Der Bestseller aus Italien und Gewinner des renommierten "Premio Campiello". In einer kühlen Winternacht, inmitten von Bäumen und Hügeln, wird ein Steinmarder zusammen mit seinen Geschwistern geboren. Der Vater kam ums Leben, die Mutter muss die Jungen allein durchbringen. Archy ist schwach, daher wird er von seiner Mutter für eineinhalb Hühner an einen alten Fuchs verkauft. Sein neuer Herr, Fëdor, lebt auf einer Anhöhe und ist voller Geheimnisse. Und er ist im Besitz einer Bibel, die er wie einen Schatz hütet. Die Tiere in diesem Buch können sprechen, sie benutzen Teller zum Essen, sie entzünden Feuer, und doch bleibt ihre Existenz ein harter und schonungsloser Kampf. Verlorene Lieben, die Grausamkeit der Welt, der Anreiz immer neuer Abenteuer bestimmen Archys Leben. Aber die eigentlichen Fragen stellen sich ihm erst, als der alte Fuchs beginnt, ihm von der Macht der Buchstaben zu erzählen, und ihn das Lesen und Schreiben lehrt. Archys Geschichte ist eine Allegorie auf unsere Existenz. Denn im Spiegel des Tieres wird das menschliche Leben manchmal viel anschaulicher. Grandios interpretiert vom vielfach ausgezeichneten Comedian und Schauspieler Matthias Matschke. Eine Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk.
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Faszinierend, umfassend und ergreifend. Der Bestseller aus Italien und Gewinner des renommierten «Premio Campiello». Ein Roman über Steinmarder, Füchse, Hunde und Hühner - und eine Allegorie auf unsere Existenz. kultbote.de 20230721
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2023Ein Fuchs namens Solomon
Ein Buch voll antijüdischer Stereotype erscheint weltweit. Geschrieben hat es ein junger Autor aus Italien, einem Land, in dem die faschistische Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet wurde. Auch in Deutschland ist es schon erschienen. Wie kann das sein?
Von Karen Krüger
Kann es sein, dass eine als Entwicklungsroman daherkommende Erzählung, die voller antisemitischer Stereotype ist, Erfolge feiert? Ist es möglich, dass Lektoren, Laudatoren, Journalisten nicht hellhörig werden, wenn es darin ein Schwein namens "David" gibt und einen boshaften Wucherer, der "Solomon" heißt? Kann ein solcher Roman mit höchsten literarischen Ehrungen rechnen? Und dann international Karriere machen? Die Antwort auf jede dieser Fragen lautet: ja. Den Beweis liefert ein Roman aus Italien. Er trägt den etwas rätselhaften Titel, "I miei stupidi intenti" ("Meine törichten Absichten") und ist das Debüt des 1995 geborenen Bernardo Zannoni, erschienen 2021 im kleinen, renommierten Verlagshaus Sellerio, das auch Werke von Schriftstellern wie Andrea Camilleri, Gianrico Carofiglio oder Maxim Biller verlegt. In diesem Sommer ist Zannonis Roman auf Deutsch, Englisch und zuvor auf Französisch erschienen. Mehrere weitere Übersetzungen sind in Arbeit.
Der Roman spielt in einer vermenschlichten Tierwelt. Die Protagonisten sind sprechende Füchse, Biber, Kaninchen, Marder und andere Vierbeiner. Ihre Behausungen in Wald und Flur haben Zimmer, Fenster, Betten, Tische; die Tiere pflegen Beziehungen zueinander, die sonst Menschen vorbehalten sind; sie haben Sehnsüchte und Träume und erleben mystische Offenbarungen. Die Hauptfigur ist ein männlicher Steinmarder namens Archy, der als Jungtier von einem Baum stürzt, fortan hinkt, deshalb nicht mehr rennen, jagen, in freier Wildbahn überleben kann. Seine Mutter verkauft ihn an einen alten Fuchs, einem zwischen Grausamkeit und Schläue schwankenden, überheblichen Charakter, dem Archy fortan dienen soll. Der Marder wird erst sehr schlecht behandelt, aber dann bringt der Fuchs ihm Lesen und Schreiben bei und erzählt ihm viel von Gott. Am Ende stirbt der Fuchs in Archys Armen. Archy selbst wird vom eigenen Sohn umgebracht.
Es geht um Liebe, Hass, Sex, Gewalt, Intrigen, Familie, Gott, und das alles vor dem Hintergrund einer unerbittlichen, dem Menschen entfremdeten Natur - die dann aber doch nicht so fremd ist: Äsops Fabeln lassen grüßen. Was weitaus mehr mit dem Eindruck, ein fesselndes, talentiert erzähltes und philosophisch angehauchtes Buch in den Händen zu halten, kollidiert, ist etwas anderes: Der Roman enthält viele Darstellungen, die seit Jahrhunderten verwendet werden, um vermeintlich typisch Jüdisches zu beschreiben.
Zannonis Fuchs heißt "Solomon" und ist im italienischen Original "un usuraio", "ein Wucherer". Er hat einen großen Hund, einen richtig üblen Handlanger, der mit dem Namen eines jüdischen Propheten, nämlich "Gioele", gerufen wird und den Solomon gern losschickt, um Schuldner, wie etwa "David", das Schwein, das die Kredithai-Zinsen nicht bezahlen will, zu bestrafen oder gar zu töten. Gioele spürt sie anhand ihres Geruches auf. Denn als Sicherheit fordert Solomon von jedem Kunden ein Büschel Fell: "Wenn seine Tage abgelaufen waren und er nicht bezahlt hatte, nahm der Hund das Büschel und verschwand in den Wäldern, um mit der geschuldeten Ware oder dem Besitzer zurückzukehren. Solomon, den Wucherer, haute niemand übers Ohr."
Das Buch, das Solomon wie einen Schatz hütet, ist eine Bibel, die offenbar jüdisch ist, denn es werden nur Passagen aus der Thora zitiert. Der Fuchs gelangte in ihren Besitz, weil er eines Tages an einem Baum einen erhängten Mann vorfand. Beim Versuch des Fuchses, zu kosten, wie der Tote schmeckt, rutschte dem die Bibel aus der Kleidung. Solomon erklärt, durch ihre Lektüre habe er zu Gott gefunden und danach den Beruf des Wucherers ergriffen; die jüdische Bibel war folglich seine Inspiration. Auch das jüdische Volk findet Erwähnung - als genauso grausam und gewalttätig wie Solomons Gott selbst: "Die Juden waren sein Volk, und er ließ sie mit anderen kämpfen, die ihn nicht kannten oder ihn ablehnten." Archy hadert deshalb damit, sich dem Glauben hinzugeben. Diese Zweifel zu äußern, wagt er nicht: "Solomon hätte es nicht verstanden, er hätte mich geschlagen, wie die Juden die Ungläubigen."
All das war den italienischen Rezensenten keine einzige kritische Zeile Wert. Der Roman wurde durchweg gelobt, Zannoni als literarisches Wunderkind gefeiert. Einige verglichen den jungen Autor mit George Orwell, Charles Dickens, Albert Camus. Anfang September 2022 erhielt er für den Roman einen der wichtigsten Literaturpreise des Landes, den Premio Campiello, mit dem schon bedeutende Schriftsteller wie Primo Levi oder Alessandro Baricco geehrt wurden. Zannoni ist der bisher jüngste Ausgezeichnete. Einige Tage nach dem Festakt meldete sich die Zeitschrift "Shalom" der jüdischen Gemeinde von Rom zu Wort. In einem äußerst präzisen Artikel wies die Journalistin Elisabetta Fiorito auf die zahlreichen antisemitischen Stereotype in dem Roman hin. Solomon, so ihr Fazit, erscheine wie ein Abbild von Shakespeares Shylock in "Der Kaufmann von Venedig", mit dem, so eine weit verbreitete akademische Meinung, der moderne Antisemitismus begann.
Zannoni reagierte bestürzt. Er habe nicht die Absicht gehabt, jemanden mit dem Buch zu beleidigen, "und es tut mir sehr leid". Das Judentum, erklärte er der Nachrichtenagentur Ansa, habe immer eine große Faszination auf ihn ausgeübt, mit "seinen bedeutungsvollen Geschichten" und den "schönsten Namen, die es auf dieser Welt gibt". Und überhaupt: Sei es nicht Solomon, der den Marder Archy in das Schreiben und Lesen einweihe, was ihn nahezu menschlich werden lasse?
Auch das "Bet Magazine", die Monatszeitschrift der jüdischen Gemeinde Mailands, sowie die Mailänder Beobachtungsstelle für Antisemitismus des Jüdischen Dokumentationszentrums der Gegenwart, kurz CDEC, äußerten starke Bedenken in Bezug auf den Roman. Spätestens jetzt wäre zu erwarten gewesen, dass die Rezensenten und Juroren nochmals Stellung bezögen, den Ball zurückspielten, ja vielleicht sogar ihre Blindheit erklärten. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen: Schweigen. Man ließ die Kritik der jüdischen Gemeinden ins Leere laufen. Die Chance auf eine echte Kontroverse über stereotype Bilder, die fruchtbar hätte sein können, blieb ungenutzt, als seien die Einwände jüdischer Stimmen ein Sturm im Wasserglas. In Italien haben sie wenig Gewicht. Das Land zählt nur noch etwa 30.000 Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens.
Knapp zwei Wochen nach Zannonis Entschuldigung ging Giorgia Melonis rechtsnationales Bündnis als Sieger aus Italiens Parlamentswahlen hervor. Seitdem hat das Land eine Regierung, die so weit rechts steht wie keine seit dem Zweiten Weltkrieg mehr, und eine Ministerpräsidentin, deren Partei, die "Brüder Italiens", im Faschismus verwurzelt ist. Haben Zannonis mit antisemitischen Stereotypen gespicktes Buch und der Erfolg der italienischen Rechten miteinander zu tun? Indirekt ja. Eine wirkliche Aufarbeitung des Faschismus mit seinem gesellschaftlichen Ausschluss jüdischer Mitbürger ab 1939 durch Mussolinis Rassegesetze und der Deportation von Tausenden Juden ab 1943 als Beitrag zur deutschen "Endlösung" hat nie stattgefunden. Zwar gab es nach dem Krieg zunächst Prozesse gegen Faschisten und Nazi-Kollaborateure. Doch schon 1946 setzte Palmiro Togliatti, damals Justizminister und Führer der Kommunistischen Partei, dem mit einer Amnesie ein Ende. Unzählige Täter und Mittäter wechselten in die öffentliche Verwaltung, den Polizei- und Justizapparat, den Bildungssektor. Im Schulunterricht wird der Faschismus bis heute nur gestreift - an Zannonis Schule wird das kaum anders gewesen sein. Für die Erinnerung an die Opfer, so meinen viele, sei ja der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar da. Ist er vorbei, wird wieder die Überzeugung vom "guten Italiener" gepflegt - schließlich habe Italien sich durch die Partisanenbewegung selbst befreit.
Anruf bei Ugo Volli, Semiologe, Journalist und ehemaliger Präsident der Mailänder Reformsynagoge Lev Chadash. "Vielleicht bin ich zu gutgläubig, aber ich denke, dieser junge Schriftsteller hatte tatsächlich nicht die Intention, antisemitische Stereotype zu bedienen. Er tat es offenbar unreflektiert - und das macht die Sache, wie ich finde, letztlich noch schlimmer. Er dekorierte seine Geschichte mit antisemitischen Zuschreibungen, ohne zu verstehen, dass sie antisemitisch sind. Sie sind so tief verwurzelt und auf eine diffuse Art so verbreitet in Italiens Gesellschaft, dass sie nicht infrage gestellt werden." Aus demselben Grund, vermutet Volli, hätten wahrscheinlich auch die italienischen Kritiker und Juroren nichts Auffälliges an dem Buch gefunden. Es gehe bei dieser Geschichte also nicht allein um Bernardo Zannoni und dessen Roman, sondern um ein bestimmtes kulturelles Erbe: "Es ist unsere Pflicht, auch noch achtzig Jahre nach der Schoa immer wieder darauf hinzuweisen und es zu erklären."
Im Sommer nun ist also aus "I miei stupidi intenti" in Amerika "My stupid intentions" (Verlag New York Review Books), in Deutschland "Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten" (Rowohlt Verlag) und zuvor in Frankreich "Mes désirs futiles" (Verlag Table Ronde) geworden. Liest man die deutsche Ausgabe (hr2-kultur hat eine mehrtägige Radiolesung des Romans mit dem Schauspieler Matthias Matschke produziert), wundert man sich und hat den Eindruck, eine Mogelpackung vor sich zu haben - vorausgesetzt, man kennt das italienische Original. In der deutschen Übersetzung gibt es nämlich keinen Fuchs, der "Wucherer" ist und "Solomon" heißt. Stattdessen heißt der Fuchs dort "Fëdor" und ist "Pfandleiher", was seinen antisemitischen Geruch aber nicht vertreibt. Auf Anfrage teilte der Rowohlt Verlag, der das Buch nach eigenem Bekunden schon Anfang 2022 einkaufte, der F.A.S. mit: "Bei der auffällig eklektischen Namensgebung der Tiere im Wald (Otis, Klaus, Gilles, Anja) hat uns der jüdisch klingende Name der Fuchsfigur von Beginn an Unbehagen bereitet, was wir beim italienischen Verlag auch angesprochen haben." Als man dann von der italienischen Diskussion um die antisemitischen Stereotype erfahren habe, sei man erneut an Sellerio und den Autor herangetreten, "mit unserer Einschätzung, dass es gerade für eine deutsche Ausgabe wünschenswert wäre, den Namen Solomon durch einen anderen zu ersetzen. Bernardo Zannoni hat daraufhin den neuen Namen vorgeschlagen, der in unserer Ausgabe zu finden ist." Da die veränderte Namensgebung einem Vorschlag des Autors folgte, habe man von einer editorischen Notiz dazu abgesehen.
Dass jedoch nicht allein die Namensgebung des Fuchses Fragen aufwirft, darüber scheint man sich bei Rowohlt klar gewesen zu sein. Ein Roman, der derart deutlich antisemitische Stereotype wie das italienische Original transportiert, wäre in Deutschland tatsächlich nicht marktfähig gewesen - und würde auch gar nicht zu einem Verlagshaus wie Rowohlt passen. Es wurde nicht nur der Name des Fuchses, sondern es wurden auch Stellen verändert, die eindeutig eine Verbindung zum Judentum ziehen oder es negativ porträtieren. Im italienischen Original fragt Solomon seinen Schüler Archy, ob er wisse, welches Ende der Mann genommen habe, der "am Sabbat Holz" sammelte. Damit verweist er auf eine Geschichte der Thora im Buch Numeri, das vom Volk Israel in der Wüste handelt: Der Mann, der am Sabbat Holz sammelte, wurde zur Strafe gesteinigt. In der deutschen Übersetzung von Zannonis Roman ist "Sabbat" mit "samstags" übersetzt. Noch deutlicher ist der Eingriff an der oben schon zitierten Stelle, an der Archy es nicht wagt, offen zu zweifeln: "Solomon hätte es nicht verstanden, er hätte mich geschlagen, wie die Juden die Ungläubigen" ("Solomon non avrebbe capito, mi avrebbe picchiato come gli ebrei con gli infedeli"). In der deutschen Ausgabe lautet die Stelle: "Fëdor hätte es nicht verstanden, er hätte mich geschlagen." Den zweiten Teil des Satzes ließ man einfach weg.
Die Verlage in Frankreich und den USA, wo jüngere Studien - wie auch in Deutschland - einen deutlichen Anstieg von Antisemitismus festgestellt haben, wählten einen anderen Weg. Aus dem "Wucherer" wurde zwar auch in der französischen und englischsprachigen Übersetzung ein "prêteur sur gages" und ein "lender", also "Pfandleiher" beziehungsweise "Leiher". Doch an den Namen änderte man dort nichts, ebenso wurden keine Textstellen verkürzt. Die englischsprachige Ausgabe blieb beim Mann, der am Sabbat Holz sammelte, wortgenau. In der französischen wählte man "samedi", also "Samstag". Auf die Anfrage der F.A.S., ob die Kritik der jüdischen Gemeinde von Rom bekannt gewesen sei und, falls ja, ob man in Erwägung gezogen habe, deshalb bei der Übersetzung etwas zu ändern, haben weder Table Ronde noch die New York Review Books reagiert. Frankreichs Presse zeigte sich äußerst angetan von dem Buch: "Eine köstliche philosophische und tierische Fabel", jubelte etwa das Nachrichtenmagazin "L'Obs", und die Literaturbeilage von "Le Monde" schrieb: "Die Stärke dieser Initiationsfabel liegt darin, dass alles gesagt wird, ohne dass ein Wort überflüssig ist." Auch in den USA fielen die Kritiken bisher positiv aus. Die "New York Times" stellte zwar fest, die Figur des Solomon habe einen "antisemitischen Beigeschmack", und Zannonis Bezüge zur Natur der Tiere oder zu theologischen Fragen seien nicht immer besonders "nuanciert". Doch winkte die sonst sehr um politische Korrektheit bemühte Zeitung den Roman als eine "kraftvolle und intensive Geschichte" durch.
Ein angefragtes Gespräch mit dem Autor Zannoni, der aus der ligurischen Kleinstadt Sarzana stammt und auch dort lebt, kam nicht zustande. Er ist ins französische Bastia abgereist, wo ihm am Donnerstag für seinen Roman ein weiterer Literaturpreis (es dürfte mittlerweile der etwa zehnte sein) verliehen wurde. Man hätte ihn gern gefragt, ob es, nachdem klar war, dass sein Roman antisemitische Vorurteile bedient, derer er sich nicht bewusst gewesen ist, danach Überlegungen gegeben hat, die ausländischen Verlage zu bitten, bei der Übersetzung entsprechend zu intervenieren. Wenn es Zannoni ernst war mit seinem Bedauern, wäre das eine Möglichkeit gewesen, wieder etwas gutzumachen - und sich als Autor dabei selbst zu schützen.
Offenbar tritt sein Buch nun einfach so, mit einem antisemitisch gezeichneten Fuchs und den "schönsten Namen, die es auf dieser Welt gibt", seine Welttournee an. Es wurde bisher neben Deutschland, Frankreich, den USA und England nach Spanien, Griechenland, Holland, Portugal, Polen, Slowenien, die Türkei und in die Regionen Galicien und Katalonien verkauft. Der Roman wird dort überall Leserinnen und Leser finden, die, bewusst oder unbewusst, eine ideologische Komplizenschaft mit den Darstellungen darin eingehen werden. Man kann Vorurteile dekonstruieren, man kann auf ihnen herumreiten oder sie durch den beiläufigen oder gleichgültigen Umgang mit ihnen auf giftige Art weiterführen. Zannonis Buch tut Letzteres.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch voll antijüdischer Stereotype erscheint weltweit. Geschrieben hat es ein junger Autor aus Italien, einem Land, in dem die faschistische Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet wurde. Auch in Deutschland ist es schon erschienen. Wie kann das sein?
Von Karen Krüger
Kann es sein, dass eine als Entwicklungsroman daherkommende Erzählung, die voller antisemitischer Stereotype ist, Erfolge feiert? Ist es möglich, dass Lektoren, Laudatoren, Journalisten nicht hellhörig werden, wenn es darin ein Schwein namens "David" gibt und einen boshaften Wucherer, der "Solomon" heißt? Kann ein solcher Roman mit höchsten literarischen Ehrungen rechnen? Und dann international Karriere machen? Die Antwort auf jede dieser Fragen lautet: ja. Den Beweis liefert ein Roman aus Italien. Er trägt den etwas rätselhaften Titel, "I miei stupidi intenti" ("Meine törichten Absichten") und ist das Debüt des 1995 geborenen Bernardo Zannoni, erschienen 2021 im kleinen, renommierten Verlagshaus Sellerio, das auch Werke von Schriftstellern wie Andrea Camilleri, Gianrico Carofiglio oder Maxim Biller verlegt. In diesem Sommer ist Zannonis Roman auf Deutsch, Englisch und zuvor auf Französisch erschienen. Mehrere weitere Übersetzungen sind in Arbeit.
Der Roman spielt in einer vermenschlichten Tierwelt. Die Protagonisten sind sprechende Füchse, Biber, Kaninchen, Marder und andere Vierbeiner. Ihre Behausungen in Wald und Flur haben Zimmer, Fenster, Betten, Tische; die Tiere pflegen Beziehungen zueinander, die sonst Menschen vorbehalten sind; sie haben Sehnsüchte und Träume und erleben mystische Offenbarungen. Die Hauptfigur ist ein männlicher Steinmarder namens Archy, der als Jungtier von einem Baum stürzt, fortan hinkt, deshalb nicht mehr rennen, jagen, in freier Wildbahn überleben kann. Seine Mutter verkauft ihn an einen alten Fuchs, einem zwischen Grausamkeit und Schläue schwankenden, überheblichen Charakter, dem Archy fortan dienen soll. Der Marder wird erst sehr schlecht behandelt, aber dann bringt der Fuchs ihm Lesen und Schreiben bei und erzählt ihm viel von Gott. Am Ende stirbt der Fuchs in Archys Armen. Archy selbst wird vom eigenen Sohn umgebracht.
Es geht um Liebe, Hass, Sex, Gewalt, Intrigen, Familie, Gott, und das alles vor dem Hintergrund einer unerbittlichen, dem Menschen entfremdeten Natur - die dann aber doch nicht so fremd ist: Äsops Fabeln lassen grüßen. Was weitaus mehr mit dem Eindruck, ein fesselndes, talentiert erzähltes und philosophisch angehauchtes Buch in den Händen zu halten, kollidiert, ist etwas anderes: Der Roman enthält viele Darstellungen, die seit Jahrhunderten verwendet werden, um vermeintlich typisch Jüdisches zu beschreiben.
Zannonis Fuchs heißt "Solomon" und ist im italienischen Original "un usuraio", "ein Wucherer". Er hat einen großen Hund, einen richtig üblen Handlanger, der mit dem Namen eines jüdischen Propheten, nämlich "Gioele", gerufen wird und den Solomon gern losschickt, um Schuldner, wie etwa "David", das Schwein, das die Kredithai-Zinsen nicht bezahlen will, zu bestrafen oder gar zu töten. Gioele spürt sie anhand ihres Geruches auf. Denn als Sicherheit fordert Solomon von jedem Kunden ein Büschel Fell: "Wenn seine Tage abgelaufen waren und er nicht bezahlt hatte, nahm der Hund das Büschel und verschwand in den Wäldern, um mit der geschuldeten Ware oder dem Besitzer zurückzukehren. Solomon, den Wucherer, haute niemand übers Ohr."
Das Buch, das Solomon wie einen Schatz hütet, ist eine Bibel, die offenbar jüdisch ist, denn es werden nur Passagen aus der Thora zitiert. Der Fuchs gelangte in ihren Besitz, weil er eines Tages an einem Baum einen erhängten Mann vorfand. Beim Versuch des Fuchses, zu kosten, wie der Tote schmeckt, rutschte dem die Bibel aus der Kleidung. Solomon erklärt, durch ihre Lektüre habe er zu Gott gefunden und danach den Beruf des Wucherers ergriffen; die jüdische Bibel war folglich seine Inspiration. Auch das jüdische Volk findet Erwähnung - als genauso grausam und gewalttätig wie Solomons Gott selbst: "Die Juden waren sein Volk, und er ließ sie mit anderen kämpfen, die ihn nicht kannten oder ihn ablehnten." Archy hadert deshalb damit, sich dem Glauben hinzugeben. Diese Zweifel zu äußern, wagt er nicht: "Solomon hätte es nicht verstanden, er hätte mich geschlagen, wie die Juden die Ungläubigen."
All das war den italienischen Rezensenten keine einzige kritische Zeile Wert. Der Roman wurde durchweg gelobt, Zannoni als literarisches Wunderkind gefeiert. Einige verglichen den jungen Autor mit George Orwell, Charles Dickens, Albert Camus. Anfang September 2022 erhielt er für den Roman einen der wichtigsten Literaturpreise des Landes, den Premio Campiello, mit dem schon bedeutende Schriftsteller wie Primo Levi oder Alessandro Baricco geehrt wurden. Zannoni ist der bisher jüngste Ausgezeichnete. Einige Tage nach dem Festakt meldete sich die Zeitschrift "Shalom" der jüdischen Gemeinde von Rom zu Wort. In einem äußerst präzisen Artikel wies die Journalistin Elisabetta Fiorito auf die zahlreichen antisemitischen Stereotype in dem Roman hin. Solomon, so ihr Fazit, erscheine wie ein Abbild von Shakespeares Shylock in "Der Kaufmann von Venedig", mit dem, so eine weit verbreitete akademische Meinung, der moderne Antisemitismus begann.
Zannoni reagierte bestürzt. Er habe nicht die Absicht gehabt, jemanden mit dem Buch zu beleidigen, "und es tut mir sehr leid". Das Judentum, erklärte er der Nachrichtenagentur Ansa, habe immer eine große Faszination auf ihn ausgeübt, mit "seinen bedeutungsvollen Geschichten" und den "schönsten Namen, die es auf dieser Welt gibt". Und überhaupt: Sei es nicht Solomon, der den Marder Archy in das Schreiben und Lesen einweihe, was ihn nahezu menschlich werden lasse?
Auch das "Bet Magazine", die Monatszeitschrift der jüdischen Gemeinde Mailands, sowie die Mailänder Beobachtungsstelle für Antisemitismus des Jüdischen Dokumentationszentrums der Gegenwart, kurz CDEC, äußerten starke Bedenken in Bezug auf den Roman. Spätestens jetzt wäre zu erwarten gewesen, dass die Rezensenten und Juroren nochmals Stellung bezögen, den Ball zurückspielten, ja vielleicht sogar ihre Blindheit erklärten. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen: Schweigen. Man ließ die Kritik der jüdischen Gemeinden ins Leere laufen. Die Chance auf eine echte Kontroverse über stereotype Bilder, die fruchtbar hätte sein können, blieb ungenutzt, als seien die Einwände jüdischer Stimmen ein Sturm im Wasserglas. In Italien haben sie wenig Gewicht. Das Land zählt nur noch etwa 30.000 Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens.
Knapp zwei Wochen nach Zannonis Entschuldigung ging Giorgia Melonis rechtsnationales Bündnis als Sieger aus Italiens Parlamentswahlen hervor. Seitdem hat das Land eine Regierung, die so weit rechts steht wie keine seit dem Zweiten Weltkrieg mehr, und eine Ministerpräsidentin, deren Partei, die "Brüder Italiens", im Faschismus verwurzelt ist. Haben Zannonis mit antisemitischen Stereotypen gespicktes Buch und der Erfolg der italienischen Rechten miteinander zu tun? Indirekt ja. Eine wirkliche Aufarbeitung des Faschismus mit seinem gesellschaftlichen Ausschluss jüdischer Mitbürger ab 1939 durch Mussolinis Rassegesetze und der Deportation von Tausenden Juden ab 1943 als Beitrag zur deutschen "Endlösung" hat nie stattgefunden. Zwar gab es nach dem Krieg zunächst Prozesse gegen Faschisten und Nazi-Kollaborateure. Doch schon 1946 setzte Palmiro Togliatti, damals Justizminister und Führer der Kommunistischen Partei, dem mit einer Amnesie ein Ende. Unzählige Täter und Mittäter wechselten in die öffentliche Verwaltung, den Polizei- und Justizapparat, den Bildungssektor. Im Schulunterricht wird der Faschismus bis heute nur gestreift - an Zannonis Schule wird das kaum anders gewesen sein. Für die Erinnerung an die Opfer, so meinen viele, sei ja der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar da. Ist er vorbei, wird wieder die Überzeugung vom "guten Italiener" gepflegt - schließlich habe Italien sich durch die Partisanenbewegung selbst befreit.
Anruf bei Ugo Volli, Semiologe, Journalist und ehemaliger Präsident der Mailänder Reformsynagoge Lev Chadash. "Vielleicht bin ich zu gutgläubig, aber ich denke, dieser junge Schriftsteller hatte tatsächlich nicht die Intention, antisemitische Stereotype zu bedienen. Er tat es offenbar unreflektiert - und das macht die Sache, wie ich finde, letztlich noch schlimmer. Er dekorierte seine Geschichte mit antisemitischen Zuschreibungen, ohne zu verstehen, dass sie antisemitisch sind. Sie sind so tief verwurzelt und auf eine diffuse Art so verbreitet in Italiens Gesellschaft, dass sie nicht infrage gestellt werden." Aus demselben Grund, vermutet Volli, hätten wahrscheinlich auch die italienischen Kritiker und Juroren nichts Auffälliges an dem Buch gefunden. Es gehe bei dieser Geschichte also nicht allein um Bernardo Zannoni und dessen Roman, sondern um ein bestimmtes kulturelles Erbe: "Es ist unsere Pflicht, auch noch achtzig Jahre nach der Schoa immer wieder darauf hinzuweisen und es zu erklären."
Im Sommer nun ist also aus "I miei stupidi intenti" in Amerika "My stupid intentions" (Verlag New York Review Books), in Deutschland "Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten" (Rowohlt Verlag) und zuvor in Frankreich "Mes désirs futiles" (Verlag Table Ronde) geworden. Liest man die deutsche Ausgabe (hr2-kultur hat eine mehrtägige Radiolesung des Romans mit dem Schauspieler Matthias Matschke produziert), wundert man sich und hat den Eindruck, eine Mogelpackung vor sich zu haben - vorausgesetzt, man kennt das italienische Original. In der deutschen Übersetzung gibt es nämlich keinen Fuchs, der "Wucherer" ist und "Solomon" heißt. Stattdessen heißt der Fuchs dort "Fëdor" und ist "Pfandleiher", was seinen antisemitischen Geruch aber nicht vertreibt. Auf Anfrage teilte der Rowohlt Verlag, der das Buch nach eigenem Bekunden schon Anfang 2022 einkaufte, der F.A.S. mit: "Bei der auffällig eklektischen Namensgebung der Tiere im Wald (Otis, Klaus, Gilles, Anja) hat uns der jüdisch klingende Name der Fuchsfigur von Beginn an Unbehagen bereitet, was wir beim italienischen Verlag auch angesprochen haben." Als man dann von der italienischen Diskussion um die antisemitischen Stereotype erfahren habe, sei man erneut an Sellerio und den Autor herangetreten, "mit unserer Einschätzung, dass es gerade für eine deutsche Ausgabe wünschenswert wäre, den Namen Solomon durch einen anderen zu ersetzen. Bernardo Zannoni hat daraufhin den neuen Namen vorgeschlagen, der in unserer Ausgabe zu finden ist." Da die veränderte Namensgebung einem Vorschlag des Autors folgte, habe man von einer editorischen Notiz dazu abgesehen.
Dass jedoch nicht allein die Namensgebung des Fuchses Fragen aufwirft, darüber scheint man sich bei Rowohlt klar gewesen zu sein. Ein Roman, der derart deutlich antisemitische Stereotype wie das italienische Original transportiert, wäre in Deutschland tatsächlich nicht marktfähig gewesen - und würde auch gar nicht zu einem Verlagshaus wie Rowohlt passen. Es wurde nicht nur der Name des Fuchses, sondern es wurden auch Stellen verändert, die eindeutig eine Verbindung zum Judentum ziehen oder es negativ porträtieren. Im italienischen Original fragt Solomon seinen Schüler Archy, ob er wisse, welches Ende der Mann genommen habe, der "am Sabbat Holz" sammelte. Damit verweist er auf eine Geschichte der Thora im Buch Numeri, das vom Volk Israel in der Wüste handelt: Der Mann, der am Sabbat Holz sammelte, wurde zur Strafe gesteinigt. In der deutschen Übersetzung von Zannonis Roman ist "Sabbat" mit "samstags" übersetzt. Noch deutlicher ist der Eingriff an der oben schon zitierten Stelle, an der Archy es nicht wagt, offen zu zweifeln: "Solomon hätte es nicht verstanden, er hätte mich geschlagen, wie die Juden die Ungläubigen" ("Solomon non avrebbe capito, mi avrebbe picchiato come gli ebrei con gli infedeli"). In der deutschen Ausgabe lautet die Stelle: "Fëdor hätte es nicht verstanden, er hätte mich geschlagen." Den zweiten Teil des Satzes ließ man einfach weg.
Die Verlage in Frankreich und den USA, wo jüngere Studien - wie auch in Deutschland - einen deutlichen Anstieg von Antisemitismus festgestellt haben, wählten einen anderen Weg. Aus dem "Wucherer" wurde zwar auch in der französischen und englischsprachigen Übersetzung ein "prêteur sur gages" und ein "lender", also "Pfandleiher" beziehungsweise "Leiher". Doch an den Namen änderte man dort nichts, ebenso wurden keine Textstellen verkürzt. Die englischsprachige Ausgabe blieb beim Mann, der am Sabbat Holz sammelte, wortgenau. In der französischen wählte man "samedi", also "Samstag". Auf die Anfrage der F.A.S., ob die Kritik der jüdischen Gemeinde von Rom bekannt gewesen sei und, falls ja, ob man in Erwägung gezogen habe, deshalb bei der Übersetzung etwas zu ändern, haben weder Table Ronde noch die New York Review Books reagiert. Frankreichs Presse zeigte sich äußerst angetan von dem Buch: "Eine köstliche philosophische und tierische Fabel", jubelte etwa das Nachrichtenmagazin "L'Obs", und die Literaturbeilage von "Le Monde" schrieb: "Die Stärke dieser Initiationsfabel liegt darin, dass alles gesagt wird, ohne dass ein Wort überflüssig ist." Auch in den USA fielen die Kritiken bisher positiv aus. Die "New York Times" stellte zwar fest, die Figur des Solomon habe einen "antisemitischen Beigeschmack", und Zannonis Bezüge zur Natur der Tiere oder zu theologischen Fragen seien nicht immer besonders "nuanciert". Doch winkte die sonst sehr um politische Korrektheit bemühte Zeitung den Roman als eine "kraftvolle und intensive Geschichte" durch.
Ein angefragtes Gespräch mit dem Autor Zannoni, der aus der ligurischen Kleinstadt Sarzana stammt und auch dort lebt, kam nicht zustande. Er ist ins französische Bastia abgereist, wo ihm am Donnerstag für seinen Roman ein weiterer Literaturpreis (es dürfte mittlerweile der etwa zehnte sein) verliehen wurde. Man hätte ihn gern gefragt, ob es, nachdem klar war, dass sein Roman antisemitische Vorurteile bedient, derer er sich nicht bewusst gewesen ist, danach Überlegungen gegeben hat, die ausländischen Verlage zu bitten, bei der Übersetzung entsprechend zu intervenieren. Wenn es Zannoni ernst war mit seinem Bedauern, wäre das eine Möglichkeit gewesen, wieder etwas gutzumachen - und sich als Autor dabei selbst zu schützen.
Offenbar tritt sein Buch nun einfach so, mit einem antisemitisch gezeichneten Fuchs und den "schönsten Namen, die es auf dieser Welt gibt", seine Welttournee an. Es wurde bisher neben Deutschland, Frankreich, den USA und England nach Spanien, Griechenland, Holland, Portugal, Polen, Slowenien, die Türkei und in die Regionen Galicien und Katalonien verkauft. Der Roman wird dort überall Leserinnen und Leser finden, die, bewusst oder unbewusst, eine ideologische Komplizenschaft mit den Darstellungen darin eingehen werden. Man kann Vorurteile dekonstruieren, man kann auf ihnen herumreiten oder sie durch den beiläufigen oder gleichgültigen Umgang mit ihnen auf giftige Art weiterführen. Zannonis Buch tut Letzteres.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main