlernen dürfen." Anja Rützel "Eigentlich kann man gar kein Buch schreiben, das vom Sterben handelt, gleichzeitig sehr lustig und tieftraurig ist, sich aber anfühlt wie ein Roadmovie. Wie gesagt: eigentlich!" Sascha Lobo
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Manuela Reichart ist total berührt von diesem Debütroman der Bloggerin und Sterbebegleiterin Jasmin Schreiber, die darin von Schmerz und Verlust erzählt: Eine junge Frau hat ihren Bruder verloren, ein älterer Mann seine Frau, beide tun sich zusammen und fahren nach Südtirol, um alte Versprechen einzulösen und neue Hoffnung zu schöpfen. Reichart zitiert viel in ihrer kurzen Rezension, beteuert aber, dass Schreiber etwas ganz Ungewöhnliches gelinge, nämlich über Schweres leicht zu erzählen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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