"Ein Mann, der uns mit einem radikal anderen Blick auf die Welt zum Nachdenken zwingt", urteilt Bundespräsident Steinmeier über den Denker aus Singapur. Diesen anderen, neuen Blick stellt Parag Khanna in "Move" eindrucksvoll unter Beweis. Er bringt Geschichte, Politik und die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen, die sich gerade rasant verändern, zusammen und leitet daraus Voraussagen für die Zukunft ab. Seine Grundthese: Die Menschheit wird sich in den nächsten Jahrzehnten neu auf der Erde verteilen (müssen). Gebiete, die bislang von der Natur bevorzugt wurden, drohen unbewohnbar zu werden; alte Industrieregionen, die Millionen von Menschen angezogen haben, werden veröden; neue Zentren werden entstehen. All dies wird nicht auf ein Land beschränkt sein, sondern zum weltweiten Phänomen. Die Gründe, die Khanna für riesige Migrationsströme über die Kontinente hinweg sieht, sind vielfältig: von demographischen Schieflagen und unterschiedlichen Modernisierungsgeschwindigkeiten über Klimaveränderungen bis zu sich neu verteilenden Arbeitsmöglichkeiten. Die Menschen werden, ob aus Zwang oder freiwillig, in kaum vorstellbarer Weise "on the move" sein. Faktenreich, mit anschaulichen Beispielen und überzeugendem Zahlenmaterial entwirft Khanna die "Zivilisation 3.0", in der Mobilität unser aller Schicksal, ja die Signatur der Zeit sein wird.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2021Die Revolution wird revolutioniert werden
Alles ganz mobil: Parag Khanna sieht die Menschheit auf dem Weg in ein neues nomadisches Zeitalter
Mitten im Lockdown ruft Parag Khanna das Bewegungszeitalter aus: Die weltweiten Rückholaktionen und das Einfrieren des öffentlichen Lebens erscheinen bei dem indisch-amerikanischen Politikwissenschaftler und Publizisten bloß als Versuch, alle noch einmal für ein letztes Familienbild zu versammeln, bevor sie sich in die Welt zerstreuen. Denn schon bald würden sich Milliarden aus den verwüsteten und überschwemmten Regionen des Südens in die Klimaoasen des Nordens aufmachen. Der wiederum braucht die Neuankömmlinge, um seine demographische Lücke zu füllen und seinen Wohlstand zu halten.
Wenn also alles mit rechten, vernünftigen Dingen zugeht, gelingt der Menschheit ein reibungsloser Übergang ins nächste Stadium, das ihrem ersten ähnelt: Nach der Sesshaftigkeit wird der Mensch wieder zum Nomaden, der dorthin zieht, wo die Natur ihn duldet. Er lebt in saisonalen "Pop-up-Städten", immer auf der Suche nach gutem Klima, guter Arbeit und guter Politik. Er wird die Arktis besiedeln, Sibirien und die Hudson Bay, Kasachstan wird über zweihundert Millionen Einwohner haben, Grönland immerhin sechzig Millionen; Südamerika und Australien müssen vermutlich aufgegeben werden. Woher weiß Khanna das alles? Er weiß es natürlich nicht, aber gerade das könnte seine These von der Zirkulationszivilisation stützen, denn "Mobilität ist unsere Antwort auf Ungewissheit".
Khanna prophezeit allerdings auch das Ende von "Nationalismus" und "Populismus". Beides rechne sich nicht und werde sich der Massenwanderung nicht in den Weg stellen. Doch ist es nicht wahrscheinlicher, dass der Nationalismus neu entsteht, zum Beispiel indem die "erste Generation postnationaler Europäer" eine europäische Festung hochzieht? Oder dass die neuen Schmelztiegelnationen des Nordens untereinander Krieg führen um den Zugang zur Arktis? Dass Identitäten fluide "Alchemie" sind, hat noch niemanden daran gehindert, sie zu fixieren und ein Abschottungskollektiv daraus zu formen.
Selbst wenn große Störungen ausbleiben, ist noch immer mit kleinen zu rechnen, die dort auftreten, wo Khannas Szenario Wirklichkeit wird.. Denn die meisten Menschen werden keine Lust haben, sich nach ökologisch-ökonomischen Kriterien über den Globus schieben zu lassen. Auch lungern sie nicht alle "untätig" im Süden herum und warten auf ein mieses Jobangebot aus dem Norden. Es dürfte ihnen ziemlich gegen den Strich gehen. Mag sein, dass sie dennoch um den Umzug nicht herumkommen, aber man muss solche Notwendigkeit ja nicht gleich anthropologisch veredeln und den Menschen zum Bewegungstier erklären, das erst im Davonlaufen zu sich kommt.
"Sich bewegen heißt frei sein" und ist eine "spirituelle Erfahrung", findet Khanna. Manchmal ist es aber auch bloß Terror. Selbst wenn es dem Gesetz von "Angebot und Nachfrage" folgt, das Khanna der "Ideologie" gegenüberstellt. Die Marktwirtschaft ist das Einzige, was in diesem Buch nicht in Bewegung gerät. Khanna erklärt sie zur Natur - natürlicher noch als die eigentliche Natur, denn die verwandelt ja ihr Antlitz und zwingt die Menschen zum Umzug.
Es geht alles ziemlich glatt in diesem Buch. Dabei entwirft Khanna neben dem Eintritt ins globale Nomadenstadium auch verschiedene Schreckensszenarien einer zerfallenden, kriegerischen Weltunordnung. Meist aber verfolgt er in seinem Buch die Idee gelingender Migrationen, und dann sieht alles gar nicht so schwer aus. Milliarden "Quantenmenschen" sausen auf den Bahnen der verdrahteten Welt umher und finden das nicht schlimm, Russland wird zum Kanada Eurasiens, und Detroit nimmt Klimaflüchtlinge aus Mittelamerika auf.
Erzeugt wird derlei "demographische Poesie" von gänzlich unpoetischen Naturen. Khanna setzt auf die stille Arbeit technokratischer Eliten, die im Hintergrund dafür sorgen, dass der große Umzug ohne großen Knall geschieht. Es wäre der erste sanfte Strukturbruch der Geschichte, die Revolutionierung der Revolution. Tatsächlich erwartet Khanna, dass sich die "nächste russische Revolution" als "Epos in Zeitlupe" abspielt, weil sie nicht um die Frage kreist, "wer Russland regiert, sondern darum, wer es besiedelt".
Wie immer hat Parag Khanna, der Chronist der Machtverschiebungen im frühen 21. Jahrhundert, zahllose Ideen zur Deutung der Welt - überraschende, funkelnde, scharfsinnige, mit manchen mag man nicht einverstanden sein, aber originell sind sie allemal. Man bekommt den Eindruck, hier buchstabiert jemand tatsächlich jene neue Welt von Klimawandel, Digitalisierung und demographischem Druck aus, die so oft beschworen und so selten skizziert wird. Man meint, Eigenheiten des 21. Jahrhunderts vor sich zu haben, und fragt sich, warum es das vorige nicht einfach fortsetzt, sondern uns ins höchste Stadium der Globalisierung katapultiert, in dem beinahe alles in Bewegung gerät, die Menschen, die Staaten, die Identitäten und sogar das Klima; die bewohnbaren Gebiete ziehen sich nach Norden zurück und in die Berge.
Dass es in dieser Skizze der mobilen neuen Welt so vernünftig zugeht, hat sicher auch etwas mit dem Autor selbst zu tun. Khanna, der in Indien geboren und in Deutschland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Amerika aufgewachsen ist, erzählt hier auch von seinem Leben, das aus geglückten Umzügen besteht. Sein letzter führte ihn nach Singapur, das wieder einmal ziemlich gut wegkommt und vielleicht den Schlüssel zu Khannas Werk liefert. Fast alle seine Bücher beschwören die Vorbildrolle Singapurs für das 21. Jahrhundert: als Knotenpunkt im Netz einer neumittelalterlichen Stadtdiplomatie, als Epizentrum des asiatischen Jahrhunderts, als Smart City, der es gelungen ist, die Langeweile zu institutionalisieren - und nun als "panethnischer Schmelztiegel" und "Inkubator der neuen postnationalen Zivilisation", der ein Bollwerk gegen die "rassistischen Ewiggestrigen" bildet.
Der Inselstadtstaat hat pragmatische Eliten, sensible Technokraten, von denen sich Khanna gern verschieben lässt. Doch zunächst müssen sie sich selbst verschieben, denn Singapur wird wohl bald im Meer versinken. Möglich, dass es im Norden wieder augebaut wird. Vielleicht begnügt es sich aber auch damit, seinen Geist unter die Menschen zu bringen und als Welthauptstadt, die da und nicht da ist, ein Leben ohne Körper zu führen - als dezentriertes Zentrum der "Zivilisation 3.0".
MORITZ RUDOLPH
Parag Khanna: "Move". Das Zeitalter der Migration. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
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Alles ganz mobil: Parag Khanna sieht die Menschheit auf dem Weg in ein neues nomadisches Zeitalter
Mitten im Lockdown ruft Parag Khanna das Bewegungszeitalter aus: Die weltweiten Rückholaktionen und das Einfrieren des öffentlichen Lebens erscheinen bei dem indisch-amerikanischen Politikwissenschaftler und Publizisten bloß als Versuch, alle noch einmal für ein letztes Familienbild zu versammeln, bevor sie sich in die Welt zerstreuen. Denn schon bald würden sich Milliarden aus den verwüsteten und überschwemmten Regionen des Südens in die Klimaoasen des Nordens aufmachen. Der wiederum braucht die Neuankömmlinge, um seine demographische Lücke zu füllen und seinen Wohlstand zu halten.
Wenn also alles mit rechten, vernünftigen Dingen zugeht, gelingt der Menschheit ein reibungsloser Übergang ins nächste Stadium, das ihrem ersten ähnelt: Nach der Sesshaftigkeit wird der Mensch wieder zum Nomaden, der dorthin zieht, wo die Natur ihn duldet. Er lebt in saisonalen "Pop-up-Städten", immer auf der Suche nach gutem Klima, guter Arbeit und guter Politik. Er wird die Arktis besiedeln, Sibirien und die Hudson Bay, Kasachstan wird über zweihundert Millionen Einwohner haben, Grönland immerhin sechzig Millionen; Südamerika und Australien müssen vermutlich aufgegeben werden. Woher weiß Khanna das alles? Er weiß es natürlich nicht, aber gerade das könnte seine These von der Zirkulationszivilisation stützen, denn "Mobilität ist unsere Antwort auf Ungewissheit".
Khanna prophezeit allerdings auch das Ende von "Nationalismus" und "Populismus". Beides rechne sich nicht und werde sich der Massenwanderung nicht in den Weg stellen. Doch ist es nicht wahrscheinlicher, dass der Nationalismus neu entsteht, zum Beispiel indem die "erste Generation postnationaler Europäer" eine europäische Festung hochzieht? Oder dass die neuen Schmelztiegelnationen des Nordens untereinander Krieg führen um den Zugang zur Arktis? Dass Identitäten fluide "Alchemie" sind, hat noch niemanden daran gehindert, sie zu fixieren und ein Abschottungskollektiv daraus zu formen.
Selbst wenn große Störungen ausbleiben, ist noch immer mit kleinen zu rechnen, die dort auftreten, wo Khannas Szenario Wirklichkeit wird.. Denn die meisten Menschen werden keine Lust haben, sich nach ökologisch-ökonomischen Kriterien über den Globus schieben zu lassen. Auch lungern sie nicht alle "untätig" im Süden herum und warten auf ein mieses Jobangebot aus dem Norden. Es dürfte ihnen ziemlich gegen den Strich gehen. Mag sein, dass sie dennoch um den Umzug nicht herumkommen, aber man muss solche Notwendigkeit ja nicht gleich anthropologisch veredeln und den Menschen zum Bewegungstier erklären, das erst im Davonlaufen zu sich kommt.
"Sich bewegen heißt frei sein" und ist eine "spirituelle Erfahrung", findet Khanna. Manchmal ist es aber auch bloß Terror. Selbst wenn es dem Gesetz von "Angebot und Nachfrage" folgt, das Khanna der "Ideologie" gegenüberstellt. Die Marktwirtschaft ist das Einzige, was in diesem Buch nicht in Bewegung gerät. Khanna erklärt sie zur Natur - natürlicher noch als die eigentliche Natur, denn die verwandelt ja ihr Antlitz und zwingt die Menschen zum Umzug.
Es geht alles ziemlich glatt in diesem Buch. Dabei entwirft Khanna neben dem Eintritt ins globale Nomadenstadium auch verschiedene Schreckensszenarien einer zerfallenden, kriegerischen Weltunordnung. Meist aber verfolgt er in seinem Buch die Idee gelingender Migrationen, und dann sieht alles gar nicht so schwer aus. Milliarden "Quantenmenschen" sausen auf den Bahnen der verdrahteten Welt umher und finden das nicht schlimm, Russland wird zum Kanada Eurasiens, und Detroit nimmt Klimaflüchtlinge aus Mittelamerika auf.
Erzeugt wird derlei "demographische Poesie" von gänzlich unpoetischen Naturen. Khanna setzt auf die stille Arbeit technokratischer Eliten, die im Hintergrund dafür sorgen, dass der große Umzug ohne großen Knall geschieht. Es wäre der erste sanfte Strukturbruch der Geschichte, die Revolutionierung der Revolution. Tatsächlich erwartet Khanna, dass sich die "nächste russische Revolution" als "Epos in Zeitlupe" abspielt, weil sie nicht um die Frage kreist, "wer Russland regiert, sondern darum, wer es besiedelt".
Wie immer hat Parag Khanna, der Chronist der Machtverschiebungen im frühen 21. Jahrhundert, zahllose Ideen zur Deutung der Welt - überraschende, funkelnde, scharfsinnige, mit manchen mag man nicht einverstanden sein, aber originell sind sie allemal. Man bekommt den Eindruck, hier buchstabiert jemand tatsächlich jene neue Welt von Klimawandel, Digitalisierung und demographischem Druck aus, die so oft beschworen und so selten skizziert wird. Man meint, Eigenheiten des 21. Jahrhunderts vor sich zu haben, und fragt sich, warum es das vorige nicht einfach fortsetzt, sondern uns ins höchste Stadium der Globalisierung katapultiert, in dem beinahe alles in Bewegung gerät, die Menschen, die Staaten, die Identitäten und sogar das Klima; die bewohnbaren Gebiete ziehen sich nach Norden zurück und in die Berge.
Dass es in dieser Skizze der mobilen neuen Welt so vernünftig zugeht, hat sicher auch etwas mit dem Autor selbst zu tun. Khanna, der in Indien geboren und in Deutschland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Amerika aufgewachsen ist, erzählt hier auch von seinem Leben, das aus geglückten Umzügen besteht. Sein letzter führte ihn nach Singapur, das wieder einmal ziemlich gut wegkommt und vielleicht den Schlüssel zu Khannas Werk liefert. Fast alle seine Bücher beschwören die Vorbildrolle Singapurs für das 21. Jahrhundert: als Knotenpunkt im Netz einer neumittelalterlichen Stadtdiplomatie, als Epizentrum des asiatischen Jahrhunderts, als Smart City, der es gelungen ist, die Langeweile zu institutionalisieren - und nun als "panethnischer Schmelztiegel" und "Inkubator der neuen postnationalen Zivilisation", der ein Bollwerk gegen die "rassistischen Ewiggestrigen" bildet.
Der Inselstadtstaat hat pragmatische Eliten, sensible Technokraten, von denen sich Khanna gern verschieben lässt. Doch zunächst müssen sie sich selbst verschieben, denn Singapur wird wohl bald im Meer versinken. Möglich, dass es im Norden wieder augebaut wird. Vielleicht begnügt es sich aber auch damit, seinen Geist unter die Menschen zu bringen und als Welthauptstadt, die da und nicht da ist, ein Leben ohne Körper zu führen - als dezentriertes Zentrum der "Zivilisation 3.0".
MORITZ RUDOLPH
Parag Khanna: "Move". Das Zeitalter der Migration. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Moritz Baumstieger hat seinen Spaß mit den Visionen des Politikwissenschaftlers Parag Khanna. Auch wenn er sich Baguette aus dem Automaten verbittet und Khannas Zukunftsvorstellungen von einem liberalen Sibirien, wo indische Einwanderer Obst und Gemüse anbauen doch etwas zu steil findet, regen ihn die Gedanken des Autors zu künftigen Migrationsbewegungen zum Nachdenken an. Dass die Route nicht mehr zwischen Süd und Nord, sondern zwischen Alt und Jung verlaufen wird und eine aufgeklärte Migrationspolitik vor der Tür steht, kann Baumstieger aber noch nicht so recht glauben. Und Siedlertrecks Richtung Pol und Kasachstan, das klingt für ihn ein bisschen nach Sci-Fi.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der Chronist der Machtverschiebungen im frühen 21. Jahrhundert ... Man bekommt den Eindruck, hier buchstabiert jemand tatsächlich die neue Welt von Klimawandel, Digitalisierung und demographischem Druck aus. Moritz Rudolph Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210511