Sie hat alles gehabt und alles verloren: Sekunden der Unachtsamkeit kosten ihre einzige Tochter das Leben. Tief sieht Linda in den Abgrund und wäre beinahe gefallen, doch da sind hauchfeine Fäden, die sie halten – die Hündin Kaja, die steten Handgriffe im Garten, das Mitgefühl für andere. Wie viel Kraft in ihr steckt, ahnt sie erst, als sie zurückfindet in einen Alltag und zu sich selbst.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Christiane Lutz liest Daniela Kriens Roman über eine Mutter, die ihre Teenager-Tochter bei einem Unfall verliert mit Beklemmung. So nah geht die Autorin an ihre Figur heran, zeigt Alltag und Anstrengung und Trauerarbeit. Gut gefällt Lutz, dass Krien ohne Larmoyanz auskommt, wenngleich auch nicht ganz ohne Pathos. Wie heikel Trauerromane sind, weiß die Rezensentin. Die Nahaufnahme aber funktioniert, versichert sie. Wenn am Ende des Textes Trost und Hoffnung knospen, ist es Lutz allerdings etwas zu viel Happy End. So schwer ist Trauer auszuhalten, ahnt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.09.2024Vom
Aufstehen
Wie geht das, weitermachen, wenn man
das Liebste verloren hat?
In Daniela Kriens Roman „Mein drittes Leben“
tastet sich eine Trauernde
langsam aus ihrem Kummer hervor.
VON CHRISTIANE LUTZ
Eine junge Frau auf einem Fahrrad, eine Kreuzung, ein Lkw, der rechts abbiegt und sie nicht sieht. Und das ist eigentlich alles. Danach ist das Leben von Sonjas Eltern aus den Fugen. Beendet, auf eine Weise. Wie macht man da weiter? Wie buchstabiert man überhaupt weitermachen?
In ihrem neuen Roman „Mein drittes Leben“ erzählt Daniela Krien von Linda, die nach dem Unfalltod ihrer Tochter vor dieser Frage steht, und sie begleitet sie auf knapp 300 Seiten dabei, wie sie diese für sich beantwortet. „Mein drittes Leben“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, und es liegt wohl an Kriens Talent, das Schrecklichste zwar mit etwas Pathos, aber in jedem Fall ohne Larmoyanz in seine Einzelteile zu zerlegen und zu betrachten. Dadurch werden die Einzelteile nachvollziehbar, überschaubar, und ja, scheinen überwindbar zu sein. Der Spaziergang, zu dem sich Linda nicht aufraffen kann. Die Schals und Mützen, die sie unermüdlich strickt und wieder auftrennt, weil niemand sie braucht. Der Körper, den zu pflegen sinnlos geworden ist. Ihre plötzliche Angstfreiheit, die mit dem Tod der Tochter einsetzte, weil sie nun nichts mehr zu verlieren hat. „Doch die Leute fürchten sich vor Menschen, die keine Angst haben“, weiß Linda. Das Leben ist zu einer Aneinanderreihung von Momenten geworden, die sich im besten Fall zu einer sinnlichen Empfindung ausweiten. Alles umtost von der Trauer, die sich aller Worte und Logik entzieht und die Trauernde ganz vereinnahmt.
Linda, Mitte vierzig, einst erfolgreiche Kunstmaklerin, hat sich von ihrem Mann, dem Künstler Richard und aus der gemeinsamen Wohnung in Leipzig verabschiedet und ist in einen nichtssagenden Vorort auf einen alten Bauernhof gezogen. Richard besucht Linda regelmäßig, schließlich hat auch er ein Kind verloren, doch seine Appelle, Linda möge zurückkommen, verhallen. Er datet eine Schriftstellerin, die leicht anstrengende Brida Lichtblau, die aufmerksame Leser schon aus Kriens ebenso leicht anstrengendem Beziehungsroman „Die Liebe im Ernstfall“ kennen. Dass er beschlossen hat weiterzumachen, versteht Linda zwar nicht, aber sie nimmt es hin. „Richards Geduld ist aufgebraucht“, stellt sie eines Tages fest und kann doch nicht anders.
Trauerromane sind ein heikles Genre. Kitsch- und Phrasengefahr droht überall, was sicher auch daran liegt, dass die Gesellschaft noch immer keine Ahnung hat, wie sie den Tod irgendwie besser ins Leben integriert oder Raum frei macht für Trauer und Trauernde. Es gibt literarische Versuche, der ganzen Angelegenheit mit Schenkelklopfen zu begegnen, wie etwa Thees Uhlmann in seinem Roadmovie-Roman „Sophia, der Tod und ich“. Oder lakonisch-elegant wie der britische Autor Max Porter. Der erfindet seinem Trauernden in „Trauer ist das Ding mit Federn“ eine hässliche Krähe an die Seite, die ihm Trost spendet. Oder man macht es so erschütternd, so lebensbejahend und liebevoll wie Mely Kiyak in ihrem autofiktionalen Sterbebegleitungsbericht „Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“, in dem sie von sich, ihrem Vater und dem Lungenkrebs schreibt.
Daniela Krien entscheidet sich für die ungebrochene Super-Nahaufnahme der gebrochenen Mutter. Kein Humor, kein doppelter Boden, keine spirituelle Überhöhung. Die Ich-Erzählerin Linda spricht im Präsens, hangelt sich von Minute zu Minute und von Tag zu Tag vor. Es ist die direkte Sprache einer Frau, die keine Zukunft für sich sieht. Alles ist seit Sonjas Tod nur noch Gegenwart, der nächste Moment eine immense Anstrengung entfernt, der vergangene Moment irgendwohin verschwunden. Man spricht nicht ohne Grund von Trauerarbeit. Ganz ohne Kitsch kommt Krien zwar nicht aus – „Ich hätte nie ein Kind bekommen dürfen, denke ich. Ich bin zu schwach für eine solche Liebe“ –, lässt sich aber nie forttragen von der Ergriffenheit von diesem Leid.
„Menschen ermüden vom Leid anderer Menschen“, sagt Linda. Zu fast allen Freunden hat sie da schon lang den Kontakt verloren oder eingeschränkt. „Sie verlieren die Lust, Rücksicht zu nehmen, wollen wieder selbst klagen dürfen. Sie sind heimlich wütend darüber, dass vor meinem Problem jedes ihrer eigenen Probleme verblasst.“ Und weiter: „Meine Anwesenheit zwingt sie, ihr Glück zu begreifen.“
Glück, dieser Bastard. Die Überlegung, was Glück eigentlich ist, webt Krien vorsichtig in „Mein drittes Leben“ ein. Sonja war 17, hatte gerade ihren ersten Freund. Als sie starb, war sie auf dem Weg zur Gynäkologin, um sich die Pille verschreiben zu lassen. Ein Leben am Anfang, aufregend, jung, voller erster Male, die jetzt nie stattfinden werden. Ist es Glück, 17 Jahre lang eine gesunde, fröhliche Tochter zu haben und dann eben nicht mehr? Ist Glück, eine kranke Tochter zu haben, wie Lindas Bekannte Natascha, die immer in finanzieller Not steckt, alleingelassen mit ihrer behinderten Tochter Nine, um die sie sich ihr Leben lang sorgen und kümmern muss?
„Unter jedem Dach ein ach“, sagt an einer Stelle die über 80-Jährige Witwe Frau Engel. Und die krebskranke Bruni meint lapidar: „Alle hammse ihr Päckchen zu tragen.“ Daniela Krien spielt nie das eine gegen das andere Leid aus, betritt auch nie das heikle „Warum?“-Terrain. Krebs, Armut, Einsamkeit, Tod, gescheiterte Beziehungen, Flucht, finanzielle Nöte – das sind viel mehr die Dinge, die Linda plötzlich im Leben der anderen wahrzunehmen beginnt. Indem Daniela Krien die anderen Figuren und deren (Leid-)Biografien nach und nach im Roman behutsam sichtbar macht, ist es, als gäbe es plötzlich so etwas wie eine unsichtbare Verbindung unter ihnen, die Linda vorher nicht aufgefallen war. Am Ende findet Linda zu der Möglichkeit, dass es wieder so etwas wie Freude geben kann. Sie zieht zurück in die Stadt, wendet sich den Lebenden, wendet sich auch Richard wieder zu und kommt irgendwie an einer Stelle in ihrem „dritten Leben“ heraus, von der aus sie weitermachen will. Was Trost spenden kann, sind andere Menschen. Das gibt Hoffnung und mag zur großen Wahrheit menschlichen Lebens gehören, hat dann aber doch ein Geschmäckle von bemüht-erbaulicher Sinn-Lektüre, vom unbedingten Willen zum Happy End im Very Unhappy End. Trauer ist auch für Lesende schwer auszuhalten, nicht nur für Trauernde.
Was Trost spenden
kann, sind andere Menschen.
Das gibt Hoffnung
Daniela Krien:
Mein drittes Leben. Roman. Diogenes,
Zürich 2024.
304 Seiten, 26 Euro.
Daniela Krien steht mit „Mein drittes Leben“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.
Foto: Maurice Haas / Diogenes
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Aufstehen
Wie geht das, weitermachen, wenn man
das Liebste verloren hat?
In Daniela Kriens Roman „Mein drittes Leben“
tastet sich eine Trauernde
langsam aus ihrem Kummer hervor.
VON CHRISTIANE LUTZ
Eine junge Frau auf einem Fahrrad, eine Kreuzung, ein Lkw, der rechts abbiegt und sie nicht sieht. Und das ist eigentlich alles. Danach ist das Leben von Sonjas Eltern aus den Fugen. Beendet, auf eine Weise. Wie macht man da weiter? Wie buchstabiert man überhaupt weitermachen?
In ihrem neuen Roman „Mein drittes Leben“ erzählt Daniela Krien von Linda, die nach dem Unfalltod ihrer Tochter vor dieser Frage steht, und sie begleitet sie auf knapp 300 Seiten dabei, wie sie diese für sich beantwortet. „Mein drittes Leben“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, und es liegt wohl an Kriens Talent, das Schrecklichste zwar mit etwas Pathos, aber in jedem Fall ohne Larmoyanz in seine Einzelteile zu zerlegen und zu betrachten. Dadurch werden die Einzelteile nachvollziehbar, überschaubar, und ja, scheinen überwindbar zu sein. Der Spaziergang, zu dem sich Linda nicht aufraffen kann. Die Schals und Mützen, die sie unermüdlich strickt und wieder auftrennt, weil niemand sie braucht. Der Körper, den zu pflegen sinnlos geworden ist. Ihre plötzliche Angstfreiheit, die mit dem Tod der Tochter einsetzte, weil sie nun nichts mehr zu verlieren hat. „Doch die Leute fürchten sich vor Menschen, die keine Angst haben“, weiß Linda. Das Leben ist zu einer Aneinanderreihung von Momenten geworden, die sich im besten Fall zu einer sinnlichen Empfindung ausweiten. Alles umtost von der Trauer, die sich aller Worte und Logik entzieht und die Trauernde ganz vereinnahmt.
Linda, Mitte vierzig, einst erfolgreiche Kunstmaklerin, hat sich von ihrem Mann, dem Künstler Richard und aus der gemeinsamen Wohnung in Leipzig verabschiedet und ist in einen nichtssagenden Vorort auf einen alten Bauernhof gezogen. Richard besucht Linda regelmäßig, schließlich hat auch er ein Kind verloren, doch seine Appelle, Linda möge zurückkommen, verhallen. Er datet eine Schriftstellerin, die leicht anstrengende Brida Lichtblau, die aufmerksame Leser schon aus Kriens ebenso leicht anstrengendem Beziehungsroman „Die Liebe im Ernstfall“ kennen. Dass er beschlossen hat weiterzumachen, versteht Linda zwar nicht, aber sie nimmt es hin. „Richards Geduld ist aufgebraucht“, stellt sie eines Tages fest und kann doch nicht anders.
Trauerromane sind ein heikles Genre. Kitsch- und Phrasengefahr droht überall, was sicher auch daran liegt, dass die Gesellschaft noch immer keine Ahnung hat, wie sie den Tod irgendwie besser ins Leben integriert oder Raum frei macht für Trauer und Trauernde. Es gibt literarische Versuche, der ganzen Angelegenheit mit Schenkelklopfen zu begegnen, wie etwa Thees Uhlmann in seinem Roadmovie-Roman „Sophia, der Tod und ich“. Oder lakonisch-elegant wie der britische Autor Max Porter. Der erfindet seinem Trauernden in „Trauer ist das Ding mit Federn“ eine hässliche Krähe an die Seite, die ihm Trost spendet. Oder man macht es so erschütternd, so lebensbejahend und liebevoll wie Mely Kiyak in ihrem autofiktionalen Sterbebegleitungsbericht „Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“, in dem sie von sich, ihrem Vater und dem Lungenkrebs schreibt.
Daniela Krien entscheidet sich für die ungebrochene Super-Nahaufnahme der gebrochenen Mutter. Kein Humor, kein doppelter Boden, keine spirituelle Überhöhung. Die Ich-Erzählerin Linda spricht im Präsens, hangelt sich von Minute zu Minute und von Tag zu Tag vor. Es ist die direkte Sprache einer Frau, die keine Zukunft für sich sieht. Alles ist seit Sonjas Tod nur noch Gegenwart, der nächste Moment eine immense Anstrengung entfernt, der vergangene Moment irgendwohin verschwunden. Man spricht nicht ohne Grund von Trauerarbeit. Ganz ohne Kitsch kommt Krien zwar nicht aus – „Ich hätte nie ein Kind bekommen dürfen, denke ich. Ich bin zu schwach für eine solche Liebe“ –, lässt sich aber nie forttragen von der Ergriffenheit von diesem Leid.
„Menschen ermüden vom Leid anderer Menschen“, sagt Linda. Zu fast allen Freunden hat sie da schon lang den Kontakt verloren oder eingeschränkt. „Sie verlieren die Lust, Rücksicht zu nehmen, wollen wieder selbst klagen dürfen. Sie sind heimlich wütend darüber, dass vor meinem Problem jedes ihrer eigenen Probleme verblasst.“ Und weiter: „Meine Anwesenheit zwingt sie, ihr Glück zu begreifen.“
Glück, dieser Bastard. Die Überlegung, was Glück eigentlich ist, webt Krien vorsichtig in „Mein drittes Leben“ ein. Sonja war 17, hatte gerade ihren ersten Freund. Als sie starb, war sie auf dem Weg zur Gynäkologin, um sich die Pille verschreiben zu lassen. Ein Leben am Anfang, aufregend, jung, voller erster Male, die jetzt nie stattfinden werden. Ist es Glück, 17 Jahre lang eine gesunde, fröhliche Tochter zu haben und dann eben nicht mehr? Ist Glück, eine kranke Tochter zu haben, wie Lindas Bekannte Natascha, die immer in finanzieller Not steckt, alleingelassen mit ihrer behinderten Tochter Nine, um die sie sich ihr Leben lang sorgen und kümmern muss?
„Unter jedem Dach ein ach“, sagt an einer Stelle die über 80-Jährige Witwe Frau Engel. Und die krebskranke Bruni meint lapidar: „Alle hammse ihr Päckchen zu tragen.“ Daniela Krien spielt nie das eine gegen das andere Leid aus, betritt auch nie das heikle „Warum?“-Terrain. Krebs, Armut, Einsamkeit, Tod, gescheiterte Beziehungen, Flucht, finanzielle Nöte – das sind viel mehr die Dinge, die Linda plötzlich im Leben der anderen wahrzunehmen beginnt. Indem Daniela Krien die anderen Figuren und deren (Leid-)Biografien nach und nach im Roman behutsam sichtbar macht, ist es, als gäbe es plötzlich so etwas wie eine unsichtbare Verbindung unter ihnen, die Linda vorher nicht aufgefallen war. Am Ende findet Linda zu der Möglichkeit, dass es wieder so etwas wie Freude geben kann. Sie zieht zurück in die Stadt, wendet sich den Lebenden, wendet sich auch Richard wieder zu und kommt irgendwie an einer Stelle in ihrem „dritten Leben“ heraus, von der aus sie weitermachen will. Was Trost spenden kann, sind andere Menschen. Das gibt Hoffnung und mag zur großen Wahrheit menschlichen Lebens gehören, hat dann aber doch ein Geschmäckle von bemüht-erbaulicher Sinn-Lektüre, vom unbedingten Willen zum Happy End im Very Unhappy End. Trauer ist auch für Lesende schwer auszuhalten, nicht nur für Trauernde.
Was Trost spenden
kann, sind andere Menschen.
Das gibt Hoffnung
Daniela Krien:
Mein drittes Leben. Roman. Diogenes,
Zürich 2024.
304 Seiten, 26 Euro.
Daniela Krien steht mit „Mein drittes Leben“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.
Foto: Maurice Haas / Diogenes
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»Das ist ein großer Stoff, der hier mit sprachlicher Eleganz und psychologisch treffend inszeniert wird.« Tanya Lieske / Deutschlandfunk Deutschlandfunk