Eine Seewirtschaft in Bayern, bizarre Gäste und eine Familie über drei Generationen, heillos verstrickt ins ungeliebte Erbe. Josef Bierbichler, der große Menschendarsteller des deutschen Theaters und Films, erzählt hundert Jahre Deutschland. Ein Epos über Krieg und Zerstörung, alte Macht und neuen Wohlstand, über Veränderungen, in denen sich vertraute Landschaften in fremde verwandeln und auch die Familie kein geschützter Ort mehr ist. Ein Roman, der sich mit Naturgewalt Bahn bricht - vital, sprachmächtig und tief verwurzelt in der deutschen Seele.
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buecher-magazin.deAlles wirkt gewaltig in diesem Heimat-Panorama von Josef Bierbichler. Über acht Jahrzehnte begleitet der Erzähler das Schicksal einer Familie auf dem bayerischen Land rund um einen See, ein Dorf und ein Wirtshaus. Ein Drei-Generationen-Roman, der Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt. Er erzählt meisterlich von drückende Lasten, die zwanghafte Traditionen und einen unerbittlichen Katholizismus ausüben. Er beschreibt die seelischen Verwüstungen, die die Weltkriege in den Menschen verursachen. Wie die Nachkriegszeit und die unruhigen 60er-Jahre die Brüche offenlegen und selbst die Rest-Idyllen ländlichen Daseins noch zerstören. Auch die von Bierbichler gesprochene Hörfassung strotzt vor Kraft, Stimmkraft. Mehr leider nicht. Über alles, was sein Text bietet, die Farben, Dramen, Temperamente und Facetten gebeugten menschlichen Daseins, liest er mit derselben Stimmlage, demselben Tempo und Ausdruck hinweg. Häufig spürt man, wie ihm seine eigenen Schachtelsätze zur (sprecherischen) Qual werden. Bierbichler ist ein phänomenaler Schauspieler, Autor und eine spannende Persönlichkeit. Als Sprecher aber, der seine Zuhörer verführt und mitreißt, ist er nur anstrengend.
© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
»Das ist, in kraftvoll realistischer, manchmal auch kleistisch kataraktgleicher Prosa geschrieben, ein Märchen: wie es im Leben manchmal passiert. Doch der große Theater- und Filmschauspieler Josef (Sepp) Bierbichler ... erzählt auch von der Fülle des Scheiterns. Von heillos komischen Katastrophen, von fürchtertlicher deutscher Weltgeschichte, die selbst die Dörfler am oberbayrischen See in ihren erdbraunen, blutigen Fängen hält.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2013Die Katastrophe Wohlstand
Ein deutscher Heimatroman. Aber einer ohne alles Herzerwärmende, ohne Romantik, ohne Hoffnung. Dafür mit einem erschütternd klaren Blick dafür, was der Mensch einfach mal so tut, wenn er seinen Besitz in Gefahr sieht, wenn er in seinem Innersten so verunsichert ist, dass jede Veränderung der Welt einen Affront bedeutet oder wenn er glaubt, sein Land rufe ihn.
Das alles trifft den Leser unvorbereitet, während er noch glaubt, er lese die Chronik einer Wirtsfamilie vom Starnberger See. Dabei wäre das schon faszinierend genug. „Mittelreich“ spiegelt das gesamte großartige, verheerende, befreiende und traurige 20. Jahrhundert in dieser einen Familie und in diesem einen bayerischen Dorf. Es berichtet von den Katastrophen, die eintreten, wenn der Wohlstand kommt.
Da sind die Bauern, die merken, dass es lukrativer ist, die ersten Sommerfrischler aus dem fernen München zu beherbergen als weiterhin Kühe zu melken. Und da sind die anderen, die darin nichts als Verrat und den Untergang aller Werte sehen. Da sind Söhne, die in den Krieg ziehen und andere, die das verhasste Familienerbe antreten müssen, weil ihr Bruder auf dem Schlachtfeld bleibt. Zwangsarbeiter tauchen auf den Höfen auf – und verschwinden wieder. Die Bauern werden zu Nazis – und sind dann ganz schnell keine mehr, oder zumindest nur noch im Kreis der Familie. Knechte arbeiten noch als Knecht, während die Welt außerhalb dieser Dörflichkeit das nur noch aus alten Geschichten kennt.
Und dann die Pointe: Auch der Fortschritt macht nicht alles gut. Der letzte Sohn der Familie, verweichlicht vom Aufwachsen in der Wohlstandsgesellschaft und infiziert vom Individualismus, bringt das Familienerbe in Gefahr und damit alles, wofür sich Generationen vor ihm geschunden, gehasst und gequält haben.
Man fragt sich: Stimmt das denn alles? Schließlich ist der Schauspieler und Autor Josef Bierbichler in einem Wirtshaus am Starnberger See aufgewachsen und lebt dort bis heute. Ob es stimmt oder nicht – jedes Wort ist wahr.
MALTE CONRADI
Josef Bierbichler:
Mittelreich.
Suhrkamp Verlag 2013.
392 Seiten, 9,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein deutscher Heimatroman. Aber einer ohne alles Herzerwärmende, ohne Romantik, ohne Hoffnung. Dafür mit einem erschütternd klaren Blick dafür, was der Mensch einfach mal so tut, wenn er seinen Besitz in Gefahr sieht, wenn er in seinem Innersten so verunsichert ist, dass jede Veränderung der Welt einen Affront bedeutet oder wenn er glaubt, sein Land rufe ihn.
Das alles trifft den Leser unvorbereitet, während er noch glaubt, er lese die Chronik einer Wirtsfamilie vom Starnberger See. Dabei wäre das schon faszinierend genug. „Mittelreich“ spiegelt das gesamte großartige, verheerende, befreiende und traurige 20. Jahrhundert in dieser einen Familie und in diesem einen bayerischen Dorf. Es berichtet von den Katastrophen, die eintreten, wenn der Wohlstand kommt.
Da sind die Bauern, die merken, dass es lukrativer ist, die ersten Sommerfrischler aus dem fernen München zu beherbergen als weiterhin Kühe zu melken. Und da sind die anderen, die darin nichts als Verrat und den Untergang aller Werte sehen. Da sind Söhne, die in den Krieg ziehen und andere, die das verhasste Familienerbe antreten müssen, weil ihr Bruder auf dem Schlachtfeld bleibt. Zwangsarbeiter tauchen auf den Höfen auf – und verschwinden wieder. Die Bauern werden zu Nazis – und sind dann ganz schnell keine mehr, oder zumindest nur noch im Kreis der Familie. Knechte arbeiten noch als Knecht, während die Welt außerhalb dieser Dörflichkeit das nur noch aus alten Geschichten kennt.
Und dann die Pointe: Auch der Fortschritt macht nicht alles gut. Der letzte Sohn der Familie, verweichlicht vom Aufwachsen in der Wohlstandsgesellschaft und infiziert vom Individualismus, bringt das Familienerbe in Gefahr und damit alles, wofür sich Generationen vor ihm geschunden, gehasst und gequält haben.
Man fragt sich: Stimmt das denn alles? Schließlich ist der Schauspieler und Autor Josef Bierbichler in einem Wirtshaus am Starnberger See aufgewachsen und lebt dort bis heute. Ob es stimmt oder nicht – jedes Wort ist wahr.
MALTE CONRADI
Josef Bierbichler:
Mittelreich.
Suhrkamp Verlag 2013.
392 Seiten, 9,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2011Der Seewirt, der alte Sepp und die Deppen
Sanfter ist er nicht geworden, aber doch reif für Suhrkamp: Josef Bierbichler wütet in seinem ersten Roman wie die Axt im Walde gegen Gschaftlhuberei und Nationalsozialismus.
Sepp Bierbichler, der feinfühlige Holzhacker des deutschen Theaters, hat schon manchen groben Klotz gespalten. Regisseure sind Deppen, Schauspieler Idioten, Kritiker sowieso Watschenmänner, und das Publikum ist auch "relativ wurscht". "Das Spiel mit der Sprache und den Figuren, die ich bin", sagt Semi, sein Alter Ego, nachdem er in der Theater-AG des Internats seine Aggressionen dämpfen gelernt hat, "schützt mich davor, zu morden." Dafür zerstückelt er dann aber auf dem Papier Turnvater Ezechiel, der Semis Heimweh am Barren sexuell missbrauchte. Bierbichler ergeht es mit seiner literarischen und theatralischen Wut indes wie mit seinem Wirtshaus am Starnberger See: Je mehr er den Münchner Cabriofahrern und Kulturtouristen den Laberkäs seines Hasses um die Ohren haut, desto zahlreicher und ehrfürchtiger nähern sie sich dem grantelnden Wirt. "Für Talente vom Land gibt es im Kulturbetrieb immer eine erhöhte Aufmerksamkeit", ermunterte schon Kammersängerin Krauss Semis künstlerisch begabten Vater, aber das war dem Seewirt relativ wurscht: "Kunst mich dann vielleicht am Arsch lecken?" Kunst braucht die Natur, nicht umgekehrt.
Das Theater, verkündete Bierbichler einst in seinem Prosadebüt, ist der Abtritt, wo "ich meine kleinbäuerlichen Komplexe als Realität verkaufe" und dafür gefeiert werde. "Verfluchtes Fleisch" war eine Odelgrube voller Jugenderinnerungen, Theaterklatsch und Frauengeschichten, halb Tagebuch autobiographischer Metamorphosen (einmal verwandelte sich Bierbichlers Kaspar in einen Obstbaum), halb Pamphlet. Jetzt hat das baumstarke Naturgenie seinen ersten Roman geschrieben. Der Kleinbauer ist nicht sanfter geworden, aber doch als mürrischer "Bauernbruegel" reif für Suhrkamp.
Der "Fischmeister" der Bierbichlers mauserte sich in den letzten hundert Jahren vom kleinen Saisonlokal zum Platzhirsch der Ausflugswirtschaft; aus armen Bauern wurden neu- oder doch "mittelreiche" Bürger. Der junge Seewirt erzählt diese Geschichte über drei Generationen hinweg, in Dorfschwänken und Tragödien, Kindheitserinnerungen und Wutanfällen. Am Anfang lässt sich Pankraz, der Schmoller und Möchtegernkünstler, gegen seinen Willen ins Wirtsjoch spannen, nachdem sein Bruder mit einer Kugel im Kopf aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt ist; am Ende besiegelt Semi den Untergang der Dynastie: "Fürs Vergangene reicht Erfinden. Echt ist nur jetzt." Bierbichlers Familiensaga zerbröselt zwar immer wieder in Anekdoten (etwa über den sodomitischen "Nachkriegsumgang der deutschen Bauern mit ihren Kühen"), folkloristische Lüftlmalerei und wüste Tiraden, aber die semibäuerliche Kunstsprache - eine eigenwillige Kreuzung aus Ganghofer und Gerhard Polt, Kraftwörtern, verschwurbeltem Starkdeutsch und klassischen Monologen - hält alles zusammen. Semi erzählt mal in der ersten, mal in der dritten Person, manchmal grimmig und zotig, dann wieder zärtlich und urkomisch, aber immer als verlorener Sohn und gefallener Engel.
Dass seine Eltern ihn ins Klosterinternat abschoben und aus "antibäuerlichem Dünkel" durch die Hölle gehen ließen, verzeiht er ihnen so wenig wie ihr bigottes Gefrömmel und ihre politische Borniertheit. Selbst wenn Semi sich nackt und ödipal ins Totenbett der Mutter legt, bleibt er unversöhnt in seinem Selbstmitleid, und auch seinem Vater vergibt und vergisst er nichts. Pankraz war ein Grübler und Patriarch wider Willen, der Vieh, Gesinde, Frau und Kinder auf seine Weise liebte, aber eben auch ein sentimentaler Schwächling und unverbesserlicher Nazi. Wenn die Huberfranzen und Franzenhuber sich am Stammtisch ihrer Kriegsverbrechen rühmen und ihren Antisemitismus ausschwitzen, griff er nicht ein, und als Frau Meinrad beim Fasnachtsball unter der Hitlermaske schamlos ihr verfluchtes Fleisch herzeigte, sang er draußen Wagner-Arien gegen den Sturm und seine Lüsternheit, statt der Frau im Saal in den Arm zu fallen.
Die Walpurgisnacht im Februar 1954 wird zum Wendepunkt im Mittelreich. Der Seewirt, der sich im Wüten der Elemente als feige und überfordert erwies, muss seine Macht fortan mit den Frauen im Haus teilen. Das Matriarchat zehrt seinen Stolz auf, Arbeit und Geld erledigen seine Träume von einem anderen, freieren Leben, und so wird der Herrgottswinkel sein Austragsstüberl. Nur beim Hadern erinnert sich Pankraz noch an die Blankverse von Hölderlin und Shakespeare: "Verfluchtes Erbe, schreit er, verfluchter Zwang. Ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt. Ich hasse dieses Haus und diesen Heimatkram. Ich will heraus, heraus aus allem, was ich muss. Ich will nur noch das machen, was ich kann."
Pankraz ist Gewinner und Verlierer, Herr und Knecht des Wirtschaftswunders. Unter Adenauer, dem "neuen Führer", lösen sich nämlich auch an Bierbichlers Würmsee alte Traditionen und Glaubensgewissheiten auf. Die Dumpfheit und inzestuöse Selbstgenügsamkeit der Bierdimpfel und bäuerlichen Dickschädel macht unter dem Einfluss der Ausflügler und Zuzügler Hochmut, Unzufriedenheit und "einer Art von Kultur" Platz. Erst kommen die Zwangsarbeiter und Flüchtlinge, dann Gastarbeiter, "Stadterer", prominente Hausgäste wie der bayrische Kronprinz und berühmte Künstler, schließlich Preußen, Hippies und Kommunisten; am Ende sind die Liegewiese am See und überhaupt das ländlich-schändliche Idyll zerstört. Die Kultur hält mit Musiktruhe, Fernseher und verchromten Zapfhähnen Einzug, Mähmaschinen und Traktoren machen den alten Sepp und Bründl, den treuen, alten Gaul, überflüssig. Die alte Mare, Semis geliebte Kindermagd, wird samt Hund gnädig in den Himmel entrückt, Viktor, das schlesische Faktotum, steigt zum Hausmeier und Hofphilosophen auf. Das hermaphroditische Fräulein von Zwittau kommt über ihre Vergewaltigung durch die Russen nicht hinweg und geht still ins Wasser. Der Dreck der Hitlerei aber wird unter den Teppich der Restauration gekehrt, wo er weiter fröhlich vor sich hin gärt und schwärt.
"Mittelreich" ist reich an derben Szenen und surrealen Visionen; es gibt hinreißende Bilder aus dem Leben der Eierwastlbauern, Kirchweihnudeln und betrunkenen Hausmetzger und zahlreiche künstlerisch wertvolle, politisch korrekte Hasstiraden gegen alte und neue Nationalsozialisten, Gschaftlhuber und "dickmausige Flachbrunzer". Aber der Kunstbauer Bierbichler traut der schmatzenden Sinnlichkeit selbst nicht so recht, und so würzt er seinen autobiographischen Zeit- und Familienroman immer wieder mit "gebildeten Überflüssigkeiten" und handgeschnitzten soziologischen Erklärungen nach. Bierbichler will Abtritt, Scheißer und analytisches Klopapier zugleich sein, den Saustall Heimat mit Axt, Mistgabel und notfalls auch Adorno ausmisten, und an dieser Herkulesaufgabe kann sich sogar ein holzhackender Berserker verheben.
MARTIN HALTER
Josef Bierbichler: "Mittelreich". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 392 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sanfter ist er nicht geworden, aber doch reif für Suhrkamp: Josef Bierbichler wütet in seinem ersten Roman wie die Axt im Walde gegen Gschaftlhuberei und Nationalsozialismus.
Sepp Bierbichler, der feinfühlige Holzhacker des deutschen Theaters, hat schon manchen groben Klotz gespalten. Regisseure sind Deppen, Schauspieler Idioten, Kritiker sowieso Watschenmänner, und das Publikum ist auch "relativ wurscht". "Das Spiel mit der Sprache und den Figuren, die ich bin", sagt Semi, sein Alter Ego, nachdem er in der Theater-AG des Internats seine Aggressionen dämpfen gelernt hat, "schützt mich davor, zu morden." Dafür zerstückelt er dann aber auf dem Papier Turnvater Ezechiel, der Semis Heimweh am Barren sexuell missbrauchte. Bierbichler ergeht es mit seiner literarischen und theatralischen Wut indes wie mit seinem Wirtshaus am Starnberger See: Je mehr er den Münchner Cabriofahrern und Kulturtouristen den Laberkäs seines Hasses um die Ohren haut, desto zahlreicher und ehrfürchtiger nähern sie sich dem grantelnden Wirt. "Für Talente vom Land gibt es im Kulturbetrieb immer eine erhöhte Aufmerksamkeit", ermunterte schon Kammersängerin Krauss Semis künstlerisch begabten Vater, aber das war dem Seewirt relativ wurscht: "Kunst mich dann vielleicht am Arsch lecken?" Kunst braucht die Natur, nicht umgekehrt.
Das Theater, verkündete Bierbichler einst in seinem Prosadebüt, ist der Abtritt, wo "ich meine kleinbäuerlichen Komplexe als Realität verkaufe" und dafür gefeiert werde. "Verfluchtes Fleisch" war eine Odelgrube voller Jugenderinnerungen, Theaterklatsch und Frauengeschichten, halb Tagebuch autobiographischer Metamorphosen (einmal verwandelte sich Bierbichlers Kaspar in einen Obstbaum), halb Pamphlet. Jetzt hat das baumstarke Naturgenie seinen ersten Roman geschrieben. Der Kleinbauer ist nicht sanfter geworden, aber doch als mürrischer "Bauernbruegel" reif für Suhrkamp.
Der "Fischmeister" der Bierbichlers mauserte sich in den letzten hundert Jahren vom kleinen Saisonlokal zum Platzhirsch der Ausflugswirtschaft; aus armen Bauern wurden neu- oder doch "mittelreiche" Bürger. Der junge Seewirt erzählt diese Geschichte über drei Generationen hinweg, in Dorfschwänken und Tragödien, Kindheitserinnerungen und Wutanfällen. Am Anfang lässt sich Pankraz, der Schmoller und Möchtegernkünstler, gegen seinen Willen ins Wirtsjoch spannen, nachdem sein Bruder mit einer Kugel im Kopf aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt ist; am Ende besiegelt Semi den Untergang der Dynastie: "Fürs Vergangene reicht Erfinden. Echt ist nur jetzt." Bierbichlers Familiensaga zerbröselt zwar immer wieder in Anekdoten (etwa über den sodomitischen "Nachkriegsumgang der deutschen Bauern mit ihren Kühen"), folkloristische Lüftlmalerei und wüste Tiraden, aber die semibäuerliche Kunstsprache - eine eigenwillige Kreuzung aus Ganghofer und Gerhard Polt, Kraftwörtern, verschwurbeltem Starkdeutsch und klassischen Monologen - hält alles zusammen. Semi erzählt mal in der ersten, mal in der dritten Person, manchmal grimmig und zotig, dann wieder zärtlich und urkomisch, aber immer als verlorener Sohn und gefallener Engel.
Dass seine Eltern ihn ins Klosterinternat abschoben und aus "antibäuerlichem Dünkel" durch die Hölle gehen ließen, verzeiht er ihnen so wenig wie ihr bigottes Gefrömmel und ihre politische Borniertheit. Selbst wenn Semi sich nackt und ödipal ins Totenbett der Mutter legt, bleibt er unversöhnt in seinem Selbstmitleid, und auch seinem Vater vergibt und vergisst er nichts. Pankraz war ein Grübler und Patriarch wider Willen, der Vieh, Gesinde, Frau und Kinder auf seine Weise liebte, aber eben auch ein sentimentaler Schwächling und unverbesserlicher Nazi. Wenn die Huberfranzen und Franzenhuber sich am Stammtisch ihrer Kriegsverbrechen rühmen und ihren Antisemitismus ausschwitzen, griff er nicht ein, und als Frau Meinrad beim Fasnachtsball unter der Hitlermaske schamlos ihr verfluchtes Fleisch herzeigte, sang er draußen Wagner-Arien gegen den Sturm und seine Lüsternheit, statt der Frau im Saal in den Arm zu fallen.
Die Walpurgisnacht im Februar 1954 wird zum Wendepunkt im Mittelreich. Der Seewirt, der sich im Wüten der Elemente als feige und überfordert erwies, muss seine Macht fortan mit den Frauen im Haus teilen. Das Matriarchat zehrt seinen Stolz auf, Arbeit und Geld erledigen seine Träume von einem anderen, freieren Leben, und so wird der Herrgottswinkel sein Austragsstüberl. Nur beim Hadern erinnert sich Pankraz noch an die Blankverse von Hölderlin und Shakespeare: "Verfluchtes Erbe, schreit er, verfluchter Zwang. Ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt. Ich hasse dieses Haus und diesen Heimatkram. Ich will heraus, heraus aus allem, was ich muss. Ich will nur noch das machen, was ich kann."
Pankraz ist Gewinner und Verlierer, Herr und Knecht des Wirtschaftswunders. Unter Adenauer, dem "neuen Führer", lösen sich nämlich auch an Bierbichlers Würmsee alte Traditionen und Glaubensgewissheiten auf. Die Dumpfheit und inzestuöse Selbstgenügsamkeit der Bierdimpfel und bäuerlichen Dickschädel macht unter dem Einfluss der Ausflügler und Zuzügler Hochmut, Unzufriedenheit und "einer Art von Kultur" Platz. Erst kommen die Zwangsarbeiter und Flüchtlinge, dann Gastarbeiter, "Stadterer", prominente Hausgäste wie der bayrische Kronprinz und berühmte Künstler, schließlich Preußen, Hippies und Kommunisten; am Ende sind die Liegewiese am See und überhaupt das ländlich-schändliche Idyll zerstört. Die Kultur hält mit Musiktruhe, Fernseher und verchromten Zapfhähnen Einzug, Mähmaschinen und Traktoren machen den alten Sepp und Bründl, den treuen, alten Gaul, überflüssig. Die alte Mare, Semis geliebte Kindermagd, wird samt Hund gnädig in den Himmel entrückt, Viktor, das schlesische Faktotum, steigt zum Hausmeier und Hofphilosophen auf. Das hermaphroditische Fräulein von Zwittau kommt über ihre Vergewaltigung durch die Russen nicht hinweg und geht still ins Wasser. Der Dreck der Hitlerei aber wird unter den Teppich der Restauration gekehrt, wo er weiter fröhlich vor sich hin gärt und schwärt.
"Mittelreich" ist reich an derben Szenen und surrealen Visionen; es gibt hinreißende Bilder aus dem Leben der Eierwastlbauern, Kirchweihnudeln und betrunkenen Hausmetzger und zahlreiche künstlerisch wertvolle, politisch korrekte Hasstiraden gegen alte und neue Nationalsozialisten, Gschaftlhuber und "dickmausige Flachbrunzer". Aber der Kunstbauer Bierbichler traut der schmatzenden Sinnlichkeit selbst nicht so recht, und so würzt er seinen autobiographischen Zeit- und Familienroman immer wieder mit "gebildeten Überflüssigkeiten" und handgeschnitzten soziologischen Erklärungen nach. Bierbichler will Abtritt, Scheißer und analytisches Klopapier zugleich sein, den Saustall Heimat mit Axt, Mistgabel und notfalls auch Adorno ausmisten, und an dieser Herkulesaufgabe kann sich sogar ein holzhackender Berserker verheben.
MARTIN HALTER
Josef Bierbichler: "Mittelreich". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 392 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Reine Begeisterung bei Sandra Kegel. Für den Schauspieler Josef Bierbichler, den Schriftsteller Bierbichler, seinen "bayrischen Jahrhundertroman" und nun auch für die von ihm selbst gelesene Hörbuchfassung. Ausgiebig preist Kegel noch einmal den Roman selbst für seine erzählerische Wucht, die kraftvolle Sprache und das grandiose Figurenarsenal. Wenn es um die Hörbuchfassung geht, lässt Kegel keinen Zweifel daran, dass niemand sonst dieses Buch hätte einlesen dürfen als der Autor selbst, der sich gekonnt "allen Regeln schöner Vortragskunst" widersetzt, wie die Rezensentin frohlockt. Ganz ohne die Brillanz versierter Sprecher lese Bierbichler mit brüchiger Stimme und in einem nuancenreichen Bayrisch, erklärt Kegel, wobei er ganz genau wisse, welche Silben wann und wie "gequetscht oder gedehnt" werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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