Die junge, elternlose Nina Plisson weiß nicht, was aus ihrer Mutter geworden ist, auch nicht, wer ihr Vater war. Wissen andere in ihrer kleinen Heimatstadt Kall mehr? Was wird ihr vorenthalten? Nachdem das vereinsamte und widerspenstige Mädchen lange Zeit große Schwierigkeiten hatte, lesen und schreiben zu erlernen, wird sie sich, angeleitet von der pensionierten Lehrerin Sophia Molitor, grundlegend verändern. Sie beginnt Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit aufzuschreiben, vom Liebhaber ihrer verschollenen Mutter, in der Gestalt eines schwarzen Storches, von der Reise mit Großvaters Opel Kapitän ins sagenhafte Byzanz, zum Palast der Störche, später dann von ihrer großen, zunächst vergeblichen Liebe zu Paul Arimond. Für Nina verwandelt sich das Urftland mehr und mehr in einen Ort voller Märchen und Mythen, wie sie auf den Bierdeckeln von Evros, dem griechischen Gastwirt, stehen. Immer näher kommt sie dem Geheimnis, das ihr all die Jahre beharrlich verschwiegen wurde. Einfühlsam und spannend erzählt Norbert Scheuer in seinem neuen Roman mit dem ihm eigenen poetischen Ton von der Suche einer einsamen jungen Frau nach ihrer Geschichte, nach Zugehörigkeit und Glück.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2022Stadt unter
Die Erosion hat ihr Werk vor der Flutkatastrophe vollendet: In Norbert Scheuers Roman "Mutabor" suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte.
Seltsam, dieses Mädchen. Paul beobachtet Nina, wie sie am frühen Morgen die Zeitung bringt. Und er blickt ihr nach, als sie eilig ihren Leiterwagen hinter sich herzieht und ihn vor dem Nachbarhaus abstellt, wo schon ein Pferdetransporter steht, der nicht mehr vom Fleck bewegt wird. Sie öffnet die Wagentür und verschwindet im Inneren. "Als sie nach einiger Zeit wieder herauskommt, hält sie in den Händen einen Stapel Bücher, den sie vorsichtig zu den Zeitungen auf den Wagen legt; dann setzt sie ihre Arbeit fort." Es ist nicht das erste Mal, dass Pauls Augen sich an Ninas Spuren heften. Sie bekäme einen Schreck, wenn sie es bemerkte. Im Schutz der Routine ihrer morgendlichen Runde ist sie es, die ihn manchmal durch die Fensterscheibe beobachtet. Sie glaubt für ihn unsichtbar zu sein, aber die Symmetrie der Aufmerksamkeit, die sie sich erträumt, ist schon gegeben.
An dieser Stelle in der Mitte von Norbert Scheuers Roman "Mutabor" beschränkt sich Pauls romantisches Interesse an Nina noch auf zerstreute Neugier. "Das Mädchen ist ihm ein Rätsel" - aber vielleicht nur von der Art der Kreuzworträtsel, mit denen die Zeitungen den nachrichtenlosen Raum füllen. Hat man genug Hinweise, kann man die fehlenden Buchstaben restlos ergänzen. Paul hat sogar schon einmal Ninas Versteck durchsucht, den Papierberg gesichtet, den sie im Pferdetransporter aufbewahrt. Unmarkiert bleibt im Protokoll von Pauls Gedanken die Seltsamkeit, die sich in der Einrichtung von Ninas Arbeitsablauf versteckt. Dass sie mitten auf ihrer Runde einen Halt einlegt, ist nicht weiter auffällig, solange ihre Lieferung den schlafenden Abonnenten zuvorkommt. Aber weshalb lädt sie zusätzliche Druckerzeugnisse in ihren Wagen, die nicht zur Verteilung bestimmt sind? Der Erfüllung müsste sie doch allmorgendlich näher kommen, indem der Leiterwagen leichter wird. Warum belastet sie sich mit Lektüre?
Das ist ein Rätsel, das Norbert Scheuer seinen Lesern aufgibt oder besser gesagt mitgibt, weil er die Lösung nicht mitliefert. Beim Kreuzworträtsel findet man sie auf dem Kopf stehend gedruckt, im Roman muss man seine mehr oder weniger glücklichen Einfälle zwischen den Zeilen eintragen, in der Hoffnung, dass das Buch vom Leser weitergeschrieben werden möchte. Zwei Lösungsansätze zu Ninas seltsamer Angewohnheit des Büchertransports: Erstens fungiert der Ballast als Talisman, wie die Storchenfeder, die Paul am Innenspiegel seines Autos befestigt hat, bloß dass der Bücherstapel nicht sichere, sondern unsichere Fahrt garantiert, die Möglichkeit jederzeitiger Fahrtunterbrechung; und zweitens bildet Nina sich vielleicht ein, dass sie den Bücherschatz in seinem Depot nicht alleinlassen darf.
Sie ist bei ihren Großeltern aufgewachsen und wurde nach deren Tod der Obhut einer Sozialarbeiterin ausgeliefert, die ihre Privatsphäre nicht respektiert. Gegen die Zudringlichkeit dieser Amtsperson muss Nina den Schutz von Geheimnissen organisieren, die sie andererseits in detektivischem Eifer selbst aus der Welt schaffen möchte. Wer waren ihre Eltern? Die Eifelausgaben der Kölner Zeitungen werden in Kall, wo dieser Roman wie jeder Roman Scheuers spielt, an manchen Tagen mit handschriftlichen Beilagen zugestellt, mit denen die Austrägerin um Mithilfe bei der Aufklärung dieser Frage bittet. Kennt vielleicht jemand den Reiter auf dem Foto, das bei Evros, dem griechischen Wirt der Ortskneipe, hinter der Theke hängt? Er könnte Ninas Vater sein; unglücklicherweise hat jemand sein Gesicht ausgekratzt.
Im Motivhaushalt des Romans ist das Pferd, das sprungbereite Lasttier, so etwas wie die ursprüngliche poetische Idee. Ein Pferdetransporter, also eine Art Pferdeersatz für Pferde, eignet sich vor diesem Hintergrund perfekt als Bibliothek, weil auch Bücher Vehikel der Ortsveränderung mit allem Eigensinn von Lebewesen sind. Da Nina in Kall ihre große Reise plant, muss der Pferdeanhänger abgekoppelt sein. Kall ist die Stadt der Eigenbrötler, Sonderlinge, Privatmythologen und Selbstgesprächstherapeuten - und diese monadologische Grundform der Stadtgesellschaft lässt sich dem Stadtbild ablesen, einer ruinösen Infrastruktur des Individualismus.
Am Ende des Romans wird Kall von einer Überschwemmung heimgesucht, wie sie über die gleichnamige nicht erfundene Stadt, in der Norbert Scheuer lebt, heute vor einem Jahr hereinbrach. Aber die Erosion hatte ihr zerstörerisches Werk viel früher begonnen und in gewissem Sinne auch schon vollendet. Nach dem Hochwasser wird sortiert und zusammengeworfen. "In der Bahnhofstraße luden Bagger Couchgarnituren, Teppiche, Farbeimer, zwei Transportboxen für Katzen, Lebensmittel, Schnapsflaschen und Elektroschrott, worunter sich auch der Glücksspielautomat von Evros befand, in Container. In einem verwüsteten Wohnzimmer war ein Aquarium unversehrt geblieben." Ein Wassertank, der wie zum Spott über die Elemente höchstem Wasserdruck standhält, sodass mitten in verheerter Umwelt das Modell eines natürlichen Habitats überlebt: Das Aquarium, das wie in der Ursprungslegende eines Wallfahrtsortes wundersamerweise heil geblieben ist, sollte ins Wappen der aus den Fluten aufgetauchten Stadt aufgenommen werden, die - mit dem Titel von Scheuers Roman aus dem Jahr 2009 - "Überm Rauschen" errichtet worden ist, einem über weite Strecken unterirdischen Grundstrom. Nach dem Abfließen der Schmutzwasser kann man sehen, dass Kall schon vorher eine Stadt der Container war.
Sophia Molitor, die Lehrerin, die Nina das Lesen beibrachte, hält die herrschaftliche Wohnung, die sie als Erbin der Bergwerksdirektorendynastie gemeinsam mit ihrem in China verschollenen Mann bewohnte, wie ein Museum instand. So macht sich jeder Einwohner von Kall ein Gehäuse zurecht, dessen Geschlossenheit es dem Risiko aussetzt, zum Spielball tektonischer Kräfte zu werden: In einem Fass am Fuße des Staudamms ist Nina mit ihren Büchern vor Beobachtern sicher, aber nicht vor dem Rutschen auf die schiefe Ebene, für das jeden Zylinder seine Körperform aus dem Mathematikbuch prädestiniert.
Der Opel mit dem sprechenden Namen Kapitän, den Ninas Großvater steuert, droht bei jedem Ausflug auf Grund zu laufen. Vom TÜV längst aufgegeben, ist er überhaupt nur noch fahrtüchtig, weil der Großvater ihn gleichzeitig als Transportbox für die Katze nutzt, die belohnt wird für die Massakrierung der Mäuse, die "Unterschlupf im Wageninneren gefunden und es sich in ihren Höhlen dort bequem gemacht" haben. Das vermeintliche Fluchtfahrzeug ist ein Ort des inneren Exils, ein Abbild der Stadt, eines Systems kommunizierender Höhlengänge.
Die Hauptpersonen und Teile ihrer Geschichten können die Leser aus den Romanen "Die Sprache der Vögel" von 2015 und "Am Grund des Universums" von 2017 kennen, ohne dass sie diese Bücher gelesen haben müssen, um das neue Buch zu verstehen. Eine Schicksalsgemeinschaft stiften in Kall gekappte Verbindungen; Personen suchen einander wie die entlang der Geschlechtergrenze halbierten Menschen im platonischen Mythos der Liebe, nur dass man sich angesichts der Alltäglichkeit von Inzest, Ehebruch und Nötigung die Wiedervereinigung kraft Vervollständigung der Stadtgeschichte nicht harmonisch vorstellt. Aus dem Mund des Großvaters hat Nina das Märchen von Kalif Storch gehört, dem der Roman das Zauberwort des Titels entnimmt. Mutabor: Ich werde verwandelt werden. Vom Versprechen der Freiheit verwandelt sich der Storchenschnabel in ein Symbol sexueller Gewalt. Es tröstet, dass Scheuer seiner Stadt auch idyllische Züge verleiht. Eine Einheit, die Nina täglich erfährt, bildet Kall als Stadt der Leser, und die Bezieher von Zeitungen sterben nicht aus. PATRICK BAHNERS
Norbert Scheuer:
"Mutabor". Roman. Mit 33 Zeichnungen von Erasmus Scheuer.
Verlag C.H. Beck, München 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erosion hat ihr Werk vor der Flutkatastrophe vollendet: In Norbert Scheuers Roman "Mutabor" suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte.
Seltsam, dieses Mädchen. Paul beobachtet Nina, wie sie am frühen Morgen die Zeitung bringt. Und er blickt ihr nach, als sie eilig ihren Leiterwagen hinter sich herzieht und ihn vor dem Nachbarhaus abstellt, wo schon ein Pferdetransporter steht, der nicht mehr vom Fleck bewegt wird. Sie öffnet die Wagentür und verschwindet im Inneren. "Als sie nach einiger Zeit wieder herauskommt, hält sie in den Händen einen Stapel Bücher, den sie vorsichtig zu den Zeitungen auf den Wagen legt; dann setzt sie ihre Arbeit fort." Es ist nicht das erste Mal, dass Pauls Augen sich an Ninas Spuren heften. Sie bekäme einen Schreck, wenn sie es bemerkte. Im Schutz der Routine ihrer morgendlichen Runde ist sie es, die ihn manchmal durch die Fensterscheibe beobachtet. Sie glaubt für ihn unsichtbar zu sein, aber die Symmetrie der Aufmerksamkeit, die sie sich erträumt, ist schon gegeben.
An dieser Stelle in der Mitte von Norbert Scheuers Roman "Mutabor" beschränkt sich Pauls romantisches Interesse an Nina noch auf zerstreute Neugier. "Das Mädchen ist ihm ein Rätsel" - aber vielleicht nur von der Art der Kreuzworträtsel, mit denen die Zeitungen den nachrichtenlosen Raum füllen. Hat man genug Hinweise, kann man die fehlenden Buchstaben restlos ergänzen. Paul hat sogar schon einmal Ninas Versteck durchsucht, den Papierberg gesichtet, den sie im Pferdetransporter aufbewahrt. Unmarkiert bleibt im Protokoll von Pauls Gedanken die Seltsamkeit, die sich in der Einrichtung von Ninas Arbeitsablauf versteckt. Dass sie mitten auf ihrer Runde einen Halt einlegt, ist nicht weiter auffällig, solange ihre Lieferung den schlafenden Abonnenten zuvorkommt. Aber weshalb lädt sie zusätzliche Druckerzeugnisse in ihren Wagen, die nicht zur Verteilung bestimmt sind? Der Erfüllung müsste sie doch allmorgendlich näher kommen, indem der Leiterwagen leichter wird. Warum belastet sie sich mit Lektüre?
Das ist ein Rätsel, das Norbert Scheuer seinen Lesern aufgibt oder besser gesagt mitgibt, weil er die Lösung nicht mitliefert. Beim Kreuzworträtsel findet man sie auf dem Kopf stehend gedruckt, im Roman muss man seine mehr oder weniger glücklichen Einfälle zwischen den Zeilen eintragen, in der Hoffnung, dass das Buch vom Leser weitergeschrieben werden möchte. Zwei Lösungsansätze zu Ninas seltsamer Angewohnheit des Büchertransports: Erstens fungiert der Ballast als Talisman, wie die Storchenfeder, die Paul am Innenspiegel seines Autos befestigt hat, bloß dass der Bücherstapel nicht sichere, sondern unsichere Fahrt garantiert, die Möglichkeit jederzeitiger Fahrtunterbrechung; und zweitens bildet Nina sich vielleicht ein, dass sie den Bücherschatz in seinem Depot nicht alleinlassen darf.
Sie ist bei ihren Großeltern aufgewachsen und wurde nach deren Tod der Obhut einer Sozialarbeiterin ausgeliefert, die ihre Privatsphäre nicht respektiert. Gegen die Zudringlichkeit dieser Amtsperson muss Nina den Schutz von Geheimnissen organisieren, die sie andererseits in detektivischem Eifer selbst aus der Welt schaffen möchte. Wer waren ihre Eltern? Die Eifelausgaben der Kölner Zeitungen werden in Kall, wo dieser Roman wie jeder Roman Scheuers spielt, an manchen Tagen mit handschriftlichen Beilagen zugestellt, mit denen die Austrägerin um Mithilfe bei der Aufklärung dieser Frage bittet. Kennt vielleicht jemand den Reiter auf dem Foto, das bei Evros, dem griechischen Wirt der Ortskneipe, hinter der Theke hängt? Er könnte Ninas Vater sein; unglücklicherweise hat jemand sein Gesicht ausgekratzt.
Im Motivhaushalt des Romans ist das Pferd, das sprungbereite Lasttier, so etwas wie die ursprüngliche poetische Idee. Ein Pferdetransporter, also eine Art Pferdeersatz für Pferde, eignet sich vor diesem Hintergrund perfekt als Bibliothek, weil auch Bücher Vehikel der Ortsveränderung mit allem Eigensinn von Lebewesen sind. Da Nina in Kall ihre große Reise plant, muss der Pferdeanhänger abgekoppelt sein. Kall ist die Stadt der Eigenbrötler, Sonderlinge, Privatmythologen und Selbstgesprächstherapeuten - und diese monadologische Grundform der Stadtgesellschaft lässt sich dem Stadtbild ablesen, einer ruinösen Infrastruktur des Individualismus.
Am Ende des Romans wird Kall von einer Überschwemmung heimgesucht, wie sie über die gleichnamige nicht erfundene Stadt, in der Norbert Scheuer lebt, heute vor einem Jahr hereinbrach. Aber die Erosion hatte ihr zerstörerisches Werk viel früher begonnen und in gewissem Sinne auch schon vollendet. Nach dem Hochwasser wird sortiert und zusammengeworfen. "In der Bahnhofstraße luden Bagger Couchgarnituren, Teppiche, Farbeimer, zwei Transportboxen für Katzen, Lebensmittel, Schnapsflaschen und Elektroschrott, worunter sich auch der Glücksspielautomat von Evros befand, in Container. In einem verwüsteten Wohnzimmer war ein Aquarium unversehrt geblieben." Ein Wassertank, der wie zum Spott über die Elemente höchstem Wasserdruck standhält, sodass mitten in verheerter Umwelt das Modell eines natürlichen Habitats überlebt: Das Aquarium, das wie in der Ursprungslegende eines Wallfahrtsortes wundersamerweise heil geblieben ist, sollte ins Wappen der aus den Fluten aufgetauchten Stadt aufgenommen werden, die - mit dem Titel von Scheuers Roman aus dem Jahr 2009 - "Überm Rauschen" errichtet worden ist, einem über weite Strecken unterirdischen Grundstrom. Nach dem Abfließen der Schmutzwasser kann man sehen, dass Kall schon vorher eine Stadt der Container war.
Sophia Molitor, die Lehrerin, die Nina das Lesen beibrachte, hält die herrschaftliche Wohnung, die sie als Erbin der Bergwerksdirektorendynastie gemeinsam mit ihrem in China verschollenen Mann bewohnte, wie ein Museum instand. So macht sich jeder Einwohner von Kall ein Gehäuse zurecht, dessen Geschlossenheit es dem Risiko aussetzt, zum Spielball tektonischer Kräfte zu werden: In einem Fass am Fuße des Staudamms ist Nina mit ihren Büchern vor Beobachtern sicher, aber nicht vor dem Rutschen auf die schiefe Ebene, für das jeden Zylinder seine Körperform aus dem Mathematikbuch prädestiniert.
Der Opel mit dem sprechenden Namen Kapitän, den Ninas Großvater steuert, droht bei jedem Ausflug auf Grund zu laufen. Vom TÜV längst aufgegeben, ist er überhaupt nur noch fahrtüchtig, weil der Großvater ihn gleichzeitig als Transportbox für die Katze nutzt, die belohnt wird für die Massakrierung der Mäuse, die "Unterschlupf im Wageninneren gefunden und es sich in ihren Höhlen dort bequem gemacht" haben. Das vermeintliche Fluchtfahrzeug ist ein Ort des inneren Exils, ein Abbild der Stadt, eines Systems kommunizierender Höhlengänge.
Die Hauptpersonen und Teile ihrer Geschichten können die Leser aus den Romanen "Die Sprache der Vögel" von 2015 und "Am Grund des Universums" von 2017 kennen, ohne dass sie diese Bücher gelesen haben müssen, um das neue Buch zu verstehen. Eine Schicksalsgemeinschaft stiften in Kall gekappte Verbindungen; Personen suchen einander wie die entlang der Geschlechtergrenze halbierten Menschen im platonischen Mythos der Liebe, nur dass man sich angesichts der Alltäglichkeit von Inzest, Ehebruch und Nötigung die Wiedervereinigung kraft Vervollständigung der Stadtgeschichte nicht harmonisch vorstellt. Aus dem Mund des Großvaters hat Nina das Märchen von Kalif Storch gehört, dem der Roman das Zauberwort des Titels entnimmt. Mutabor: Ich werde verwandelt werden. Vom Versprechen der Freiheit verwandelt sich der Storchenschnabel in ein Symbol sexueller Gewalt. Es tröstet, dass Scheuer seiner Stadt auch idyllische Züge verleiht. Eine Einheit, die Nina täglich erfährt, bildet Kall als Stadt der Leser, und die Bezieher von Zeitungen sterben nicht aus. PATRICK BAHNERS
Norbert Scheuer:
"Mutabor". Roman. Mit 33 Zeichnungen von Erasmus Scheuer.
Verlag C.H. Beck, München 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt ist fasziniert davon, wie Norbert Scheuer auch in diesem neusten seiner Eifel-Romane den Ort Kall mit einer globalen und mythischen Bedeutung auflädt. Es geht dieses Mal um Nina Plisson, die als gewaltgebeutelte Frau und Außenseiterin in der Stadtgemeinschaft versucht, ihren Vater zu finden. Wie Scheuer hierbei einen Anschluss an vorherige Romane anbiete, diesen dann aber unterlaufe - so ist die Protagonistin bereits aus einem Vorgängerband bekannt, hieß damals aber noch "Plission" - findet die Kritikerin äußerst spannend zu lesen. Auch wie der Autor den Schauplatz Kall einerseits auf Supermarkt-Cafeteria-Provinzialität verenge und dann wieder auf die antike Mythenwelt ausweite, etwa wenn die Besucher eben jener Supermarkt-Cafeteria als allwissender Chor beschrieben werden, beeindruckt die Kritikerin. Auch Nina begegne immer wieder mythischen Figuren oder Symbolen; und wie Scheuer dies als "Zeichen der Verdrängung" von Ninas Missbrauchsgeschichte wende, findet Schmidt bemerkenswert. Ein weiterer gelungener Band von Scheuers "Gesamtkunstwerk", in dem das Partikulare und das Allgemeine Hand in Hand gehen, staunt die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Aus einer Fülle von Gedächtnissplittern, Traumsequenzen, Lektürefragmenten und familiengeschichtlichen Episoden entsteht ein klug komponiertes Wimmelbild. ... Einmal mehr sucht Scheuer die großen Zusammenhänge und den Reichtum des Lebens in der kleinen, kärglichen Welt vor der Haustür."
DIE ZEIT, Daniela Strigl
"In Norbert Scheuers Roman 'Mutabor' suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Patrick Bahners
"Vieles packt Norbert Scheuer in sein Buch, das reich an engmaschigen wie an losen Fäden ist. Von dem Netz, das daraus entsteht, lässt man sich bei der Lektüre nur zu gern umfangen."
Frankfurter Rundschau, Martin Oehlen
"Es ist hochkonzentriertes, verdichtetes Erzählen, wie immer bei diesem Autor: Wieder packen einen die Geschichte, der Tonfall, die Bilder - und Ninas Stimme."
Trierischer Volksfreund, Fritz-Peter Linden
"Was Realität und was Imagination ist, ist in diesem zarten und elegant gebauten Roman kaum voneinander zu unterscheiden."
Deutschlandfunk, Christoph Schröder
"Poetisch, gelungen und sehr gut"
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Magenau
"Eines von Norbert Scheuers eindringlichsten und schönsten Erzählwerken."
SWR, Wolfgang Schneider
"Aus vielen kleinen Formen und Anrissen entwickelt sich ein Roman, der sich liest wie ein langes dramatisches Gedicht."
STERN, Oliver Creutz
"Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos." Süddeutsche Zeitung, Marie Schmidt
"'Mutabor' ist ein Buch der Verwandlungen, der Adolenszenzroman einer Außenseiterin. Nina findet in ihm auf märchenhafte Weise zur Sprache und zu einem selbstbestimmten Leben."
DIE LITERARISCHE WELT, Richard Kämmerlings
"Norbert Scheuer hat mit 'Mutabor' seinen schönsten und rätselhaftesten Roman geschrieben."
Der Tagesspiegel, Gerrit Bartels
"Es geht immer um Wandlungen, um Zauber, Schönheit, Traurigkeit und die Abgründe des Lebens."
Aachner Nachrichten, Roland Mischke
"Autor Scheuer ist der Literaturarchäologe und Meister des Wundersamen, der das alles in eine Form bringt."
Kölner Stadt-Anzeiger, Stefan Lieser
"Norbert Scheuer dreht immerzu am Fokussierrad, um dieses Schwebemoment von Schärfe und Unschärfe, von Erkennen und Deuten, von Gewissheit und Vermutung immer wieder neu einzustellen."
Claude Conter anlässlich des Stefan-Andres-Preises an Norbert Scheuer
"Scheuer schreibt weiter an seinem Urftland-Universum. In der Gegend rund um den Ort Kall in der Eifel entsteht seit zwei Jahrzehnten ein literarisches Universum von sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten."
SWR Bestenliste Platz 8
"'Mutabor' ist ein höchst poetischer, aber auch höchst dunkler Text, in den auf subtile Weise Fragen von Schuld und Ausbeutung, Inzest und sexueller Macht, Herkunft und Schicksal verwoben sind. ... Meisterlich."
Neue Württembergische Presse, Ulrich Rüdenauer
DIE ZEIT, Daniela Strigl
"In Norbert Scheuers Roman 'Mutabor' suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Patrick Bahners
"Vieles packt Norbert Scheuer in sein Buch, das reich an engmaschigen wie an losen Fäden ist. Von dem Netz, das daraus entsteht, lässt man sich bei der Lektüre nur zu gern umfangen."
Frankfurter Rundschau, Martin Oehlen
"Es ist hochkonzentriertes, verdichtetes Erzählen, wie immer bei diesem Autor: Wieder packen einen die Geschichte, der Tonfall, die Bilder - und Ninas Stimme."
Trierischer Volksfreund, Fritz-Peter Linden
"Was Realität und was Imagination ist, ist in diesem zarten und elegant gebauten Roman kaum voneinander zu unterscheiden."
Deutschlandfunk, Christoph Schröder
"Poetisch, gelungen und sehr gut"
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Magenau
"Eines von Norbert Scheuers eindringlichsten und schönsten Erzählwerken."
SWR, Wolfgang Schneider
"Aus vielen kleinen Formen und Anrissen entwickelt sich ein Roman, der sich liest wie ein langes dramatisches Gedicht."
STERN, Oliver Creutz
"Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos." Süddeutsche Zeitung, Marie Schmidt
"'Mutabor' ist ein Buch der Verwandlungen, der Adolenszenzroman einer Außenseiterin. Nina findet in ihm auf märchenhafte Weise zur Sprache und zu einem selbstbestimmten Leben."
DIE LITERARISCHE WELT, Richard Kämmerlings
"Norbert Scheuer hat mit 'Mutabor' seinen schönsten und rätselhaftesten Roman geschrieben."
Der Tagesspiegel, Gerrit Bartels
"Es geht immer um Wandlungen, um Zauber, Schönheit, Traurigkeit und die Abgründe des Lebens."
Aachner Nachrichten, Roland Mischke
"Autor Scheuer ist der Literaturarchäologe und Meister des Wundersamen, der das alles in eine Form bringt."
Kölner Stadt-Anzeiger, Stefan Lieser
"Norbert Scheuer dreht immerzu am Fokussierrad, um dieses Schwebemoment von Schärfe und Unschärfe, von Erkennen und Deuten, von Gewissheit und Vermutung immer wieder neu einzustellen."
Claude Conter anlässlich des Stefan-Andres-Preises an Norbert Scheuer
"Scheuer schreibt weiter an seinem Urftland-Universum. In der Gegend rund um den Ort Kall in der Eifel entsteht seit zwei Jahrzehnten ein literarisches Universum von sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten."
SWR Bestenliste Platz 8
"'Mutabor' ist ein höchst poetischer, aber auch höchst dunkler Text, in den auf subtile Weise Fragen von Schuld und Ausbeutung, Inzest und sexueller Macht, Herkunft und Schicksal verwoben sind. ... Meisterlich."
Neue Württembergische Presse, Ulrich Rüdenauer
Rezensent Patrick Bahners erzählt fast mit Ehrfurcht aus Norbert Scheuers neuem Roman. Als wollte er die zarte Rätselhaftigkeit um den Ort Kall in der Eifel, wo alle Romane des Autors spielen, und die Figuren, eine zeitungsaustragende Waisin mit Faible für Bücher und Talismane vor allem, nicht stören. Eine Flutkatastrophe, die die Ortsbewohner zur Schicksalsgemeinschaft macht, Inzest, Ehebruch - und doch entdeckt Bahners auch "idyllische Züge" im Text. Das Buch schließt laut Rezensent an frühere Romane Scheuers an, kennen muss sie der Leser aber nicht, um den neuen Roman zu verstehen, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die Welt ist alles, was in Kall ist
„Mutabor“: Norbert Scheuers neunter Roman über sein Eifel-Universum
Der merkwürdigste Kraftort der deutschen Literatur ist die Cafeteria eines Kleinstadt-Supermarktes. Man hat sie gleich vor Augen, billige Sessel, niedrige Tische, ein goldgerahmter Spiegel, ein Fernseher auf dem stumm n-tv läuft. Den Auftritt der Stammgäste dort beschreibt Norbert Scheuer in seinen Büchern immer ähnlich: „Sie tragen Cordhosen, karierte Kurzarmhemden, fusselige Strickjacken, Kappen mit dem Emblem ihres Fußballclubs oder der Firma, bei der sie früher gearbeitet haben. Die meisten waren ihr ganzes Arbeitsleben bei einer einzigen Firma angestellt, entweder im Fertigbetonwerk von Milz, dem schon seit Jahren geschlossenen Lafarge-Zementwerk oder der Gemeinde.“ Morgens um zehn parken die alten Männer vor der Tür, setzen sich so, dass sie ihre Autos im Blick behalten können, die Einkäufer und Kassiererinnen, überhaupt den ganzen Ort.
Der soziale Realismus dieser Szene kontrastiert mit der epischen Wucht, die aus ihrer Wiederholung entsteht und dem Umstand, dass die Gemeinde Kall in der Eifel, wo der Supermarkt steht, in Norbert Scheuers literarischem Werk jeweils in der Mitte des deutschen Geschichtsraums, des globalen Mythenschatzes, des Universums zu liegen scheint: ein Pars pro toto für alles, was es auf der Welt gibt. Scheuers Romane, bisher neun, spielen alle in Kall, wo der Schriftsteller auch lebt, haben zumindest ihren Ursprung dort oder führen dahin zurück. Immer geht es darum, ins Wirklichkeits-Gewebe des Provinznests Kall mehr Fäden einzuziehen, es dichter zu machen und mit den großen Menschheitserzählungen zu verknüpfen.
Sein Arbeitsleben hat Norbert Scheuer bei der Telekom als Programmierer verbracht und erst spät aus dem Schreiben seine Hauptbeschäftigung gemacht. Mit welcher Geduld er die Dimensionen seiner Kleinstadt ausmisst, riesig und winzig werden lässt, das wird mit jedem seiner Eifel-Romane eindrucksvoller. Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos.
Ohne Thesenhaftigkeit, ganz unmodisch im Stil, probiert Scheuers Gesamtkunstwerk aus, wie sich die Bedeutung des Nahen, Partikularen, Provinziellen auf einem schrumpfenden Globus verformt.
Im alltäglich Vertrauten wachsen in seiner Welt mächtige mythische Instanzen. Die alten Männer im Supermarktcafé zum Beispiel, von denen scheinbar immer einer dabei war, wenn in der Umgebung etwas passiert, sehen alles, wissen alles. Sie sind, wie es im neuesten Kall-Roman „Mutabor“ offen heißt, „so etwas wie der antike Chor, der im Hintergrund alles kommentiert, alles erklärt, Licht ins Dunkel bringt und doch vieles von dem verheimlicht, was er weiß“. Tatsächlich stehen die „Grauköpfe“ diesmal eher für das mutwillige Beschweigen gewalttätiger Geheimnisse.
Flehend steht die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Nina Plisson vor diesem allwissenden Kollektiv und bittet um ihre eigene Geschichte: An ihre Mutter hat sie nur schemenhafte Erinnerungen, wer der Vater war, weiß sie nicht, kennt nur ein Foto, das im Wirtshaus am Ort hängt, von einem Mann auf einem Pferd, dessen Gesicht jemand abgekratzt hat. Auf der Rückseite mit Bleistift notiert, das Wort „Mutabor“. Nina sucht nach einer Herkunft, die eine ganze Kleinstadt vor ihr verbergen will. Leser von Scheuers früheren Büchern gehören unwillkürlich dazu, glauben mehr über das Mädchen zu wissen, als sie selbst. Sie kam ja in früheren Büchern schon vor.
Dann liest man nach und ist nicht mehr sicher: Sie hieß doch in „Am Grund des Universums“ von 2017 noch Plission, hat also ein „i“ verloren, genau wie den imaginären Bruder, den sie immer hinter sich her zog und jetzt offenbar fast vergessen hat. Solche Anschlussfehler können Scheuer unmöglich unterlaufen sein, eher vernebelt er mit winzigen Verschiebungen spitzfindigen Lesern die Orientierung.
Im Hintergrund des dörflichen Schweigens baut sich in „Mutabor“ allmählich eine Genealogie auf, in der Nina mit vielen bedeutenden Figuren aus Scheuers Romanen irgendwie verwandt ist. Trotzdem wirkt sie wie der verlorenste Mensch der Welt. Von Mutter und Vater verlassen, von der Großmutter, die sie aufzieht, abgelehnt, aus zwielichtigen Motiven aufgenommen von einer pensionierten Lehrerin und einem griechischen Wirt, verliebt in einen Jungen, der sie kaum wahrnimmt.
Sie ist, um es in einer Sprache zu sagen, die nicht Scheuers ist, einer jener infamen Menschen, die Gesellschaften als störend, unpassend, gefährlich ausschließen: Versehrt und schutzlos wie sie ist, schiebt die Gemeinschaft sie an den Rand und da zieht sie erst recht die untergründige Gewalt des Kollektivs an. In ihrer Geschichte, die sie sich Stück für Stück zusammensetzt, enthüllt sich eine Kette von Missbrauchsereignissen, von der Gruppenvergewaltigung nach einem Volksfest bis zur Urszene, in der das kleine Mädchen Nina mehrmals so etwas wie die eigene Zeugung beobachtet: „Erstarrt und fast betäubt lausche ich den Dingen, die niemand wirklich zu hören vermag, ohne davon betört, verstört oder verzaubert zu sein, die, wenn überhaupt, nur blind und gefesselt zu ertragen sind.“
Wie viele Ausgestoßenen hat Nina einen direkten Draht zum Übersinnlichen. Aus den Tintenklecksen in ihren Schulheften entstehen fantastische Geschichten in ihrem Kopf. Norbert Scheuers Sohn Erasmus Scheuer hat diese Zeichnungen dem Buch als nonverbale Geheimnisträger hinzugefügt. Auf Bierdeckeln in der Kneipe, in der sie manchmal aushilft, findet Nina Miniaturen einer eklektischen Mythensphäre, die ihre Geschichte spiegelt. Ihr Gegenüber ist eine vergessene Tochter der Medusa, die Scheuer erfunden hat: Zoe, die wie Pegasos und der Held Chrysaor dem Hals der enthaupteten Gorgone entsprungen sei.
Und anders als die Figuren im Märchen von „Kalif Storch“, das ihr der Großvater erzählt, vergisst Nina das Zauberwort „Mutabor“ im entscheidenden Moment nicht – auch wenn es in Kall, Nordrhein-Westfalen, womöglich nicht immer wirkt.
In der Reihe von Scheuers Romanen fällt die Dichte der Märchen und Mythen in diesem stark aus dem Rahmen. Und so sehr er damit die kleine Welt von Kall ins anthropologisch Allgemeine weitet, so sehr kommen sie einem auch wie Zeichen der Verdrängung vor: Sie hüllen die Gewalt und konstante Bedrohung ein, die das Leben inmitten der ganzen Supermarkt-Normalität für Nina mit sich bringt. Nackt und schlicht wäre die zu grässlich anzuschauen.
Am Ende kehrt auch das Hochwasser wieder, das schon in Scheuers früheren Romanen vorkam und sich im Sommer 2021 in Wirklichkeit noch einmal ereignet hat, auch in Kall. Norbert Scheuer hat in der SZ berichtet, wie die unbarmherzigen Fluten Autos, Gastanks, ganze Geschäfte forttrieben, eine unheimliche Verwirklichung seiner Geschichten. Wie dann aber die Menschen am Ort zusammengeholfen haben, um aufzuräumen. In seinen Romanen wirkt auch das wie eine Metapher des Unterbewussten: Wie die Dinge des Alltags weggeschwemmt, als eine Schicht von Schrott abgetragen werden und das ein oder andere Vergessene dabei an die Oberfläche steigt.
Manche Heldinnen und Figuren in Scheuers Welt gibt das Ökosystem Kall aber gerade nach solchen Katastrophen frei. Sie verlassen den Ort, der in dieser Literatur die Welt bedeutet. Nina zum Beispiel. Damit ist die Hoffnung erlaubt, dass es für sie auch jenseits dieser mythischen Dorf- und Schicksalsgemeinschaft weitergeht.
MARIE SCHMIDT
Wie viele Ausgestoßenen
hat Nina einen direkten Draht
zum Übersinnlichen
Norbert Scheuer:
Mutabor. Roman.
C.H. Beck, München 2022. 191 Seiten,
24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Mutabor“: Norbert Scheuers neunter Roman über sein Eifel-Universum
Der merkwürdigste Kraftort der deutschen Literatur ist die Cafeteria eines Kleinstadt-Supermarktes. Man hat sie gleich vor Augen, billige Sessel, niedrige Tische, ein goldgerahmter Spiegel, ein Fernseher auf dem stumm n-tv läuft. Den Auftritt der Stammgäste dort beschreibt Norbert Scheuer in seinen Büchern immer ähnlich: „Sie tragen Cordhosen, karierte Kurzarmhemden, fusselige Strickjacken, Kappen mit dem Emblem ihres Fußballclubs oder der Firma, bei der sie früher gearbeitet haben. Die meisten waren ihr ganzes Arbeitsleben bei einer einzigen Firma angestellt, entweder im Fertigbetonwerk von Milz, dem schon seit Jahren geschlossenen Lafarge-Zementwerk oder der Gemeinde.“ Morgens um zehn parken die alten Männer vor der Tür, setzen sich so, dass sie ihre Autos im Blick behalten können, die Einkäufer und Kassiererinnen, überhaupt den ganzen Ort.
Der soziale Realismus dieser Szene kontrastiert mit der epischen Wucht, die aus ihrer Wiederholung entsteht und dem Umstand, dass die Gemeinde Kall in der Eifel, wo der Supermarkt steht, in Norbert Scheuers literarischem Werk jeweils in der Mitte des deutschen Geschichtsraums, des globalen Mythenschatzes, des Universums zu liegen scheint: ein Pars pro toto für alles, was es auf der Welt gibt. Scheuers Romane, bisher neun, spielen alle in Kall, wo der Schriftsteller auch lebt, haben zumindest ihren Ursprung dort oder führen dahin zurück. Immer geht es darum, ins Wirklichkeits-Gewebe des Provinznests Kall mehr Fäden einzuziehen, es dichter zu machen und mit den großen Menschheitserzählungen zu verknüpfen.
Sein Arbeitsleben hat Norbert Scheuer bei der Telekom als Programmierer verbracht und erst spät aus dem Schreiben seine Hauptbeschäftigung gemacht. Mit welcher Geduld er die Dimensionen seiner Kleinstadt ausmisst, riesig und winzig werden lässt, das wird mit jedem seiner Eifel-Romane eindrucksvoller. Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos.
Ohne Thesenhaftigkeit, ganz unmodisch im Stil, probiert Scheuers Gesamtkunstwerk aus, wie sich die Bedeutung des Nahen, Partikularen, Provinziellen auf einem schrumpfenden Globus verformt.
Im alltäglich Vertrauten wachsen in seiner Welt mächtige mythische Instanzen. Die alten Männer im Supermarktcafé zum Beispiel, von denen scheinbar immer einer dabei war, wenn in der Umgebung etwas passiert, sehen alles, wissen alles. Sie sind, wie es im neuesten Kall-Roman „Mutabor“ offen heißt, „so etwas wie der antike Chor, der im Hintergrund alles kommentiert, alles erklärt, Licht ins Dunkel bringt und doch vieles von dem verheimlicht, was er weiß“. Tatsächlich stehen die „Grauköpfe“ diesmal eher für das mutwillige Beschweigen gewalttätiger Geheimnisse.
Flehend steht die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Nina Plisson vor diesem allwissenden Kollektiv und bittet um ihre eigene Geschichte: An ihre Mutter hat sie nur schemenhafte Erinnerungen, wer der Vater war, weiß sie nicht, kennt nur ein Foto, das im Wirtshaus am Ort hängt, von einem Mann auf einem Pferd, dessen Gesicht jemand abgekratzt hat. Auf der Rückseite mit Bleistift notiert, das Wort „Mutabor“. Nina sucht nach einer Herkunft, die eine ganze Kleinstadt vor ihr verbergen will. Leser von Scheuers früheren Büchern gehören unwillkürlich dazu, glauben mehr über das Mädchen zu wissen, als sie selbst. Sie kam ja in früheren Büchern schon vor.
Dann liest man nach und ist nicht mehr sicher: Sie hieß doch in „Am Grund des Universums“ von 2017 noch Plission, hat also ein „i“ verloren, genau wie den imaginären Bruder, den sie immer hinter sich her zog und jetzt offenbar fast vergessen hat. Solche Anschlussfehler können Scheuer unmöglich unterlaufen sein, eher vernebelt er mit winzigen Verschiebungen spitzfindigen Lesern die Orientierung.
Im Hintergrund des dörflichen Schweigens baut sich in „Mutabor“ allmählich eine Genealogie auf, in der Nina mit vielen bedeutenden Figuren aus Scheuers Romanen irgendwie verwandt ist. Trotzdem wirkt sie wie der verlorenste Mensch der Welt. Von Mutter und Vater verlassen, von der Großmutter, die sie aufzieht, abgelehnt, aus zwielichtigen Motiven aufgenommen von einer pensionierten Lehrerin und einem griechischen Wirt, verliebt in einen Jungen, der sie kaum wahrnimmt.
Sie ist, um es in einer Sprache zu sagen, die nicht Scheuers ist, einer jener infamen Menschen, die Gesellschaften als störend, unpassend, gefährlich ausschließen: Versehrt und schutzlos wie sie ist, schiebt die Gemeinschaft sie an den Rand und da zieht sie erst recht die untergründige Gewalt des Kollektivs an. In ihrer Geschichte, die sie sich Stück für Stück zusammensetzt, enthüllt sich eine Kette von Missbrauchsereignissen, von der Gruppenvergewaltigung nach einem Volksfest bis zur Urszene, in der das kleine Mädchen Nina mehrmals so etwas wie die eigene Zeugung beobachtet: „Erstarrt und fast betäubt lausche ich den Dingen, die niemand wirklich zu hören vermag, ohne davon betört, verstört oder verzaubert zu sein, die, wenn überhaupt, nur blind und gefesselt zu ertragen sind.“
Wie viele Ausgestoßenen hat Nina einen direkten Draht zum Übersinnlichen. Aus den Tintenklecksen in ihren Schulheften entstehen fantastische Geschichten in ihrem Kopf. Norbert Scheuers Sohn Erasmus Scheuer hat diese Zeichnungen dem Buch als nonverbale Geheimnisträger hinzugefügt. Auf Bierdeckeln in der Kneipe, in der sie manchmal aushilft, findet Nina Miniaturen einer eklektischen Mythensphäre, die ihre Geschichte spiegelt. Ihr Gegenüber ist eine vergessene Tochter der Medusa, die Scheuer erfunden hat: Zoe, die wie Pegasos und der Held Chrysaor dem Hals der enthaupteten Gorgone entsprungen sei.
Und anders als die Figuren im Märchen von „Kalif Storch“, das ihr der Großvater erzählt, vergisst Nina das Zauberwort „Mutabor“ im entscheidenden Moment nicht – auch wenn es in Kall, Nordrhein-Westfalen, womöglich nicht immer wirkt.
In der Reihe von Scheuers Romanen fällt die Dichte der Märchen und Mythen in diesem stark aus dem Rahmen. Und so sehr er damit die kleine Welt von Kall ins anthropologisch Allgemeine weitet, so sehr kommen sie einem auch wie Zeichen der Verdrängung vor: Sie hüllen die Gewalt und konstante Bedrohung ein, die das Leben inmitten der ganzen Supermarkt-Normalität für Nina mit sich bringt. Nackt und schlicht wäre die zu grässlich anzuschauen.
Am Ende kehrt auch das Hochwasser wieder, das schon in Scheuers früheren Romanen vorkam und sich im Sommer 2021 in Wirklichkeit noch einmal ereignet hat, auch in Kall. Norbert Scheuer hat in der SZ berichtet, wie die unbarmherzigen Fluten Autos, Gastanks, ganze Geschäfte forttrieben, eine unheimliche Verwirklichung seiner Geschichten. Wie dann aber die Menschen am Ort zusammengeholfen haben, um aufzuräumen. In seinen Romanen wirkt auch das wie eine Metapher des Unterbewussten: Wie die Dinge des Alltags weggeschwemmt, als eine Schicht von Schrott abgetragen werden und das ein oder andere Vergessene dabei an die Oberfläche steigt.
Manche Heldinnen und Figuren in Scheuers Welt gibt das Ökosystem Kall aber gerade nach solchen Katastrophen frei. Sie verlassen den Ort, der in dieser Literatur die Welt bedeutet. Nina zum Beispiel. Damit ist die Hoffnung erlaubt, dass es für sie auch jenseits dieser mythischen Dorf- und Schicksalsgemeinschaft weitergeht.
MARIE SCHMIDT
Wie viele Ausgestoßenen
hat Nina einen direkten Draht
zum Übersinnlichen
Norbert Scheuer:
Mutabor. Roman.
C.H. Beck, München 2022. 191 Seiten,
24 Euro.
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