Eine Freundschaft als Spiegel einer Stadt, einer Nation, einer ganzen Generation Im Alter von 66 Jahren erfüllt sich Lila einen Traum: Sie verschwindet von einem Tag auf den anderen. Zurück bleibt ihre beste Freundin Elena und schreibt ihre gemeinsame Geschichte nieder: In den 1950er Jahren wachsen sie am Rande Neapels auf. Elena erzählt vom Alltag der kleinen Leute, vom Zugschaffner Donato, der Gedichte schreibt, vom tyrannischen Don Achille, von den Solara-Brüdern, die sonntags mit ihrem Auto den Corso abfahren. Von Mädchenträumen und erster Liebe. Doch auch wenn ihre Lebenswege nicht parallel verlaufen, da Elena das Gymnasium besuchen darf, als Lila schon auf ihre Hochzeit zusteuert, bleibt eines unverbrüchlich: ihre Freundschaft. Theater- und Filmschauspielerin Eva Mattes leiht Elena in dieser ungekürzten Lesung ihre Stimme. (Laufzeit: 11h 43)
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buecher-magazin.deIn der Erscheinungswoche erstürmte sie die Bestsellerlisten, das Literarische Quartett attestierte ein mediales Strohfeuer, um die Neapolitanische Saga dann einmütig zu verreißen. Was ist also dran an dem Auftakt zu dem vierbändigen Epos, das unter dem Pseudonym Elena Ferrante erscheint und in Italien und den USA ein wahres Ferrante-Fieber entfachte? Erzählt wird von Lila und Elena, zwei ungleichen Freundinnen. Es ist die 66-jährige Elena, die diese Geschichte aufschreibt - um die verschwundene Lila durch ihre Erinnerung zurückzuholen. Diese Erinnerungen entführen in ein von dunkler Armut, familiärer Gewalt und mafiösen Strukturen dominiertes Arbeiterviertel im Neapel der Nachkriegszeit. Hier finden sich die beiden Mädchen und spornen sich in ihren Träumen gegenseitig an, dieser kleingeistigen Welt zu entfliehen. Sie verschlingen Romanwelten, kämpfen um die Bestnoten - und doch wird nur einer von beiden der Weg zu einer höheren Bildung ermöglicht. Die klare und bildhafte Sprache von Elena lässt diese archaisch anmutende, enge Welt auferstehen und durch die inneren Zwiegespräche und Reflexionen wird die Freundschaft zum Spiegel ihrer Identität. Denn es ist diese explizit weibliche Perspektive, jenseits von patriarchalischer Mafia-Nostalgie, die dieses Buch so reizvoll macht.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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"Eine Lesung, bestens geeignet für eine Autofahrt in die geschundene, schöne Stadt Neapel."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2016Proust, Dickens, sonst noch was?
Eine anonyme Autorin. Eine Buchserie. Und Lob überall. Aber was ist dran an Elena Ferrante und ihrer Geschichte zweier Freundinnen im Neapel von gestern? Über "Meine geniale Freundin"
Vor genau einem Jahr habe ich das erste Mal von Elena Ferrante gehört. Eine Freundin war im Sommer nach Kreta gefahren, hatte sich vorher die englische Übersetzung von "L'amica geniale" besorgt, den ersten Teil einer neapolitanischen Romanserie, von der, wie sie erzählte, in New York wirklich alle begeistert wären und deren Autorin man nicht kenne. Man wisse einfach nicht, wer sie sei. Unglaublich, wie ihr das gelinge, nicht enttarnt zu werden, sagte sie, fing an zu lesen, klappte das Buch am Strand aber irgendwann wieder zu. Sie hätte schwören können, dass, bei allem, was sie darüber gehört hatte, dies genau ihr Buch hätte sein können, wie für sie geschrieben. War es dann aber nicht. Und so vergaß auch ich Elena Ferrante wieder.
Bis jetzt. Denn so viele Lobeshymnen wie allein in dieser Woche über "Meine geniale Freundin", die gerade erschienene deutsche Übersetzung des ersten Bands, habe ich lange nicht über ein und dasselbe Buch gelesen. Jedenfalls nicht in diesem schwärmerischen Tonfall, der mir, möglicherweise beeinflusst durch das Urteil meiner Freundin, ziemlich komisch vorkommt. Genauso komisch wie dieser Vergleich, der da gezogen wurde: Elena Ferrante schreibe wie Marcel Proust oder Charles Dickens. Was ich als Qualitätsmerkmal nicht verstehe.
Wieso sollte es erstrebenswert sein, im einundzwanzigsten Jahrhundert so zu schreiben wie im neunzehnten oder beginnenden zwanzigsten? Wenn der Schriftsteller Christian Kracht in seinem neuesten Roman "Die Toten" so klingt wie Thomas Mann, dann ja immerhin ironisch (und selbst das ist eine Ironie-Show für Eingeweihte, auf die man sich erst mal einlassen wollen muss). Vielleicht stehen die Namen Dickens und Proust hier aber auch bloß für den Effekt einer Verzauberung durch Literatur. Für so etwas wie eine phantastische Zeitreise, dafür, hineinversetzt zu werden in eine andere Welt und eine andere Zeit. Und wenn zumindest ich etwas nicht will beim Lesen, dann verzaubert werden.
Aber widerstehen kann ich nicht. Ich will wissen, wie dieses Buch ist, gerade weil sich so viele darauf einigen können. Irgendwas muss ja dran sein. Und natürlich gibt es diese Möglichkeit, dass meine Vorbehalte sich überhaupt nicht bestätigen, darüber wäre ich sogar sehr froh, weil es auch bedeuten würde, dass ich meine Zeit nicht verschwende. Eigentlich hatte ich fest vor, Thomas Melles "Die Welt im Rücken" zu lesen. Das schiebe ich jetzt auf - zugunsten von Elena Ferrante.
Und es fängt ganz gut an. Eine Frau verschwindet, hinterlässt keinerlei Spuren, nimmt alles mit, schneidet sich sogar aus den Fotos heraus, die in ihrer Wohnung auf sie hätten hinweisen können. Die Frau ist die beste Freundin einer anderen, die hier erzählt, und zwar ganz von vorn: wie sie sich kennengelernt haben, Elena und Lila, zwei Mädchen, die in den fünfziger Jahren in Neapel aufwachsen und gegenseitig erst mal ihre Puppen in ein schwarzes Kellerloch werfen, bevor sie sich einander nähern und anfreunden.
Daran sind schon mal zwei Sachen gut: Mich interessiert ganz grundsätzlich die ja immer komplizierte Beziehung von Freundinnen. Und wie das Kompetitive und Niederträchtige hier von Beginn an mitschwingt, wie die eine rückblickend beschreibt, wie sie der Ausstrahlung der anderen erliegt und sogar bereit ist, ihre Verzweiflung über das, was diese ihr antut, zu verbergen, weil es noch schmerzhafter wäre, mit ihr zu streiten oder sie womöglich zu verlieren: Das ist eindringlich und zieht mich weiter.
Das andere ist: Wo zwei Mädchen im Grundschulalter die Puppe der jeweils anderen in ein schwarzes Kellerloch werfen, geht es nicht zimperlich zu. Von Beginn an spielen Unfälle aller Art eine Rolle. Menschen werden verletzt, gehen mit Messern aufeinander los oder tragen die Zeichen des Krieges noch mit sich herum. Ein Vater wirft seine Tochter aus dem Fenster. Die Jungs der Straßenbande bewerfen die Mädchen mit Steinen, und die wehren sich. Und wo das der Fall ist, kann es um literarische Verzauberung glücklicherweise nicht gehen. Die Welt, von der erzählt wird, ist dafür zu hart und zu sehr von Gewalt durchdrungen.
Trotzdem merke ich, wie meine Konzentration bald nachlässt. Ich fange an, zwischendurch E-Mails zu checken oder eine SMS an meine Freundin zu schreiben, die schon wieder auf Kreta ist: "Lese jetzt auch Elena Ferrante. Hier alle total aufgeregt. Im ,Spiegel' 10 Seiten Interview mit der anonymen Autorin!" Wir tauschen ein paar Nachrichten aus und spekulieren darüber, warum die Autorin ein Pseudonym gewählt hat und warum gerade männliche Journalisten gerne fragen, ob es sich in Wirklichkeit nicht um einen Mann handeln könnte. In Italien sagen die einen, ein Paar stecke hinter dem Namen Elena Ferrante, die anderen vermuten eine Geschichtsprofessorin aus Neapel. Aber für den Text ist das am Ende egal.
Ich lese weiter, einen Satz wie: "Ein violettes Leuchten spaltete den schwarzen Himmel, es donnerte stärker." Oder: "Hinter uns ragten ein dicht bewaldeter Hügel und ein paar vereinzelte Gebäude direkt an den glänzenden Gleisen auf." Oder: "Mit raschen Schritten gingen wir aufs höchste erregt weiter, zunächst unter heftigen Regenschauern, später unter einem feinen Nieseln und schließlich unter einem grauen Himmel." Ein "leichtes Gewebe makelloser Sätze", stand diese Woche in der "Zeit". Wie kann das sein?
Ich habe längst angefangen, mich zu langweilen, und streiche aus Spaß alle Adjektive mit Leuchtstift an. Es sind sehr viele. Ich bemerke, wie ich das, was ich gelesen habe, bis auf ein paar Szenen sofort wieder vergesse. Es ist wie in einem Film, der sich zu aufwendig und detailversessen an Dekor und Kostüme verschwendet. Es stört nichts, aber es bleibt kaum etwas hängen. Ich lese und werde hinterher dieselbe sein wie vorher. Aber wozu lese ich es dann überhaupt? Sollte ich nicht besser aufhören? Ist ja toll, wenn es so vielen Lesern gefällt. Und bestimmt ist vieles auch interessant an dieser Geschichte, die aus der Distanz betrachtet eine Geschichte über die Selbstbehauptung von Frauen in einer Männerkultur sein mag.
Aber die Sätze schläfern mich ein. Sie sind wirklich perfekt, aber perfekt in ihrer Gleichförmigkeit, denke ich. Und wie meine geniale Freundin klappe ich das Buch zu.
JULIA ENCKE
Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin". Roman. Suhrkamp, 422 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine anonyme Autorin. Eine Buchserie. Und Lob überall. Aber was ist dran an Elena Ferrante und ihrer Geschichte zweier Freundinnen im Neapel von gestern? Über "Meine geniale Freundin"
Vor genau einem Jahr habe ich das erste Mal von Elena Ferrante gehört. Eine Freundin war im Sommer nach Kreta gefahren, hatte sich vorher die englische Übersetzung von "L'amica geniale" besorgt, den ersten Teil einer neapolitanischen Romanserie, von der, wie sie erzählte, in New York wirklich alle begeistert wären und deren Autorin man nicht kenne. Man wisse einfach nicht, wer sie sei. Unglaublich, wie ihr das gelinge, nicht enttarnt zu werden, sagte sie, fing an zu lesen, klappte das Buch am Strand aber irgendwann wieder zu. Sie hätte schwören können, dass, bei allem, was sie darüber gehört hatte, dies genau ihr Buch hätte sein können, wie für sie geschrieben. War es dann aber nicht. Und so vergaß auch ich Elena Ferrante wieder.
Bis jetzt. Denn so viele Lobeshymnen wie allein in dieser Woche über "Meine geniale Freundin", die gerade erschienene deutsche Übersetzung des ersten Bands, habe ich lange nicht über ein und dasselbe Buch gelesen. Jedenfalls nicht in diesem schwärmerischen Tonfall, der mir, möglicherweise beeinflusst durch das Urteil meiner Freundin, ziemlich komisch vorkommt. Genauso komisch wie dieser Vergleich, der da gezogen wurde: Elena Ferrante schreibe wie Marcel Proust oder Charles Dickens. Was ich als Qualitätsmerkmal nicht verstehe.
Wieso sollte es erstrebenswert sein, im einundzwanzigsten Jahrhundert so zu schreiben wie im neunzehnten oder beginnenden zwanzigsten? Wenn der Schriftsteller Christian Kracht in seinem neuesten Roman "Die Toten" so klingt wie Thomas Mann, dann ja immerhin ironisch (und selbst das ist eine Ironie-Show für Eingeweihte, auf die man sich erst mal einlassen wollen muss). Vielleicht stehen die Namen Dickens und Proust hier aber auch bloß für den Effekt einer Verzauberung durch Literatur. Für so etwas wie eine phantastische Zeitreise, dafür, hineinversetzt zu werden in eine andere Welt und eine andere Zeit. Und wenn zumindest ich etwas nicht will beim Lesen, dann verzaubert werden.
Aber widerstehen kann ich nicht. Ich will wissen, wie dieses Buch ist, gerade weil sich so viele darauf einigen können. Irgendwas muss ja dran sein. Und natürlich gibt es diese Möglichkeit, dass meine Vorbehalte sich überhaupt nicht bestätigen, darüber wäre ich sogar sehr froh, weil es auch bedeuten würde, dass ich meine Zeit nicht verschwende. Eigentlich hatte ich fest vor, Thomas Melles "Die Welt im Rücken" zu lesen. Das schiebe ich jetzt auf - zugunsten von Elena Ferrante.
Und es fängt ganz gut an. Eine Frau verschwindet, hinterlässt keinerlei Spuren, nimmt alles mit, schneidet sich sogar aus den Fotos heraus, die in ihrer Wohnung auf sie hätten hinweisen können. Die Frau ist die beste Freundin einer anderen, die hier erzählt, und zwar ganz von vorn: wie sie sich kennengelernt haben, Elena und Lila, zwei Mädchen, die in den fünfziger Jahren in Neapel aufwachsen und gegenseitig erst mal ihre Puppen in ein schwarzes Kellerloch werfen, bevor sie sich einander nähern und anfreunden.
Daran sind schon mal zwei Sachen gut: Mich interessiert ganz grundsätzlich die ja immer komplizierte Beziehung von Freundinnen. Und wie das Kompetitive und Niederträchtige hier von Beginn an mitschwingt, wie die eine rückblickend beschreibt, wie sie der Ausstrahlung der anderen erliegt und sogar bereit ist, ihre Verzweiflung über das, was diese ihr antut, zu verbergen, weil es noch schmerzhafter wäre, mit ihr zu streiten oder sie womöglich zu verlieren: Das ist eindringlich und zieht mich weiter.
Das andere ist: Wo zwei Mädchen im Grundschulalter die Puppe der jeweils anderen in ein schwarzes Kellerloch werfen, geht es nicht zimperlich zu. Von Beginn an spielen Unfälle aller Art eine Rolle. Menschen werden verletzt, gehen mit Messern aufeinander los oder tragen die Zeichen des Krieges noch mit sich herum. Ein Vater wirft seine Tochter aus dem Fenster. Die Jungs der Straßenbande bewerfen die Mädchen mit Steinen, und die wehren sich. Und wo das der Fall ist, kann es um literarische Verzauberung glücklicherweise nicht gehen. Die Welt, von der erzählt wird, ist dafür zu hart und zu sehr von Gewalt durchdrungen.
Trotzdem merke ich, wie meine Konzentration bald nachlässt. Ich fange an, zwischendurch E-Mails zu checken oder eine SMS an meine Freundin zu schreiben, die schon wieder auf Kreta ist: "Lese jetzt auch Elena Ferrante. Hier alle total aufgeregt. Im ,Spiegel' 10 Seiten Interview mit der anonymen Autorin!" Wir tauschen ein paar Nachrichten aus und spekulieren darüber, warum die Autorin ein Pseudonym gewählt hat und warum gerade männliche Journalisten gerne fragen, ob es sich in Wirklichkeit nicht um einen Mann handeln könnte. In Italien sagen die einen, ein Paar stecke hinter dem Namen Elena Ferrante, die anderen vermuten eine Geschichtsprofessorin aus Neapel. Aber für den Text ist das am Ende egal.
Ich lese weiter, einen Satz wie: "Ein violettes Leuchten spaltete den schwarzen Himmel, es donnerte stärker." Oder: "Hinter uns ragten ein dicht bewaldeter Hügel und ein paar vereinzelte Gebäude direkt an den glänzenden Gleisen auf." Oder: "Mit raschen Schritten gingen wir aufs höchste erregt weiter, zunächst unter heftigen Regenschauern, später unter einem feinen Nieseln und schließlich unter einem grauen Himmel." Ein "leichtes Gewebe makelloser Sätze", stand diese Woche in der "Zeit". Wie kann das sein?
Ich habe längst angefangen, mich zu langweilen, und streiche aus Spaß alle Adjektive mit Leuchtstift an. Es sind sehr viele. Ich bemerke, wie ich das, was ich gelesen habe, bis auf ein paar Szenen sofort wieder vergesse. Es ist wie in einem Film, der sich zu aufwendig und detailversessen an Dekor und Kostüme verschwendet. Es stört nichts, aber es bleibt kaum etwas hängen. Ich lese und werde hinterher dieselbe sein wie vorher. Aber wozu lese ich es dann überhaupt? Sollte ich nicht besser aufhören? Ist ja toll, wenn es so vielen Lesern gefällt. Und bestimmt ist vieles auch interessant an dieser Geschichte, die aus der Distanz betrachtet eine Geschichte über die Selbstbehauptung von Frauen in einer Männerkultur sein mag.
Aber die Sätze schläfern mich ein. Sie sind wirklich perfekt, aber perfekt in ihrer Gleichförmigkeit, denke ich. Und wie meine geniale Freundin klappe ich das Buch zu.
JULIA ENCKE
Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin". Roman. Suhrkamp, 422 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für Iris Radisch ist "Meine geniale Freundin", der erste Teil von Elena Ferrantes neapolitanischer Saga schlicht ein "epochales literaturgeschichtliches Ereignis". Wie Ferrante hier anhand von zahlreichen Figuren und über sechs Jahrzehnte hinweg europäische Geschichte als "weibliche Nahgeschichte" erzählt, ringt der Rezensentin höchste Anerkennung ab und lässt sie Vergleiche zu Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek oder Herta Müller ziehen. Insbesondere aber bewundert die Kritikerin, wie die unbekannte, im "Schreib-Schneckenhaus" zurückgezogene Autorin anhand zweier Freundinnen von den Auswegen aus dem Drama eines traditionellen Frauenlebens und der Zerbrechlichkeit weiblicher Selbstentwürfe in einer vom archaischen Geschlechterverhältnis geprägten Umgebung erzählt. Ein Buch, das unter dem geschmeidigen Netz "makelloser Sätze" pulsiert und lange nachhallt, urteilt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2016Der Padrone, die Pasta und der Periodenbau
Wer Elena Ferrante ist, weiß keiner. Wie sie schreibt, zeigt das Original ihres Romans „Meine geniale Freundin“. Was wird daraus im Deutschen und Englischen?
Am 25. Juni 1974 erschien im Turiner Einaudi Verlag ein dicker Roman, „La Storia“ von Elsa Morante. Ein Kriegsepos, an das breite Publikum gerichtet, die Geschichte einer Lehrerin, die zwischen 1941 und 1947 Opfer der Zeitumstände wird. Es geht um die kleinen Leute, die Struktur des Buches ist übersichtlich, die Sprache zugänglich. Der Autorin schwebte eine „Ilias unserer Zeit“ vor, sie hatte dafür gesorgt, dass die knapp siebenhundert eng bedruckten Seiten ausschließlich als erschwingliches Taschenbuch herauskamen. Die Rechnung ging auf. 550 000 Exemplare wurden in den ersten zehn Monaten nach Erscheinen verkauft. Der große Literaturwissenschaftler Carlo Bo eröffnete seine begeisterte Rezension mit den Worten: „Hier haben wir ein Buch, das bleiben und ein bestimmtes Gewicht erlangen wird, vor allem für seine Leser. Es werden viele sein, und es werden nicht die ausgewählten, erfahrenen Leser sein, sondern einfache Leser“.
Zugleich entbrannte eine heftige Debatte. Auf Lobeshymnen folgten ätzende Verrisse, man warf Morante mangelndes historisches Bewusstsein vor und bezeichnete sie als tändelnde Enkelin des Kinderbuchklassikers De Amicis. Während die Avantgarde sich auf Formexperimente kaprizierte, klagte Elsa Morante die Erzählbarkeit der Welt ein. Leser dürfe man zum Lachen bringen oder man müsse ihnen Angst machen, befand Italo Calvino, sie weinen zu lassen, wie Elsa Morante das täte, sei verboten. Ebenso scharf ging Pier Paolo Pasolini mit der ehemaligen Freundin ins Gericht: Auf zwölf Seiten lieferte er in der Tageszeitung Il Tempo eine geschliffene philologische Analyse. Zwar attestierte er einzelnen Figuren eine gewisse poetische Intensität, aber er bemängelte die entwaffnend elementare Sprache des Romans, den Märchenton und die Neigung zum pseudonaturalistischen Nachäffen.
Der Italien-Zyklus der mysteriösen Elena Ferrante, dessen erster Band „Meine geniale Freundin“ gerade mit großem Echo auch in Deutschland erschienen ist, knüpft bei aller Verschiedenheit der Sujets an Elsa Morantes farbenprächtigen Realismus an. Verblüffend ähnlich verlaufen die Argumentationslinien der Rezeption. Auch die anonyme Italienerin richtet sich dezidiert an die große Leserschaft. Und wieder wird die literarische Qualität des Romans bezweifelt. Doch folgt die Schlichtheit ihrer Ausdrucksweise einem Prinzip. Sie lässt sich als ein Versuch deuten, den enormen Abstand zwischen der Literatursprache und der Alltagssprache, der die italienische Tradition von Beginn an kennzeichnet, zu überwinden. Was wird aus diesem Versuch in anderen Sprachen, in der englischen Übersetzung, in der nun vorliegenden deutschen?
Im ersten Band, den Karin Krieger souverän und einfallsreich übersetzt hat, pendelt die Perspektive zwischen den Erinnerungen der alten Frau und der Weltsicht des kleinen Mädchens. Auf lineare Schilderungen folgen dichtere, bildhafte Momente. Das eher Lapidare verliert sich, und wenn das Kind hervortritt, läuft auch Krieger zu Hochform auf: „Wir trauten dem Licht auf den Steinen nicht und auch nicht dem auf den Häusern, auf dem Umland und auf den Menschen draußen und in den Wohnungen. Wir ahnten die dunklen Winkel, die unterdrückten Gefühle, die immer kurz vor dem Ausbruch standen. Und diesen schwarzen Löchern, diesen Abgründen, die sich dahinter unter den Wohnblocks unseres Viertels auftaten, schrieben wir alles zu, was uns am helllichten Tag erschreckte. “
Ferrante verwendet das klassische italienische Erzähltempus, das passato remoto. Das markante Relief der Zeitformen, typisch für die romanischen Sprachen, geht im Deutschen zwangsläufig verloren. Das Changieren zwischen standardsprachlichen Ausdrucksweisen und kolloquialen Redewendungen aber vermittelt Krieger sehr gut. Wenn es zu den Figuren passt, verstärkt sie das Umgangssprachliche („Flitzer“ für vettura, „Luxusschlitten“ für macchina da gran signori). Nur wenn in zwei Schulszenen problemi als „Probleme“ übersetzt werden, obwohl es der Fachterminus für „Rechenaufgaben“ ist, sollte man das bei einer Neuauflage tilgen.
Vor allem die glänzend eingesetzte wörtliche Rede verleiht den knappen Kapiteln des Romans Spannkraft, was Krieger perfekt nachbildet. Vielleicht, um die Eigenart des Schauplatzes zu vermitteln, sind auch im Deutschen etliche italienische Wörter stehen geblieben. Oft kann man das nachvollziehen, wie „Rione“ für das nahezu mythische Stadtviertel oder „Salumeria“ für das Geschäft mit Wurstwaren. Doch kann die schlichte Fülle des Italienischen leicht ins Folkloristische umschlagen, wenn die Hauptstraße des Viertels immer nur Stradone heißt, der Chef ein Padrone ist, man in die Pasticceria geht und ständig die Madonna angerufen wird. Unfreiwillige Komik entfaltet die Szene, in der die Heldin Lenù und ihr Freund in der Bar „eine Pasta“ kaufen. Dem deutschen Leser dürfte da ein Teller Nudeln vor Augen stehen, gemeint ist aber ein Stück Gebäck. Aber die Deutschen lieben nun einmal italienische Authentizitätssignale.
Dass Elena Ferrante längst ein internationales Medienphänomen ist, geht vor allem auf ihren Erfolg in den USA zurück. Der Effekt der englischen Übersetzung, von der hochverdienten Anne Goldstein bewerkstelligt, ist in der Tat verblüffend. Sie wirkt griffiger, schneller, knapper als die deutsche und das Original. „Sie hatte sich in der Küche neben ihn gesetzt, wenn er Hausaufgaben machte und hatte mehr gelernt, als zu lernen ihm vergönnt gewesen war“ übersetzt Karin Krieger etwas betulich, was bei Ferrante so klingt: „Gli si metteva seduta accanto in cucina mentre faceva i compiti, e apprendeva più di quanto riuscisse ad apprendere lui.”
Anne Goldsteins Syntax ist näher an Ferrante, zugleich entschlackt sie den Satz: „She would sit next to him in the kitchen while he was doing his homework, and she learned more than he did.“ Manchmal verkürzt sie Perioden sogar. Das Ergebnis ist eine stärkere Unmittelbarkeit. „,Perché hai pagato tu’ quasi gli gridai in dialetto, arrabbiata. ,Perché io e te siamo più belli e più signori,’ lui rispose“, so schildert Ferrante einen Streit zwischen Lenù und ihrem Freund. Daraus wird im Deutschen: „,Warum hast du die Rechnung bezahlt’, herrschte ich ihn wütend im Dialekt an. ,Damit du und ich besser aussehen und edler sind’.“ Goldsteins Lösung ist präziser und schmissiger: „,Why did you pay?’ I almost yelled at him, in dialect, angrily. ,Because you and I are better-looking and more refined’, he answered.”
In welcher Sprache man den Zyklus auch liest, bestechend an Ferrante ist die Dramaturgie ihres weit ausschweifenden Erzählens, ihr rasanter Rhythmus, das Personal mit seinen ambivalenten Heldinnen und den scharf gezeichneten Nebenfiguren, das sie über 1 700 Seiten durch die italienische Zeitgeschichte dirigiert. Immer wieder explodiert die Gewalt, immer wieder werden die Bedingungen der Illegalität erzählerisch entfaltet. Der Band „Meine geniale Freundin“ ist aber vor allem ein großes Frauenbuch – es geht um Begehren, Ekel, Sehnsucht, Kränkungen und Rivalitäten in seinen privatesten Facetten. Wie kann ein weiblicher Lebensentwurf in einer patriarchalen Gesellschaft aussehen?
Die questione della lingua, die Frage nach der Sprache, wird oft von männlichen Lesern aufgeworfen wird, so von Calvino und Pasolini im Blick auf Elsa Morante. Die Frage ist in Italien so alt wie die Literatur selbst. Oft wird, wenn sich ein Autor zu sehr dem gesprochenen Idiom annähert, Verrat an der literarischen Tradition gewittert. Ja, Elena Ferrante ist sinnlich, gelegentlich wohl auch zu eindimensional, aber dafür betörend süffig. James Salters hochgestimmtes Pathos, zu dem er bei militärischen Angriffen oder Sex aufläuft, wird gern gefeiert, auch Philip Roth verzeiht man das ewige Kreisen um das männliche Genital. Bei Frauen darf das Interesse an sich selbst offenkundig nicht so offenkundig sein. Dabei gelingt Elena Ferrante vor allem eben dies: Ein weiblicher Blick auf die Welt.
MAIKE ALBATH
Ferrante schreibt volkstümlich,
verwendet aber das klassische
italienische Erzähltempus
Der Effekt der englischen
Übersetzung ist verblüffend, sie ist
knapper, griffiger als das Original
Eines gelingt Elena Ferrante, wer
auch immer sie sei, ohne Zweifel:
ein weiblicher Blick auf die Welt
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 425 S., 22 Euro. E-Book 18,99 Euro. In der Mitte eine amerikanische Ausgabe, rechts das italienische Original.
FotoS: Suhrkamp, oh
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wer Elena Ferrante ist, weiß keiner. Wie sie schreibt, zeigt das Original ihres Romans „Meine geniale Freundin“. Was wird daraus im Deutschen und Englischen?
Am 25. Juni 1974 erschien im Turiner Einaudi Verlag ein dicker Roman, „La Storia“ von Elsa Morante. Ein Kriegsepos, an das breite Publikum gerichtet, die Geschichte einer Lehrerin, die zwischen 1941 und 1947 Opfer der Zeitumstände wird. Es geht um die kleinen Leute, die Struktur des Buches ist übersichtlich, die Sprache zugänglich. Der Autorin schwebte eine „Ilias unserer Zeit“ vor, sie hatte dafür gesorgt, dass die knapp siebenhundert eng bedruckten Seiten ausschließlich als erschwingliches Taschenbuch herauskamen. Die Rechnung ging auf. 550 000 Exemplare wurden in den ersten zehn Monaten nach Erscheinen verkauft. Der große Literaturwissenschaftler Carlo Bo eröffnete seine begeisterte Rezension mit den Worten: „Hier haben wir ein Buch, das bleiben und ein bestimmtes Gewicht erlangen wird, vor allem für seine Leser. Es werden viele sein, und es werden nicht die ausgewählten, erfahrenen Leser sein, sondern einfache Leser“.
Zugleich entbrannte eine heftige Debatte. Auf Lobeshymnen folgten ätzende Verrisse, man warf Morante mangelndes historisches Bewusstsein vor und bezeichnete sie als tändelnde Enkelin des Kinderbuchklassikers De Amicis. Während die Avantgarde sich auf Formexperimente kaprizierte, klagte Elsa Morante die Erzählbarkeit der Welt ein. Leser dürfe man zum Lachen bringen oder man müsse ihnen Angst machen, befand Italo Calvino, sie weinen zu lassen, wie Elsa Morante das täte, sei verboten. Ebenso scharf ging Pier Paolo Pasolini mit der ehemaligen Freundin ins Gericht: Auf zwölf Seiten lieferte er in der Tageszeitung Il Tempo eine geschliffene philologische Analyse. Zwar attestierte er einzelnen Figuren eine gewisse poetische Intensität, aber er bemängelte die entwaffnend elementare Sprache des Romans, den Märchenton und die Neigung zum pseudonaturalistischen Nachäffen.
Der Italien-Zyklus der mysteriösen Elena Ferrante, dessen erster Band „Meine geniale Freundin“ gerade mit großem Echo auch in Deutschland erschienen ist, knüpft bei aller Verschiedenheit der Sujets an Elsa Morantes farbenprächtigen Realismus an. Verblüffend ähnlich verlaufen die Argumentationslinien der Rezeption. Auch die anonyme Italienerin richtet sich dezidiert an die große Leserschaft. Und wieder wird die literarische Qualität des Romans bezweifelt. Doch folgt die Schlichtheit ihrer Ausdrucksweise einem Prinzip. Sie lässt sich als ein Versuch deuten, den enormen Abstand zwischen der Literatursprache und der Alltagssprache, der die italienische Tradition von Beginn an kennzeichnet, zu überwinden. Was wird aus diesem Versuch in anderen Sprachen, in der englischen Übersetzung, in der nun vorliegenden deutschen?
Im ersten Band, den Karin Krieger souverän und einfallsreich übersetzt hat, pendelt die Perspektive zwischen den Erinnerungen der alten Frau und der Weltsicht des kleinen Mädchens. Auf lineare Schilderungen folgen dichtere, bildhafte Momente. Das eher Lapidare verliert sich, und wenn das Kind hervortritt, läuft auch Krieger zu Hochform auf: „Wir trauten dem Licht auf den Steinen nicht und auch nicht dem auf den Häusern, auf dem Umland und auf den Menschen draußen und in den Wohnungen. Wir ahnten die dunklen Winkel, die unterdrückten Gefühle, die immer kurz vor dem Ausbruch standen. Und diesen schwarzen Löchern, diesen Abgründen, die sich dahinter unter den Wohnblocks unseres Viertels auftaten, schrieben wir alles zu, was uns am helllichten Tag erschreckte. “
Ferrante verwendet das klassische italienische Erzähltempus, das passato remoto. Das markante Relief der Zeitformen, typisch für die romanischen Sprachen, geht im Deutschen zwangsläufig verloren. Das Changieren zwischen standardsprachlichen Ausdrucksweisen und kolloquialen Redewendungen aber vermittelt Krieger sehr gut. Wenn es zu den Figuren passt, verstärkt sie das Umgangssprachliche („Flitzer“ für vettura, „Luxusschlitten“ für macchina da gran signori). Nur wenn in zwei Schulszenen problemi als „Probleme“ übersetzt werden, obwohl es der Fachterminus für „Rechenaufgaben“ ist, sollte man das bei einer Neuauflage tilgen.
Vor allem die glänzend eingesetzte wörtliche Rede verleiht den knappen Kapiteln des Romans Spannkraft, was Krieger perfekt nachbildet. Vielleicht, um die Eigenart des Schauplatzes zu vermitteln, sind auch im Deutschen etliche italienische Wörter stehen geblieben. Oft kann man das nachvollziehen, wie „Rione“ für das nahezu mythische Stadtviertel oder „Salumeria“ für das Geschäft mit Wurstwaren. Doch kann die schlichte Fülle des Italienischen leicht ins Folkloristische umschlagen, wenn die Hauptstraße des Viertels immer nur Stradone heißt, der Chef ein Padrone ist, man in die Pasticceria geht und ständig die Madonna angerufen wird. Unfreiwillige Komik entfaltet die Szene, in der die Heldin Lenù und ihr Freund in der Bar „eine Pasta“ kaufen. Dem deutschen Leser dürfte da ein Teller Nudeln vor Augen stehen, gemeint ist aber ein Stück Gebäck. Aber die Deutschen lieben nun einmal italienische Authentizitätssignale.
Dass Elena Ferrante längst ein internationales Medienphänomen ist, geht vor allem auf ihren Erfolg in den USA zurück. Der Effekt der englischen Übersetzung, von der hochverdienten Anne Goldstein bewerkstelligt, ist in der Tat verblüffend. Sie wirkt griffiger, schneller, knapper als die deutsche und das Original. „Sie hatte sich in der Küche neben ihn gesetzt, wenn er Hausaufgaben machte und hatte mehr gelernt, als zu lernen ihm vergönnt gewesen war“ übersetzt Karin Krieger etwas betulich, was bei Ferrante so klingt: „Gli si metteva seduta accanto in cucina mentre faceva i compiti, e apprendeva più di quanto riuscisse ad apprendere lui.”
Anne Goldsteins Syntax ist näher an Ferrante, zugleich entschlackt sie den Satz: „She would sit next to him in the kitchen while he was doing his homework, and she learned more than he did.“ Manchmal verkürzt sie Perioden sogar. Das Ergebnis ist eine stärkere Unmittelbarkeit. „,Perché hai pagato tu’ quasi gli gridai in dialetto, arrabbiata. ,Perché io e te siamo più belli e più signori,’ lui rispose“, so schildert Ferrante einen Streit zwischen Lenù und ihrem Freund. Daraus wird im Deutschen: „,Warum hast du die Rechnung bezahlt’, herrschte ich ihn wütend im Dialekt an. ,Damit du und ich besser aussehen und edler sind’.“ Goldsteins Lösung ist präziser und schmissiger: „,Why did you pay?’ I almost yelled at him, in dialect, angrily. ,Because you and I are better-looking and more refined’, he answered.”
In welcher Sprache man den Zyklus auch liest, bestechend an Ferrante ist die Dramaturgie ihres weit ausschweifenden Erzählens, ihr rasanter Rhythmus, das Personal mit seinen ambivalenten Heldinnen und den scharf gezeichneten Nebenfiguren, das sie über 1 700 Seiten durch die italienische Zeitgeschichte dirigiert. Immer wieder explodiert die Gewalt, immer wieder werden die Bedingungen der Illegalität erzählerisch entfaltet. Der Band „Meine geniale Freundin“ ist aber vor allem ein großes Frauenbuch – es geht um Begehren, Ekel, Sehnsucht, Kränkungen und Rivalitäten in seinen privatesten Facetten. Wie kann ein weiblicher Lebensentwurf in einer patriarchalen Gesellschaft aussehen?
Die questione della lingua, die Frage nach der Sprache, wird oft von männlichen Lesern aufgeworfen wird, so von Calvino und Pasolini im Blick auf Elsa Morante. Die Frage ist in Italien so alt wie die Literatur selbst. Oft wird, wenn sich ein Autor zu sehr dem gesprochenen Idiom annähert, Verrat an der literarischen Tradition gewittert. Ja, Elena Ferrante ist sinnlich, gelegentlich wohl auch zu eindimensional, aber dafür betörend süffig. James Salters hochgestimmtes Pathos, zu dem er bei militärischen Angriffen oder Sex aufläuft, wird gern gefeiert, auch Philip Roth verzeiht man das ewige Kreisen um das männliche Genital. Bei Frauen darf das Interesse an sich selbst offenkundig nicht so offenkundig sein. Dabei gelingt Elena Ferrante vor allem eben dies: Ein weiblicher Blick auf die Welt.
MAIKE ALBATH
Ferrante schreibt volkstümlich,
verwendet aber das klassische
italienische Erzähltempus
Der Effekt der englischen
Übersetzung ist verblüffend, sie ist
knapper, griffiger als das Original
Eines gelingt Elena Ferrante, wer
auch immer sie sei, ohne Zweifel:
ein weiblicher Blick auf die Welt
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 425 S., 22 Euro. E-Book 18,99 Euro. In der Mitte eine amerikanische Ausgabe, rechts das italienische Original.
FotoS: Suhrkamp, oh
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»In welcher Sprache man den Zyklus auch liest, bestechend an Ferrante ist die Dramaturgie ihres weit ausschweifenden Erzählens, ihr rasanter Rhythmus, das Personal mit seinen ambivalenten Heldinnen und den scharf gezeichneten Nebenfiguren, das sie über 1700 Seiten durch die italienische Zeitgeschichte dirigiert.« Maike Albath Süddeutsche Zeitung 20160909